3. Territorialstaatsbildung und lokale Herrschaft
(1300–1648)
Im Juli 1320 war der letzte männliche Angehörige aus dem Haus der brandenburgischen Askanier verstorben. Damit wurde ein blutiger und äußerst langwieriger Kampf um deren Erbe eingeläutet. Allein das Erzstift Magdeburg konnte sich auf vertraglich abgesicherte Rechte aus dem Jahre 1196 berufen, wenn es nach Teilen dieses Besitzes strebte. Im April 1323 sollte Kaiser Ludwig der Bayer, wie er später genannt wurde, seinen gleichnamigen Sohn mit der Markgrafschaft Brandenburg und seinen sämtlichen Zubehörungen belehnen.
Dem raschen Zugriff der Wittelsbacher auf das verwaiste Erbe der Askanier hoch im Norden des Reiches, weitab von den Zentren kaiserlicher Macht, lagen verschiedene Motive zugrunde. Dazu gehörten die Aussicht auf Erweiterung ihres familiären Territorialbesitzes, aber auch die Hoffnung auf eine Stärkung der Position der Wittelsbacher unter den deutschen Königswählern. Natürlich wollte man auch dem erklärten Wunsch der Nachbarfürsten, ihre territoriale Basis zu vergrößern, Einhalt gebieten.
Die Vorgehensweise Ludwigs dürfte durch das nicht allzulange zurückliegende Beispiel Rudolfs von Habsburg als deutschem König angeregt worden sein. Dieser hatte zur Stärkung seiner Hausmacht seine Söhne Albrecht und Rudolf mit den heimgefallenen Reichslehen Österreich, Steiermark, Krain und der Windischen Mark belehnt. Der Bayer machte nun ebenfalls von seinem Recht als oberster Lehnsherr Gebrauch und vergab ein an das Reich heimgefallenes Fürstenlehen an einen nächsten Verwandten. Mit dem jahrzehntelangen Bemühen der Wittelsbacher, das Lehen gegen starke innere und äußere Widerstände zu behaupten, wurde ungeachtet aller dynastischen Konfliktlinien auch ein entscheidendes Kapitel im Rahmen der territorialen Formierung Brandenburgs aufgeschlagen.
In den anhaltenden Kämpfen der Fürsten um das verwaiste brandenburgische Erbe wird dank einer günstigeren Quellenlage die feudale Gesellschaft Brandenburgs in ihren räumlichen Strukturen für uns erstmals umfassend sichtbar. Binnen weniger Generationen hatte sich auf dem Lande vor allem adlige Herrschaft flächendeckend ausgebreitet. Die Bischöfe von Brandenburg und Havelberg hatten ihre durch den Slawenaufstand einst verlorene territoriale Basis zurückerworben, aber sie vermochten unter dem Druck der weltlichen Fürsten keine ausgedehnten und geschlossenen Herrschaftsbezirke aufzubauen. Allein dem Bischof von Lebus sollte es im Jahre 1518 mit dem Ankauf der Herrschaft Beeskow-Storkow noch gelingen, eine bescheidene territoriale Grundlage zu bilden. Trotz dieser Einschränkungen hob sich bischöflicher Landbesitz, ebenso wie der der Ruppiner Herren, im Gegensatz zu dem der Ritterschaft von der markgräflichen Herrschaft markant ab. Denn die hoheitliche Gewalt von Bischof und Edelherr besaß im Vergleich zu der des niederen Adels eine höhere Intensität.
Natürlich war zwischen Elbe und Oder wie überall im Reich ein dichtes Netz von Klöstern und anderen geistlichen Einrich tungen entstanden, die zielstrebig ihren Besitz erweiterten. Denn deren gute Wirtschaftsführung und die reiche Spendentätigkeit der Bevölkerung, die von der Hoffnung auf ein gnädiges Jenseits getragen war, füllten unabhängig von den rasch wechselnden Agrarkonjunkturen ihre Kassen und vergrößerten ihre Ländereien.
Nicht zuletzt ihr materieller Wohlstand erlaubte ihnen eine fruchtbare Kulturarbeit. In ihrem Umfeld wurden Schulen, Hospitäler und Siechenhäuser errichtet. Karitative Aufgaben wurden fast ausschließlich von kirchlichen Einrichtungen erfüllt. Außerdem lag es in ihrer Hand, Künstler mit Aufträgen zur Ausschmückung von Kirchen und Klöstern zu versorgen. Auch Chroniken über die Geschichte der Mark und ihres Herrscherhauses wurden in ihrem Auftrag angefertigt.
Darüber hinaus waren in den ersten Jahrhunderten der Landbildung andere, für die künftige wirtschaftliche und ökonomische Entwicklung wesentliche Weichenstellungen vollzogen worden. Insbesondere auf den höher gelegenen, ertragreicheren Böden der Moränen hatten der Adel und die Kirche ihre Herrschaft ausgedehnt. Dagegen erstreckte sich das unmittelbar in fürstlicher Hand befindliche Gut vor allem in den von Überschwemmungen bedrohten Urstromtälern mit ihren schlechten Böden. Die finanzielle Situation der Landesherrschaft hatte sich dadurch weiter verschlechtert.
