Sie sind hier
E-Book

Geschichte der Niederlande

Reclams Ländergeschichten

AutorFriso Wielenga
VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl480 Seiten
ISBN9783159611211
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Eine Geschichte der Niederlande vom 16. Jahrhundert bis ins Jahr 2016. Friso Wielengas 'Geschichte der Niederlande'? als Originalausgabe für den Reclam Verlag verfasst, konnte sich sowohl in den Niederlanden selbst als auch in englischer Übersetzung bereits als Standardwerk etablieren. Der Münsteraner Historiker wirft einen detailreichen und kritisch-loyalen Blick auf eine Nation, deren Geschichte turbulenter und spannungsreicher war und ist, als es das Klischee von der Konsenskultur will. Ein kompaktes Standardwerk, das bereits ins Niederländische und ins Englische übersetzt wurde, jetzt in aktualisierter Auflage.

Friso Wielenga, geb. 1956, ist Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien an der Universität Münster. Er lehrte zuvor deutsche Zeitgeschichte und Geschichte der niederländisch-deutschen Beziehungen an den Universitäten in Groningen und Utrecht und veröffentlichte zahlreiche Bücher zur Geschichte, Politik und Kultur der Niederlande in niederländischer und deutscher Sprache.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

Einleitung


Fragt man danach, wann die Geschichte eines Landes beginnt, dann verweist die Antwort oftmals auf das Ausbrechen eines Unabhängigkeitskampfs, auf die Proklamierung der Souveränität oder den Augenblick der internationalen Anerkennung. Bei der Geschichte der Niederlande kommt man mit solchen Antworten nicht weit, und es fällt auf, dass es in den Niederlanden keinen Nationalfeiertag gibt, an dem die Gründung des eigenen Staats gefeiert wird. Die Nationalfeiertage der Niederlande stammen aus dem späten 19. Jahrhundert (Koninginnedag – der Geburtstag der Königin; seit 2014 Koningsdag) oder aus der Mitte des 20. Jahrhunderts (Befreiung von der nationalsozialistischen Besatzung 1945). Kein heroischer oder symbolischer Moment aus dem sogenannten »Achtzigjährigen Krieg« (15681648), in dem die Niederlande als Staat Gestalt annahmen, hat sich zu einem Nationalfeiertag entwickelt.

Das ist durchaus nachvollziehbar. Zu Beginn des Aufstands, in der zweiten Hälfte der 1560er Jahre, ging es nicht um die Unabhängigkeit eines bestimmten Gebiets, sondern vor allem um die Aufrechterhaltung von Privilegien in einem sich zentralisierenden Reich. Auch nachdem um 1580 klargeworden war, dass die Abtrennung einiger niederländischer Provinzen vom spanischen Reich Philipps II. unvermeidlich geworden war und sich eine Spaltung der Niederlande in einen nördlichen und einen südlichen Teil vollzog (ungefähr die heutigen Niederlande und Belgien), ging es noch nicht um die Selbständigkeit eines fest umrissenen Gebiets. Es fällt beispielsweise auf, dass in den 1580er Jahren die aufständischen Provinzen zweimal ihre Souveränität ausländischen Fürsten angeboten haben. Erst nachdem dies misslungen war, zogen die nördlichen Provinzen 1588 die Souveränität an sich, und es entstand eine föderal organisierte Republik mit selbständigen Provinzen und Städten. Sie wurde unter dem Namen »Republik der Vereinigten Niederlande« bekannt, hat aber diesen Namen nie offiziell angenommen.

Über die endgültigen Grenzen dieses lockeren Zusammenschlusses gab es 1588 noch keine Klarheit. Diese kristallisierten sich in den 1590er Jahren heraus, als das Territorium der heutigen Niederlande mit den militärischen Erfolgen gegen Spanien Konturen erhielt. Dieses Gebiet konsolidierte sich bis 1609 und sollte sich in den Jahren um 1630 noch um die heutigen Gebiete Nordbrabant und Südlimburg erweitern. Mit dem Westfälischen Frieden (1648) – in den Niederlanden als Frieden von Münster bezeichnet – wurde der Krieg mit Spanien beendet und die Republik als selbständiger Staat definitiv international anerkannt.

Dieses Ergebnis wies wenig Überschneidungen mit den Zielsetzungen des Aufstands aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf. In dieser Periode selbst wurde der Begriff Aufstand noch nicht einmal verwendet. In Rückblicken von Zeitgenossen und in der frühen Geschichtsschreibung war von »Kriegen«, »Unruhen« und »Wirren« die Rede. Erst im 18. Jahrhundert wurde der einfache Begriff »Aufstand« geprägt, und im darauffolgenden Jahrhundert wurde dieser zum Eigennamen. Erst jetzt wurde dem Historiker Ernst H. Kossmann zufolge aus dieser Aneinanderreihung von Ereignissen, die sich über viele Jahrzehnte erstreckten, ein Ganzes gebildet, und diese Jahrzehnte bekamen »einen Zusammenhang, ein Ziel, eine Einheit«. Unter den Historikern herrscht inzwischen Einigkeit darüber, dass aus dem Kampf zwischen niederländischen Provinzen und dem spanischen Landesherrn völlig unvorhergesehen und unbeabsichtigt zwei verschiedene staatliche Einheiten entstanden. Der Aufstand war, so der Historiker Anton van der Lem, »eine lange Aneinanderreihung zufälliger und unvorhersagbarer Ereignisse, politischer, militärischer und ökonomischer Kettenreaktionen«. So ist es dann auch nicht verwunderlich, dass Erinnerungen an den Aufstand in erster Linie lokaler Natur sind und dass Gedenkfeiern sich auch heute noch auf lokale Ereignisse beschränken.

