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E-Book

Gesammelte Werke, Band 4

Vollständige Ausgabe

AutorSigmund Freud
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl1798 Seiten
ISBN9783849614232
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis3,99 EUR
Dieser Band enthält einen Großteil der sogenannen kleineren Schriften des österreichischen Neurologen, Tiefenpsychologen und Religionskritikers, der als Begründer der Psychoanalyse weltweite Bekanntheit erlangte. Inhalt: Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose Das Ich und das Es Das Motiv der Kästchenwahl. Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen Das Unheimliche Die Freudsche psychoanalytische Methode Die infantile Wiederkehr des Totemismus Die Inzestscheu Die 'kulturelle' Sexualmoral und die moderne Nervosität Die Verdrängung Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit Jenseits des Lustprinzips Zeitgemäßes über Krieg und Tod.

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Leseprobe

 


 

Seelenleben des Individuums zu geben, so daß sie verständlich, ja eigentlich selbstverständlich werden. Man lasse sich in dieser Aufgabe der Übersetzung niemals durch den Anschein der Unlösbarkeit beirren; die tollsten oder absonderlichsten Zwangsideen lassen sich durch gebührende Vertiefung lösen. Zu dieser Lösung gelangt man aber, wenn man die Zwangsideen in zeitlichen Zusammenhang mit dem Erleben des Patienten bringt, also indem man erforscht, wann die einzelne Zwangsidee zuerst aufgetreten ist und unter welchen äußeren Umständen sie sich zu wiederholen pflegt. Bei Zwangsideen, die es, wie so häufig, zu keiner Dauerexistenz gebracht haben, vereinfacht sich dementsprechend auch die Lösungsarbeit. Man kann sich leicht überzeugen, daß nach der Aufdeckung des Zusammenhanges der Zwangsidee mit dem Erleben des Kranken alles andere Rätselhafte und Wissenswerte an dem pathologischen Gebilde, seine Bedeutung, der Mechanismus seiner Entstehung, seine Abkunft von den maßgebenden psychischen Triebkräften, unserer Einsicht leicht zugänglich wird.

 

Ich beginne mit einem besonders durchsichtigen Beispiel des bei unserem Patienten so häufigen Selbstmordimpulses, welches sich in der Darstellung beinahe von selbst analysiert: Er verlor einige Wochen im Studium infolge der Abwesenheit seiner Dame, welche abgereist war, um ihre schwer erkrankte Großmutter zu pflegen. Mitten im eifrigsten Studium fiel ihm da ein: "Das Gebot, sich den ersten möglichen Prüfungstermin im Semester zu nehmen, könne man sich ja gefallen lassen. Wie aber, wenn dir das Gebot käme, dir den Hals mit dem Rasiermesser abzuschneiden?" Er merkte sofort, daß dieses Gebot bereits erflossen war, eilte zum Schrank, um das Rasiermesser zu holen, da fiel ihm ein: "Nein, so einfach ist das nicht. Du mußt  hinreisen und die alte Frau umbringen." Da fiel er vor Entsetzen auf den Boden.

 

Der Zusammenhang dieser Zwangsidee mit dem Leben ist hier im Eingange des Berichtes enthalten. Seine Dame war abwesend, während er angestrengt für eine Prüfung studierte, um die Verbindung mit ihr eher zu ermöglichen. Da überfiel ihn während des Studiums die Sehnsucht nach der Abwesenden und der Gedanke an den Grund ihrer Abwesenheit. Und nun kam etwas, was bei einem normalen Menschen etwa eine unmutige Regung gegen die Großmutter gewesen wäre: "Muß die alte Frau gerade jetzt krank werden, wo ich mich nach ihr so schrecklich sehne!" Etwas Ähnliches, aber weit Intensiveres muß man nun bei unserem Patienten supponieren, einen unbewußten Wutanfall, der sich gleichzeitig mit der Sehnsucht in den Ausruf kleiden könnte: "Oh, ich möchte hinreisen und die alte Frau umbringen, die mich meiner Geliebten beraubt!" Darauf folgt das Gebot: "Bring dich selbst um, als Selbstbestrafung für solche Wut- und Mordgelüste", und der ganze Vorgang tritt unter heftigstem Affekt in umgekehrter Reihenfolge — das Strafgebot voran, am Ende die Erwähnung des strafbaren Gelüstes — in das Bewußtsein des Zwangskranken. Ich glaube nicht, daß dieser Erklärungsversuch gezwungen erscheinen kann oder viel hypothetische Elemente aufgenommen hat.

