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Geschichte Großbritanniens im 20. Jahrhundert

AutorFranz-Josef Brüggemeier
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl464 Seiten
ISBN9783406615214
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Um 1900 war Großbritannien auf dem Höhepunkt seiner Macht und besaß ein riesiges Empire. Kein anderes Land hatte damals einen ähnlich hohen Grad an Urbanisierung und Industrialisierung erreicht. Auch Konsumgesellschaft und Populärkultur waren deutlich weiter entwickelt. Nirgendwo sonst vollzogen sich aber auch der Rückgang der Industrie und der Aufstieg der Dienstleistungen so früh und so gründlich. Dieser zeitliche Vorsprung Großbritanniens hatte Vor- und Nachteile. Viele Entwicklungen dauerten länger als auf dem Kontinent, wo man auf britische Erfahrungen aufbauen konnte. Zugleich blieb den Briten aber mehr Zeit, sich auf die Veränderungen einzustellen. Das geschah nicht ohne Gewalt, insbesondere in den Kolonien. Doch die gesellschaftlichen Konflikte verliefen deutlich friedlicher als etwa in Deutschland, so dass George Orwell als wichtigste Eigenschaft der Briten hervorhob «einander nicht zu töten». Mit viel Sympathie für seinen Gegenstand porträtiert Franz-Josef Brüggemeier Großbritannien im 20. Jahrhundert und öffnet den Blick für die Vielfalt der britischen Geschichte.

<body>Franz-Josef Br&#252;ggemeier, geb. 1951, ist Professor f&#252;r Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universit&#228;t Freiburg.</body>

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Leseprobe

2. Von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg


Neuer Imperialismus und Schutzzölle (Tariff Reform)

In der allgemeinen Verunsicherung, die der Burenkrieg auslöste, schien vor allem eine Option eine gesicherte Zukunft zu versprechen: die Stärkung des Empire. Diese Meinung vertrat nicht nur Cecil Rhodes, der in Südafrika ein Vermögen erworben und den Burenkrieg forciert hatte. Um die 40 Millionen Bewohner des Vereinten Königreichs «vor einem blutigen Bürgerkrieg zu schützen», so erklärte er bereits 1895, «müssen wir Staatsmänner in den Kolonien neues Land erwerben, dort die überschüssige Bevölkerung ansiedeln und neue Märkte für die Güter schaffen, die sie in den Fabriken und Bergwerken herstellen. Das Empire ist, wie ich immer gesagt habe, eine Brot-und-Butter-Frage. Wer einen Bürgerkrieg verhindern will, muss Imperialist werden.»1

Diese Auffassung war verbreitet, nicht nur in Großbritannien, sondern auch in anderen europäischen Staaten, die miteinander konkurrierten, um möglichst große Gebiete zu gewinnen. Doch sie fand auch Widerspruch, insbesondere nach dem Burenkrieg, mit dem Rhodes seinen Zielen einen Bärendienst erwies. Denn als die Jubelfeiern um Mafeking abebbten und die Brutalität sowie vor allem die Kosten dieses Krieges deutlich wurden, mussten die Steuerzahler einspringen, deren Begeisterung für imperiale Visionen deutlich nachließ, zur großen Enttäuschung von Rhodes und anderen Imperialisten. Ihre so hochfliegenden Pläne drohten an der Knauserigkeit und dem Kleinmut der Wähler zu scheitern – so jedenfalls ihre Sicht. Sie wurden deshalb in den kommenden Jahren nicht müde, für ihre Ziele zu werben und besaßen dabei einen wichtigen Verbündeten in Joseph Chamberlain. Dieser war seit 1895 in der Regierung Salisbury als Staatssekretär für die Kolonien zuständig, hatte den Konflikt mit den Buren angeheizt und den triumphalen Wahlerfolg der Konservativen und ihrer liberalen Verbündeten im Herbst 1900 ermöglicht.2

Als der Krieg schließlich erfolgreich beendet war, in Irland Ruhe herrschte und sich auch sonst keine größere Bedrohung abzeichnete, sprach vieles dafür, politisch abzuwarten und keine Risiken einzugehen. Diese Meinung vertrat die Mehrheit der Konservativen, insbesondere diejenigen, welche die Ausweitung des Wahlrechts auf die unteren Schichten mit Misstrauen beobachteten und dem Wahlsieg von 1900 nicht so recht trauten. Dieser zeigte zwar, dass auch eine konservative Regierung die neuen Wähler ansprechen und eine aggressive Propaganda betreiben konnte. Doch damit mobilisierte sie Kräfte, die schwer einzuschätzen waren und möglicherweise einen aktiveren Staat wollten.3