Den Städten war es überwiegend gelungen, sich von der fürstlichen Herrschaft zu befreien. Sie vermochten fortan im territorialen Kräftefeld als relativ selbständige Mächte zu agieren. Ihre kaum zu überwindenden Befestigungsanlagen, ihre aus Bürgern gebildeten militärischen Aufgebote, die oftmals den fürstlichen Heeren durch ihre moderne Bewaffnung überlegen waren, sowie ihre erhebliche Finanzkraft schufen die Grundlagen einer jetzt in den Quellen vermehrt sichtbar werdenden politischen Macht. Dies zeichnete sich bereits um 1300 in Umrissen ab, sollte aber in den kommenden Jahrzehnten noch an Bedeutung hinzugewinnen.
Zwischen 1304 und 1314 löste Stendal seine Heerpflicht gegenüber dem Markgrafen durch eine Geldzahlung ab. Im Jahre 1308 kam es wohl erstmalig zu einem Bündnis aller Städte der ottonischen Linie der brandenburgischen Askanier, in dem diese sich zu gemeinsamer Abwehr von Unrecht und Gewalt bekannten. Um 1314 wurde der Stadt Frankfurt vom Markgrafen eine Aufgabe übertragen, wie sie bislang nur von Fürsten in ihren Territorien versehen worden war, nämlich für den Erhalt des Landfriedens zu sorgen. Die Stadt übernahm in ihrem räumlichen Umfeld, dem Land Lebus, diese wichtige Funktion. Der Vorgang zeigt nicht nur, daß einzelne Städte begannen, territoriale Politik zu treiben, sondern auch, daß der Brandenburger Markgraf nicht mehr über die erforderlichen Mittel verfügte, um seine Landfriedensgewalt flächendeckend auszuüben.
In den kommenden blutigen Auseinandersetzungen um die Herrschaftsnachfolge in Brandenburg verschmolzen dynastische und lokale Interessen so stark miteinander, daß sie heute kaum mehr trennscharf zu unterscheiden sind. Die einzelnen Stationen des militärischen und diplomatischen Kampfes um das scheinbar herrenlose Erbe können und müssen daher hier nicht im einzelnen aufgezählt werden.
Es war ein zähes Ringen, dessen Ablauf stets einem ähnlichen Muster folgte: Die fürstlichen Eindringlinge, die auf Teile des brandenburgischen Gebietes spekulierten, gingen Bündnisse mit lokalen Burginhabern oder Städtebünden ein, wobei jede Partei ihre ganz speziellen Interessen nie aus dem Auge verlor.
Nur in dieser Konstellation bestand damals die Aussicht, eine militärische und ökonomische Kontrolle über das Land längerfristig zu behaupten. So nahmen die Herzöge von Pommern-Wolgast, unterstützt von lokalen Adelsgruppen, voran die Wedel, die Gebiete jenseits der Oder, aber auch das Lebuser Land in Besitz. Nicht minder erfolgreich erwies sich Herzog Rudolf I. von Sachsen, ein Askanier, der 1298 mit einer brandenburgischen Prinzessin, nämlich einer Tochter Ottos IV., verheiratet worden war. Wohl dank kräftiger Hilfe des Bischofs von Brandenburg unterwarf er die Niederlausitz sowie die angrenzenden Gebiete des Barnim, Havellandes und Teltow. Auf dem Boden der Prignitz und im Grenzgebiet zur Uckermark dehnte sich der Herzog von Mecklenburg mit Hilfe der Gänse zu Putlitz und des Bischofs von Havelberg aus. Letztere waren zuvor von den brandenburgischen Askaniern stark unter Druck gesetzt worden. Vermutlich erhofften sie sich in diesem Bündnis bessere Chancen, ihre herrschaftlichen Belange zu verteidigen.
Trotz aller Bemühungen schafften es die Wittelsbacher in den folgenden Jahrzehnten nicht, sich dauerhaft im gesamten einst askanischen Herrschaftsgebiet festzusetzen. In immer neuen Koalitionen kämpften sie gegen ihre zahlreichen Gegner, um ihre Hoheit über einzelne Regionen zu behaupten oder auszudehnen. Zu welcher regionalen Machtfülle in dieser Situation eine einzelne Stadt aufzusteigen vermochte, veranschaulicht eine Episode aus dem Jahre 1348/49. Der bayerische Markgraf hatte fast jeden Rückhalt in den Gebieten diesseits der Oder verloren. Seine zahlreichen innerbrandenburgischen Gegner, unterstützt von böhmischen Söldnern, schienen die Oberhand erlangt zu haben. Aber sie konnten den Wittelsbacher, der sich – politisch und militärisch isoliert – hinter die starken Mauern der ihm verbundenen Handelsstadt Frankfurt zurückgezogen hatte, nicht bezwingen und damit dem Kampf eine erfolgreiche Wende geben. Nach Abbruch der Belagerung verbesserte sich Ludwigs politische und militärische Lage zusehends.
Seitdem den Wittelsbachern in dem Luxemburger Herrscher Karl ein überragender dynastischer Gegner nicht nur im Kampf um das Kaisertum, sondern auch um den Besitz der Mark erwachsen war, verloren sie in Brandenburg jedoch kontinuierlich an Einfluß. In diesem Streit kam der Mark auch deshalb erhebliche Bedeutung zu, weil ihr Inhaber eine der vier weltlichen Stimmen bei der Königswahl führte. Diese wurde 1356 in der Goldenen Bulle durch die Einführung eines Mehrheitswahlrechts abschließend geregelt, um künftig...