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Geschichte Frankreichs

Reclams Ländergeschichten

AutorBernd Schneidmüller, Charlotte, Ernst Hinrichs, Heinz-Gerhard Haupt, Heribert Müller, Stefan Martens
VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl600 Seiten
ISBN9783159606453
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Die 6. Auflage der bewährten und laufend fortgeschriebenen 'Geschichte Frankreichs' enthält ein Résümé der kompletten Präsidentschaft Nicolas Sarkozys und eine erste zeitgeschichtliche Einschätzung des jüngsten Regierungswechsels hin zu den Sozialisten und zu François Hollande. Aber auch in Frankreich machen nicht nur (kleine und große) Männer die Geschichte: Rechtspopulismus, Finanzkrise und Arbeitsmarkt, militärisches Engagement in Afrika - das sind die großen Problemfelder aktueller französischer Politik.

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Leseprobe

Die Entstehung Frankreichs (9. Jahrhundert – 1270)


Von Bernd Schneidmüller

Epochenüberblick


Frankreich ist ein eher zufälliges Produkt der frühmittelalterlichen Geschichte. Aus der Aufteilung des fränkischen Großreichs im Vertrag von Verdun 843 entstand das westfränkische Reich, das unter Karl dem Kahlen und seinen Nachfolgern allmählich festere Konturen gewann, aber weder geographisch oder ethnisch noch kulturell oder sprachlich eine Einheit darstellte. Noch 885 führte ein dynastischer Zufall zur letzten Vereinigung der fränkischen Teilreiche, die 888 in der Königswahl eines nichtkarolingischen Herrschers überwunden wurde.

Die Entstehung einer »französischen Nation« im Mittelalter ist darum nicht als kontinuierlicher Vorgang zu begreifen und muss als Resultat der im 9. und 10. Jahrhundert geschaffenen politischen Rahmenbedingungen verstanden werden. Erst in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts wurde man sich im westfränkischen Reich, vor allem in beständiger Auseinandersetzung mit dem ostfränkisch-deutschen Reich und dem ottonischen Kaisertum, zunehmend der eigenen Identität bewusst, die sich im Umkreis des westfränkisch-französischen Königtums festigte. Die Anfänge der französischen Geschichte erstrecken sich also über Jahrhunderte, wenn auch mit einzelnen Kulminationspunkten. Erst unter den großen kapetingischen Herrschern seit Philipp II. Augustus, die den politischen und geistigen Vorrang Frankreichs in Europa begründeten, wird ein vorläufiger Abschluss erreicht.

Die Geschichte Frankreichs im Früh- und Hochmittelalter kann nur aus der Vielfalt zentraler und regionaler Kräfte, von Königen und Fürsten, begriffen werden, die ihrerseits in den sozialen, wirtschaftlichen und mentalen Wandel eingebunden blieben. Vorsprünge in der herrschaftlichen Durchdringung, im Bevölkerungswachstum, in der Produktion, in geistlich-geistigen Bereichen und in der Kunst ließen Frankreich zum Ursprungsland vieler Entwicklungen werden, die die gesamte europäische Gesellschaft und Kultur prägen sollten.

Nach der zögernden Konsolidierung der königlichen Einflusssphäre zunächst in der weiteren Ile-de-France gelang im Konflikt mit dem anglonormannischen Königtum seit 1204 der Ausgriff der Monarchie auf das gesamte Königreich, Voraussetzung für die Integration entfernter Regionen in eine zunehmend auf Paris konzentrierte Kronverwaltung und für die Einheit von Monarchie und Reich.

Das westfränkische Reich (843–887)


843 August: Vertrag von Verdun über die Teilung des fränkischen Großreichs unter die drei Söhne Kaiser Ludwigs des Frommen; Karl der Kahle (843–877) erhält das westfränkische Reich.
November: Vertrag von Coulaines: Abmachung Karls des Kahlen mit dem westfränkischen Adel und der Kirche als innere Grundlage des westfränkischen Reichs.

870 Vertrag von Meerssen über die Teilung Lotharingiens.

875 25. Dezember: Kaiserkrönung Karls des Kahlen.

877 6. Oktober: Tod Karls des Kahlen.

877–879 König Ludwig II. (der Stammler).

879 Teilung des westfränkischen Reichs unter Ludwig III. (879–882) und Karlmann (879–884).

880 Vertrag von Ribemont über die Grenzregelung zwischen dem ost- und dem westfränkischen Reich.

885–887 Zeitweilige Vereinigung der fränkischen Reiche unter der Herrschaft Karls III. (des Dicken).

887/888 Endgültiges Ende der fränkischen Reichseinheit.

Reichsbildung als Familiensache


Im August 843 wurde in Verdun nach langen Kämpfen in der karolingischen Herrscherfamilie das fränkische Großreich in drei Teile geteilt, die an die Brüder Lothar, Ludwig (»den Deutschen«) und Karl (den Kahlen) fielen. Karl erhielt den westlichen Teil, ungefähr begrenzt von den Flüssen Schelde, Maas, Saône und Rhone, Lothar das Mittelreich von Friesland bis nach Italien und Ludwig neben dem heutigen Rheinhessen die Gebiete östlich des Rheins. Der Vertrag von Verdun stand in der Tradition fränkischer Teilungen, in denen alle legitimen Söhne eines verstorbenen Königs einen Anteil am Reich erlangten. Ihre historische Bedeutung erhält die Abmachung von 843 erst in der Rückschau als endgültiges Ende des Großreichs wie als Beginn der westfränkischen und der ostfränkischen Geschichte.