 

Ein anderer, länger anhaltender Impuls zum gleichsam indirekten Selbstmord war nicht so leicht aufzuklären, weil er seine Beziehung zum Erleben hinter einer der äußerlichen Assoziationen, wie sie unserem Bewußtsein so sehr anstößig erscheinen, verbergen konnte. Eines Tages kam ihm im Sommeraufenthalte plötzlich die Idee, er sei zu dick, er müsse abmagern. Er begann nun, noch vor der Mehlspeise vom Tische aufzustehen, ohne Hut in der Sonnenglut des Augusts auf die Straße zu rennen und dann im Laufschritt auf die Berge zu steigen, bis er schweißüberströmt haltmachen mußte. Hinter dieser Abmagerungssucht kam auch die Selbstmordabsicht einmal unverhüllt zum Vorschein, als ihm auf einem scharfen Abhang plötzlich das Gebot laut wurde, da herunterzuspringen, was sicherer Tod gewesen wäre. Die Lösung dieses unsinnigen Zwangshandelns ergab sich unserem Patienten erst, als ihm plötzlich einfiel, zu jener Zeit sei auch die geliebte Dame in dem Sommeraufenthalte gewesen, aber in Begleitung eines englischen Vetters, der sich sehr um sie bemühte und auf den er sehr eifersüchtig war. Der Vetter hieß Richard und wurde, wie in England allgemein üblich, Dick genannt. Diesen Dick wollte er nun umbringen, er war auf ihn viel eifersüchtiger und wütender, als er sich eingestehen konnte, und darum legte er sich zur Selbstbestrafung die Pein jener Abmagerungskur auf. So verschieden dieser Zwangsimpuls auch vom vorigen direkten Selbstmordgebot zu sein scheint, ein bedeutsamer Zug ist den beiden gemeinsam, die Entstehung als Reaktion auf eine ungeheure, vom Bewußtsein nicht zu erfassende Wut gegen eine Person, die als Störerin der Liebe auftritt.

 