Andere Konservative, allen voran Chamberlain, betrachteten die neuen Wählerschichten nicht so skeptisch. Generell plädierten sie für einen grundlegenden Kurswechsel und wollten vor allem höhere Zölle einführen, um aus dem Empire einen großen, geschützten Wirtschaftsraum zu machen. Das lag nahe, denn die wachsende internationale Konkurrenz und der Verlust der britischen Dominanz führten sie darauf zurück, dass andere Industriestaaten ihre Wirtschaft mit Schutzzöllen förderten, während Großbritannien am Freihandel festhalte und damit der Konkurrenz ausgeliefert sei. Höhere Zölle hingegen würden das Empire als riesigen Markt etablieren, in dem Großbritannien seine Industrieprodukte absetzen und im Gegenzug landwirtschaftliche Erzeugnisse und Rohstoffe aus dem Empire abnehmen sollte. Entsprechende Forderungen kursierten seit längerem, breiteten sich Ende der 1890er Jahre aus und fanden zunehmend Unterstützung, aber auch viele Gegner. Denn der Freihandel war Mitte des 19. Jahrhunderts gegen großen Widerstand eingeführt worden, hatte sich als sehr erfolgreich erwiesen und war zu einem Kennzeichen britischer Politik geworden, über dessen Fortbestand breiter Konsens herrschte. Ein Verstoß dagegen kam einem Frevel gleich – bis der Burenkrieg und die dadurch angeheizte Krisendiskussion die Debatte neu belebte.4

Dabei ging es Chamberlain nicht nur um wirtschaftliche Fragen, so zentral diese auch waren. Vielmehr wollte er das Empire auch deshalb stärken, um der Bevölkerung ein gemeinsames Ziel zu geben und die offensichtlichen gesellschaftlichen Spannungen zu mindern. Er verfolgte also ehrgeizige Ziele, besaß jedoch keinen systematischen oder gar umfassenden Plan, um diese zu verwirklichen. Genauere Überlegungen entstanden erst im Frühjahr 1902, als die Skepsis gegenüber seinen Vorschlägen anhielt und zusätzliche Argumente erforderlich wurden, um dafür breitere Unterstützung zu erhalten. In dieser Situation schlug Chamberlain vor, die höheren Zölle zu nutzen, um Altersrenten zu finanzieren. Damit schien eine Quadratur des Kreises gefunden, die eine Lösung für mehrere Probleme versprach: Höhere Zölle sollten die britische Industrie schützen, Arbeitsplätze erhalten, den Zusammenhalt des Empire fördern und die seit langem geforderten Renten finanzieren. Allerdings besaßen sie einen Wermutstropfen. Sie führten zu höheren Preisen, vor allem für Lebensmittel.5

Diese Vorschläge gelten als Teil eines New Imperialism, der Empire, Wirtschaft und Sozialpolitik eng miteinander verband, dem Staat größere Aufgaben zuwies, nach innen und nach außen offensiv auftrat und durch lautstarke Agitation die Bevölkerung gewinnen wollte. Die Resonanz auf Chamberlains Vorschläge war groß, doch die Regierung konnte sich zu keiner einheitlichen Position durchringen, wobei innerhalb des Kabinetts eine Mehrheit am bewährten Freihandel festhielt. Chamberlain legte deshalb sein Amt nieder und trat der im Juli 1903 gegründeten Tariff Reform League bei, die sich in den kommenden Jahren zu einer schlagkräftigen Organisation entwickelte und viel Unterstützung fand, jedoch auch ein ganz unerwartetes Ergebnis zeigte: Sie stärkte die Liberalen. Diese erlebten einen plötzlichen Aufstieg, den sie kaum fassen konnten. Sie hatten sich von der Wahlniederlage im Jahre 1900 noch nicht erholt, waren mit ihrer Forderung nach Home Rule von einer Mehrheit weit entfernt und besaßen kein Thema, das sie einen und die Regierung herausfordern konnte – bis die Forderung nach Schutzzöllen sie aus ihrer Not befreite. Die Liberalen agitierten heftig gegen diese Zölle, zeichneten ein wahres Schreckensbild von hohen Lebensmittelpreisen und erlebten einen ungeahnten Aufschwung. Salisbury, der für eine abwartende Politik eingetreten war und im Juli 1902 aus Altersgründen zugunsten von Arthur Balfour zurücktrat, sah seine Befürchtungen bestätigt.