Gegenstand der Teilung war ein frühmittelalterliches Großreich, das sein Gesicht an der Wende vom 5. zum 6. Jahrhundert unter König Chlodwig († 511) und im späten 8. Jahrhundert unter Karl dem Großen (768–814) erhalten hatte und am Beginn des 9. Jahrhunderts von Nordspanien bis zur Elbe, vom Ärmelkanal bis nach Mittelitalien reichte. Die Franken, deren Siedlungsgebiet sich von der Loire bis zum Niederrhein und zum Main erstreckte, bildeten zwar das »Reichsvolk«, doch zeichnete sich ihr Reich durch ethnische, sprachliche und kulturelle Vielfalt aus, die den anderen Völkern Teile ihrer Identität beließ. Gerade das fränkische Reichsvolk, das in den drei Teilreichen von 843 die politische Führung behauptete, wirkte noch lange integrierend und ließ darum den Vertrag von Verdun nicht zur Zäsur werden. Zahlreiche Kontakte der Könige auf den Frankentagen des 9. Jahrhunderts, familiäre Bande des Adels und Verflechtungen der großen Politik sorgten dafür, dass die Erinnerung an die alte Einheit erst allmählich verblasste und das Bewusstsein von der Eigenständigkeit der Neubildungen von 843 langsam wuchs. Gleichwohl schuf die Grenzziehung von Verdun den Rahmen für das spätere Entstehen Frankreichs aus westfränkischen Wurzeln.

Voraussetzungen: Der Raum und die Menschen


Als man in der Neuzeit im Nationalstaat das wesentliche Ordnungsprinzip menschlichen Zusammenlebens zu erkennen meinte, versuchte man, politische Grenzen als historisch vorgeformt zu begreifen und der eigenen Nation einen gleichsam natürlichen Lebensraum zuzuweisen. In diesem Sinn musste die politisch geschaffene Rheingrenze ebenso zur »natürlichen« Grenze Frankreichs werden wie die Pyrenäen oder der Ozean. Das Sechseck, gebildet aus der Küstenlinie von Ärmelkanal und Atlantik, den Pyrenäen, der Mittelmeerküste, einer durch die Pässe der Westalpen markierten Linie bis zum Rhein und seiner Mündung, schien die räumliche Existenzgrundlage des französischen Volkes. Sie wollte man über das römische Gallien bis in die Vorgeschichte zurückverfolgen.

Das 843 geschaffene Reich Karls des Kahlen unterschied sich jedoch markant von diesem Sechseck. Es reichte über die Pyrenäen hinaus nach Nordspanien in die von den Karolingern geschaffene Spanische Mark, die freilich dem Königtum mehr und mehr entfremdet wurde. Die Ostgrenze war weit vom Rhein entfernt. Die bis ins 11. Jahrhundert formulierten Ansprüche auf das Reich Lothars, auf Lotharingien/Lothringen, zielten auch nicht auf die Schaffung einer Flussgrenze, sondern gründeten auf karolingischen Herrschaftsvorstellungen, denen es um die Vereinigung des westfränkischen Reiches mit den karolingischen Stammlanden an Maas und Mosel ging.

Das 843 entstandene Reich war gerade nicht durch die Einheitlichkeit des Raumes oder seiner Menschen geprägt. Mit den großen Flusssystemen von Seine, Loire und Garonne blieb es zum Atlantik offen. Das mächtige Zentralmassiv schob sich fast wie ein Riegel zwischen den Norden und den Süden, die schon bald für lange Zeit getrennte Wege gehen sollten: Vom Pariser Becken war der Süden noch am leichtesten über Burgund und das Rhonetal zu erreichen.

Der geographischen Vielfalt entsprach die ethnische: Die fränkische Landnahme hatte vor allem den Raum zwischen Rhein und Seine erfasst und das Gebiet zwischen Seine und Loire nur noch in geringerer Intensität erreicht. Im Süden waren die Aquitanier zwar schon unter Chlodwig dem Frankenreich einverleibt worden, doch sorgten hier gallorömische Traditionen und die geringere Durchdringung der Gesellschaft durch das Lehnswesen für erhebliche Unterschiede zum fränkischen Norden. Völker am westlichen Rand dieses Reiches wie die Bretonen und die Basken entzogen sich dem fränkischen Zugriff und bildeten stets eine auch militärische Herausforderung, der sich in einer zweiten Wanderungsphase im 9. Jahrhundert die normannische Landnahme an der Küste des Ärmelkanals und eine arabische Stützpunktbildung an der Mittelmeerküste hinzugesellten.

Konnte die starke königliche Zentralgewalt in der Zeit um 800 die zentrifugalen Kräfte noch bändigen, so trat die ethnische Vielfalt seit dem 9. Jahrhundert immer stärker als Prinzip politischen Handelns partikularer Gewalten hervor. Die lateinischen Quellen bezeichnen diese Einheiten als regna, was nur sehr vordergründig als »Königreiche« zu übersetzen ist: Neben Franzien (der Francia) begegnen Aquitanien und Burgund, schließlich die Gascogne, Gothien, die Bretagne, in einer weiteren Phase noch Neustrien (zunächst der westliche Teil des Frankenreichs, jetzt das Land zwischen Loire und Seine), Flandern, die Normandie. Auf dieser Grundlage entstanden die französischen Fürstentümer (Prinzipate).

Der ethnischen Vielfalt entsprach das Fehlen sprachlicher Einheitlichkeit. Aus dem klassischen Latein der Antike hatte sich das regional sehr unterschiedliche Vulgärlatein entwickelt, aus dem sich wiederum die sogenannten Volkssprachen entfalteten. In der Karolingerzeit machte die Rückbesinnung auf die antiken Vorbilder, die Orientierung am klassischen Latein, die Unterschiede zwischen gesprochener Volkssprache und geschriebener lateinischer...

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