Andere Zwangsvorstellungen, wiederum nach der Geliebten orientiert, lassen doch anderen Mechanismus und andere Triebabkunft erkennen. Zur Zeit der Anwesenheit seiner Dame in seinem Sommeraufenthalte produzierte er außer jener Abmagerungssucht eine ganze Reihe von Zwangstätigkeiten, die sich wenigstens teilweise direkt auf ihre Person bezogen. Als er einmal mit ihr auf einem Schiffe fuhr, während ein scharfer Wind ging, mußte er sie nötigen, seine Kappe aufzusetzen, weil sich bei ihm das Gebot gebildet hatte, es dürfe ihr nichts geschehen. Es war eine Art von Schutzzwang, der auch andere Blüten trieb. Ein andermal stellte sich bei ihm während eines Zusammenseins im Gewitter der Zwang ein, zwischen Blitz und Donner bis 40 oder 50 gezählt zu haben, wofür ihm jedes Verständnis abging. Am Tage, als sie abreiste, stieß er mit dem Fuße gegen einen auf der Straße liegenden Stein und mußte ihn nun auf die Seite räumen, weil ihm die Idee kam, in einigen Stunden werde ihr Wagen auf derselben Straße fahren und vielleicht an diesem Stein zu Schaden kommen, aber einige Minuten später fiel ihm ein, das sei doch ein Unsinn, und er mußte nun zurückgehen und den Stein wieder an seine frühere Stelle mitten auf der Straße legen. Nach ihrer Abreise bemächtigte sich seiner ein Verstehzwang, der ihn allen den Seinigen unausstehlich machte. Er nötigte sich, jede Silbe, die irgend jemand zu ihm sprach, genau zu verstehen, als ob ihm sonst ein großer Schatz entginge. So fragte er immer: "Was hast du jetzt gesagt?" Und wenn man es ihm wiederholte, meinte er, es habe doch das erste Mal anders gelautet, und blieb unbefriedigt. Alle diese Erzeugnisse der Krankheit hängen von einer Begebenheit ab, welche damals sein Verhältnis zur Geliebten dominierte. Als er sich vor dem Sommer von ihr in Wien verabschiedete, legte er eine ihrer Reden so aus, als ob sie ihn vor der anwesenden Gesellschaft verleugnen wollte, und war darüber sehr unglücklich. Im Sommeraufenthalte gab es Gelegenheit zur Aussprache, und da konnte die Dame ihm nachweisen, daß sie mit jenen von ihm mißverstandenen Worten ihn vielmehr vor Lächerlichkeit bewahren wollte. Er war nun wiederum sehr glücklich. Den deutlichsten Hinweis auf diesen Vorfall enthält der Verstehzwang, der so gebildet ist, als ob er sich gesagt hätte: "Nach dieser Erfahrung darfst du jetzt nie wieder jemanden mißverstehen, wenn du dir überflüssige Pein ersparen willst." Aber dieser Vorsatz ist nicht nur von dem einen Anlaß her verallgemeinert, er ist auch — vielleicht wegen der Abwesenheit der Geliebten — von ihrer hochgeschätzten Person auf alle anderen, minderwertigen Personen verschoben. Der Zwang kann auch nicht allein aus der Befriedigung über die von ihr empfangene Aufklärung hervorgegangen sein, er muß noch etwas anderes ausdrücken, denn er läuft ja in den unbefriedigenden Zweifel an der Wiedergabe des Gehörten aus.

 

Die anderen Zwangsgebote leiten auf die Spur dieses andern Elementes. Der Schutzzwang kann nichts anderes bedeuten als die Reaktion — Reue und Buße — gegen eine gegensätzliche, also feindselige Regung, die sich vor der Aufklärung gegen die Geliebte gerichtet hatte. Der Zählzwang beim Gewitter deutet sich durch das beigebrachte Material als eine Abwehrmaßregel gegen Befürchtungen, welche Lebensgefahr bedeuteten. Durch die Analysen der ersterwähnten Zwangsvorstellungen sind wir bereits darauf vorbereitet, die feindseligen Regungen unseres Patienten für besonders heftig, von der Art der sinnlosen Wut zu schätzen, und dann finden wir, daß diese Wut gegen die Dame auch nach der Versöhnung ihren Beitrag zu den Zwangsbildungen stellt. In der Zweifelsucht, ob er richtig gehört, ist der fortwirkende Zweifel dargestellt, ob er wohl diesmal die Geliebte richtig verstanden hat und ihre Worte mit Recht als Beweis ihrer zärtlichen Neigung auffassen darf. Der Zweifel des Verstehzwanges ist Zweifel an ihrer Liebe. Es tobt in unserem Verliebten ein Kampf zwischen Liebe und Haß, die der gleichen Person gelten, und dieser Kampf wird plastisch dargestellt in der zwanghaften, auch symbolisch bedeutsamen Handlung, den Stein von dem Wege, den sie befahren soll, wegzuräumen und dann diese Liebestat wieder rückgängig zu machen, den Stein wieder hinzulegen, wo er lag, damit ihr Wagen an ihm scheitere und sie zu Schaden komme. Wir verstehen diesen zweiten Teil der Zwangshandlung nicht richtig, wenn wir ihn nur als kritische Abwendung vom krankhaften Tun auffassen, wofür er sich selbst ausgeben möchte. Daß auch er sich unter der Empfindung des Zwanges vollzieht, verrät, daß er selbst ein Stück des krankhaften Tuns ist, welches aber von dem Gegensatz zum Motiv des ersten Stückes bedingt...

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