Niederländische Protestanten haben allerdings bis ins 20. Jahrhundert hinein den Aufstand als einen zielgerichteten nationalen Kampf um Unabhängigkeit und um Freiheit für den eigenen Glauben interpretiert. Dieses Geschichtsbild deckt sich genauso wenig mit der historischen Wirklichkeit wie der Mythos um die Person Wilhelms von Oranien (15331584), der als »Vater des Vaterlandes« diese Unabhängigkeit immer vor Augen gehabt und konsequent dafür gekämpft habe. Zweifellos entwickelte der aus der Grafschaft Nassau-Dillenburg stammende Wilhelm sich zum Anführer des Aufstands, was er 1584 mit dem Tod bezahlen musste. Ihm schwebte anfangs jedoch kein Bruch mit Spanien vor und gewiss auch keine Nord-Süd-Spaltung der niederländischen Provinzen.

Solche Bilder des Aufstands sind Bestandteil der nationalistischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts und sind schon lange als Mythen ad acta gelegt worden. Einigen Aufständischen ging es um den Calvinismus als einzige erlaubte Religion, andere hingegen setzten sich für religiöse Toleranz oder das für diese Zeit neue Prinzip der parallelen Existenz verschiedener Religionen innerhalb eines Verwaltungsgebiets ein. Stellt man die Religionsfrage in den Mittelpunkt, kann man den Kampf sogar als einen Bürgerkrieg in den Niederen Landen charakterisieren, so wie es zu jener Zeit auch in anderen europäischen Territorien Religionskriege gab. Stellt man hingegen die Frage der Freiheit in den Mittelpunkt, ist zunächst festzuhalten, dass es dabei nicht um »nationale Freiheit« geht, so wie sie heutzutage definiert wird. Im damaligen Freiheitsbegriff muss zwischen denjenigen unterschieden werden, denen es anfangs um die Aufrechterhaltung ihrer eigenen Privilegien ging – jener alten, traditionellen Freiheiten also, die in dieser Periode der Zentralisierung, Professionalisierung und Bürokratisierung in Bedrängnis gerieten –, und denjenigen, die den Begriff Freiheit in seiner jüngeren Bedeutung verwendeten und für die Befreiung von der »spanischen Tyrannei« kämpften. Hinzu kommt, dass in dem jahrzehntelangen Kampf die Motive und Ziele der vielen Akteure auch noch Überschneidungen und Verschiebungen aufwiesen.

Mit anderen Worten: Das Resultat des Aufstands wich stark von den anfänglichen Intentionen und Zielsetzungen ab, aber rückblickend ist der Aufstand doch der zentrale Faktor in der Entstehung des niederländischen Staats. An seinem Ende gab es ja – ungefähr in den Grenzen der heutigen Niederlande – eine international anerkannte niederländische Republik. Die Republik entwickelte sich seit dem späten 16. Jahrhundert zu einer wohlhabenden Welthandelsmacht, die auf allen Kontinenten präsent war und über eine reiche Kultur verfügte. Auch in technologischer Hinsicht war die Republik vom späten 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert international tonangebend. Während der Jahre des Aufstands entstand außerdem ein weltweites niederländisches Handelsnetzwerk, das tiefe Spuren hinterließ, die bis zum heutigen Tag sichtbar geblieben sind. Das gilt auch für Art und Weise der politischen Entscheidungsfindung. Suche nach Übereinstimmung, nicht das Erzwingen von Entscheidungen lautete zur Zeit der Republik die Devise. Nicht von ungefähr ist der in jener Periode entstandene Ausdruck des »schikken en plooien« (sich anpassen und fügen) eine in den Niederlanden immer noch benutzte Redensart. Damit soll nicht behauptet werden, dass in der politischen Geschichte der Niederlande Verhandlungen und Konsensbildung vorherrschten – dazu gibt es in der Vergangenheit zu viele Beispiele für hart ausgefochtene politische Kämpfe, die in diesem Buch noch ausführlich behandelt werden sollen. Worum es hier geht, das ist die Feststellung, dass die spätere niederländische politische Kultur ihre Wurzeln auch in den Jahren des Aufstands und der frühen Republik hat. Hinzu kommt, dass in der Zeit der Republik die Begriffe »Freiheit« und »Toleranz« eine Bedeutung erhalten sollten, die sie auch für die späteren Niederlande zu Schlüsselbegriffen machen würden.