Dabei klangen die Argumente der Tariff Reform League plausibel, denn Deutschland und die USA hatten für wichtige Industriezweige Schutzzölle eingeführt. Darüber klagten weite Teile der britischen Industrie und deren Beschäftigte, die um ihre Arbeitsplätze fürchteten. Hinzu kamen nationalistische Argumente, die eine verbreitete Aversion gegen ausländische Einflüsse und Konkurrenten nutzten. Ein Ziel ihrer Angriffe war der deutsche «Herr Dumper», benannt nach dem englischen Wort für Schleuderpreise, ein anderes aus Osteuropa zugewanderte Juden. Als Reaktion verabschiedete das Parlament den Alien Act von 1905, der auf die ausländerfeindliche Agitation reagierte, einen Sündenbock suchte und den Zuzug einschränkte.6

Davon abgesehen kamen die Befürworter von Schutzzöllen nicht recht weiter, denn bei der konkreten Umsetzung ihrer Forderungen entstanden zahlreiche Probleme. So konnten sie sich nicht darüber einigen, welche Produkte zu schützen waren und wie hoch die Zölle sein sollten. Auch machten sie unterschiedliche Angaben darüber, wie stark die Preise für Lebensmittel ansteigen würden. Um verbreiteten Befürchtungen zu begegnen, wollte Chamberlain niedrige Zölle einführen, doch dann fehlte Geld für die Altersrenten. Hinzu kam, dass sich allenfalls Teile der britischen Wirtschaft in einer Krise befanden und Schutzzölle forderten, während weite Bereiche überaus erfolgreich agierten und keine Zölle benötigten. Schlimmer noch, sie lehnten diese sogar ab, da das Empire nur einen kleinen Teil ihrer Exporte aufnahm. Für sie gefährdeten Schutzzölle wichtige Absatzmärkte, falls die betroffenen Länder Gegenmaßnahmen ergriffen.7

Ohnehin hatten Mitglieder des Empire wie Kanada oder Australien derartige Zölle bereits eingeführt, um den Ausbau ihrer Industrien zu fördern. Darauf wollten sie nicht zugunsten britischer Produkte verzichten, so dass Chamberlain auf der Colonial Conference von 1902 bei ihnen wenig Unterstützung fand. Daran änderte sich in den folgenden Jahren wenig, denn seine Vorschläge liefen darauf hinaus, die bestehenden Verhältnisse festzuschreiben. Sie hätten die britische Industrie geschützt und die anderen Gebiete des Empires auf die Rolle von Absatzmärkten reduziert, die sich damit zufrieden geben sollten, Rohstoffe und Nahrungsmittel zu liefern.

So blieb die Ablehnung im Empire, in weiten Teilen der Wirtschaft und in der...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel3
Impressum4
Inhalt5
Vorwort7
Einleitung11
ERSTERTEIL 1900 –192615
1. Großbritannien um 190015
2. Von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg67
3. Der Große Krieg und seine Folgen, 1914 –1926107
ZWEITERTEIL 1926 –1945141
4. Großbritannien um 1926141
5. Ruhe vor dem Sturm, 1926 –1939162
6. Großbritannien um 1942: A People’s War?191
DRITTERTEIL 1945–1979221
7. You never had it so good, 1945–1961221
8. Wind of Change, 1961–1979251
9. Großbritannien um 1965: Swinging Sixties?279
VIERTERTEIL 1979 –2010309
10. Thatcher und Major, 1979 –1997309
11. New Labour, New Britain?, 1997–2010346
12. Briten, Zuwanderer und Ausländer380
13. Großbritannien 1900 –2010: Rückblicke und Befunde393
ANHANG407
Abkürzungsverzeichnis409
Chronologie411
Anmerkungen415
Literaturverzeichnis.440
Tabellen445
Personenregister454
Karten458
Zum Buch464

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