Die Entstehungsgeschichte des niederländischen Staates ist also eng mit dem Aufstand verbunden. Die Frage nach einem »Anfang« der niederländischen Nationalgeschichte ist damit aber noch nicht beantwortet, zumal es schwer ist, dem Aufstand ein konkretes Anfangsdatum zuzuweisen. In der nationalen Geschichtsschreibung wurde lange Zeit unter Hinweis auf den von Wilhelm von Oranien organisierten und missglückten militärischen Vormarsch in das Gebiet der Niederlande das Jahr 1568 als Anfang genannt. Inzwischen scheint es eher so, als sei dieses Jahr gewählt worden, damit man, wenn man bis zum Jahr 1648 weiterrechnet, von einem »Achtzigjährigen Krieg« sprechen kann (von dem dann im übrigen sehr wohl die zwölf Jahre des Waffenstillstands zwischen 1609 und 1621 abgezogen werden müssen).

Aus einer anderen Perspektive könnte das Jahr 1566 genannt werden, in dem der niedere Adel bei der Landvogtin Margarethe von Parma eine Bittschrift einreichte, um eine Aussetzung der Erlasse gegen die Ketzerei und die Einberufung der Generalstände zu erreichen. Später brach im selben Jahr, besonders in den Provinzen Flandern und Brabant, der sogenannte Bildersturm aus, bei dem katholische Kirchen aller Abbildungen und Gemälde beraubt und die Kirchengebäude für den Calvinismus eingefordert wurden. Damit...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Europa - Geschichte und Geografie

Faschistische Selbstdarstellung

E-Book Faschistische Selbstdarstellung
Eine Retortenstadt Mussolinis als Bühne des Faschismus Format: PDF

Unter dem italienischen Faschismus wurden südlich von Rom neue Städte in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen gegründet. Diese faschistischen Retortenstädte verknüpften neue sozialpolitische Modelle…

Faschistische Selbstdarstellung

E-Book Faschistische Selbstdarstellung
Eine Retortenstadt Mussolinis als Bühne des Faschismus Format: PDF

Unter dem italienischen Faschismus wurden südlich von Rom neue Städte in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen gegründet. Diese faschistischen Retortenstädte verknüpften neue sozialpolitische Modelle…

Faschistische Selbstdarstellung

E-Book Faschistische Selbstdarstellung
Eine Retortenstadt Mussolinis als Bühne des Faschismus Format: PDF

Unter dem italienischen Faschismus wurden südlich von Rom neue Städte in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen gegründet. Diese faschistischen Retortenstädte verknüpften neue sozialpolitische Modelle…

Faschistische Selbstdarstellung

E-Book Faschistische Selbstdarstellung
Eine Retortenstadt Mussolinis als Bühne des Faschismus Format: PDF

Unter dem italienischen Faschismus wurden südlich von Rom neue Städte in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen gegründet. Diese faschistischen Retortenstädte verknüpften neue sozialpolitische Modelle…

Spätmoderne

E-Book Spätmoderne
Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa I Format: PDF

Der Sammelband „Spätmoderne" bildet den Auftakt zur Reihe „Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa" und widmet sich zuvorderst osteuropäischen Dichtwerken, die zwischen 1920 und 1940…

Spätmoderne

E-Book Spätmoderne
Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa I Format: PDF

Der Sammelband „Spätmoderne" bildet den Auftakt zur Reihe „Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa" und widmet sich zuvorderst osteuropäischen Dichtwerken, die zwischen 1920 und 1940…

Weitere Zeitschriften

BIELEFELD GEHT AUS

BIELEFELD GEHT AUS

Freizeit- und Gastronomieführer mit umfangreichem Serviceteil, mehr als 700 Tipps und Adressen für Tag- und Nachtschwärmer Bielefeld genießen Westfälisch und weltoffen – das zeichnet nicht ...

care konkret

care konkret

care konkret ist die Wochenzeitung für Entscheider in der Pflege. Ambulant wie stationär. Sie fasst topaktuelle Informationen und Hintergründe aus der Pflegebranche kompakt und kompetent für Sie ...

caritas

caritas

mitteilungen für die Erzdiözese FreiburgUm Kindern aus armen Familien gute Perspektiven für eine eigenständige Lebensführung zu ermöglichen, muss die Kinderarmut in Deutschland nachhaltig ...

crescendo

crescendo

Die Zeitschrift für Blas- und Spielleutemusik in NRW - Informationen aus dem Volksmusikerbund NRW - Berichte aus 23 Kreisverbänden mit über 1000 Blasorchestern, Spielmanns- und Fanfarenzügen - ...

DGIP-intern

DGIP-intern

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie e.V. (DGIP) für ihre Mitglieder Die Mitglieder der DGIP erhalten viermal jährlich das Mitteilungsblatt „DGIP-intern“ ...