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Geschwister von Kindern mit Autismus

Ein Praxisbuch für Familienangehörige, Therapeuten und Pädagogen

AutorInez Maus
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783170324770
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis25,99 EUR
Eltern eines Kindes mit Autismus verwenden einen großen Teil ihrer Energie, Zeit, Aufmerksamkeit und finanziellen Möglichkeiten für das Kind, sodass Geschwister oft an den Rand der Familie gedrängt werden und in ihrem sozialen Umfeld zusätzliche Schwierigkeiten entstehen. Eine frühzeitige Intervention kann alle Beteiligten für die Bedürfnisse der Geschwisterkinder sensibilisieren und ermöglicht es, vorbeugende und korrigierende Maßnahmen zu etablieren. Dieses Buch schlägt Angehörigen und beruflich mit autistischen sowie nicht-autistischen Kindern in Beziehung stehenden Personen in der Praxis erprobte Methoden für den Umgang mit autismusspezifischen Besonderheiten auf Geschwisterebene vor. Es zeigt auf, wie Geschwister emotional gestärkt werden können und wie es gelingt, dass sie sich als gleichwertige Familienmitglieder wahrgenommen fühlen. Für Fachleute und Studierende komplementiert das Buch symptombezogenes Fachwissen, indem es die Einsicht vermittelt, wie weitgreifend Autismus das soziale Umfeld beeinflusst.

Inez Maus ist Mutter eines autistischen Jungen und befasst sich seit mehr als 20 Jahren mit dem Thema Autismus. Die promovierte Biochemikerin lebt in Berlin und ist selbständige Autorin, Lektorin und Referentin zu autismusspezifischen Themen.

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Leseprobe

2          Außensicht auf Geschwister behinderter Kinder


Ungefähr 2 Millionen Kinder wachsen in Deutschland mit behinderten oder chronisch kranken Geschwistern auf (rbb-online, 2016). Im Jahr 2011 gab es laut Angaben des Statistischen Bundesamtes (Mikrozensus) knapp 13 Millionen minderjährige Kinder in Deutschland, wobei fast drei Viertel der Kinder mit einem Geschwister oder mit mehreren Geschwistern in einem Haushalt lebten (Bundeszentrale für politische Bildung, 2012). Führt man beide Zahlen in einer Abschätzung unter Annahme vereinfachender Randbedingungen zusammen, so ergibt sich, dass jedes fünfte Kind in Deutschland mit der Problematik konfrontiert ist, mit einem mehr oder weniger betreuungsintensiven Geschwisterkind aufzuwachsen. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Außensicht auf Geschwister behinderter Kinder und beschreibt Auffälligkeiten, die bei diesen Kindern auftreten können.

Vorab sei angemerkt, dass die Bezeichnung Geschwisterkinder für die Schwestern und Brüder eines behinderten Kindes im Kindheitsalter verwendet wird. Nicht gemeint sind die Kinder der Geschwister der Eltern, also die Nichten und Neffen. Die Benutzung des Begriffes Geschwisterkinder (im Englischen: sibkids, zusammengesetzt aus sibling und kids) im erstgenannten Sinne hat sich sowohl in der Fachliteratur als auch im Sprachgebrauch vieler Institutionen und Vereinigungen durchgesetzt (Grünzinger, 2005).

2.1       Situation von Geschwisterkindern aus der Sicht von Pädagogen und Psychologen


Eine Integrationserzieherin berichtete mir über den Bruder eines behinderten Kindes: »Der Junge wird überhaupt nicht wahrgenommen, er scheint in der Familie nicht zu existieren.« Diese Aussage und obige Schätzung brachten mich auf die Idee, eine Umfrage unter Personen, die beruflich mit Kindern arbeiten, durchzuführen, um Erkenntnisse zur Situation von Geschwistern behinderter Kinder aus der außerfamiliären Sicht zu gewinnen.

Mithilfe eines Fragebogens sollte herausgefunden werden, ob minderjährige Geschwister behinderter Kinder im außerhäuslichen Bereich durch bestimmte Verhaltensweisen auffallen und, wenn dies der Fall ist, welche Verhaltensweisen das sind und unter welchen Bedingungen sie beobachtet werden. Als behindert wurden für diese Fragestellung Kinder mit einer dauerhaften medizinischen Diagnose festgelegt, nicht jedoch Kinder mit Problemen, die einer speziellen, zeitlich begrenzten Förderung bedürfen.

Ausgegeben wurde der Fragebogen in Berlin und im Land Brandenburg an Schulen verschiedener Typen sowie an gemeinnützige Vereine, die Unterstützungsleistungen für Familien anbieten. Der Rücklauf ergab 59 ausgefüllte Fragebögen. Die Rücklaufquote lässt sich nicht ermitteln, da die Fragebögen per E-Mail und durch Kopieren weiterverbreitet wurden, sodass die tatsächlich in Umlauf gebrachte Anzahl nicht bekannt ist. Die Befragung erfolgte im Zeitraum von Dezember 2014 bis Februar 2015. Der Fragebogen diente der Ermittlung von Trends. Zur übersichtlichen Darstellung in Tabellenform wurden die Ergebnisse der Auszählung gerundet (5 %-Stufen).

Der berufliche Umgang mit Kindern war Grundvoraussetzung für die Teilnahme an der Befragung. Das Alter der zu betreuenden Kinder spielte keine Rolle. Nach der speziellen beruflichen Ausrichtung wurde nicht gefragt. Aus den Zusatzinformationen, die freiwillig gegeben wurden, ergibt sich eine berufliche Bandbreite, die von Lehrern, Erziehern und Psychologen bis zu Integrationserziehern sowie Sonder- und Sozialpädagogen reicht.

Mehr als 60 % der Teilnehmer gaben an, keine Erfahrung mit minderjährigen Geschwistern behinderter Kinder zu haben. Wenn mehr als die Hälfte der beruflich mit Kindern arbeitenden Personen aussagt, keine Erfahrung mit Geschwistern behinderter Kinder zu haben, aber in jeder Schulklasse laut obiger Schätzung mindestens eins dieser Kinder sein müsste bzw. ist, dann legt dies die Vermutung nahe, dass das Bewusstsein dafür, dass ein behindertes Kind in der Familie ein ebenso entwicklungsgefährdender Fakt sein kann wie ein Migrationshintergrund oder die Herkunft aus einem sozial schwachen Umfeld, wenig ausgeprägt ist.

Zu Beginn der Befragung wurde ermittelt, ob die Teilnehmer über Erfahrungen im Umgang mit Geschwistern behinderter Kinder verfügen. Die mit Nein antwortenden Pädagogen einer Berliner Inklusionsschule tauschten sich nach der Befragung mit ihren Kollegen, die entsprechende Erfahrungen besitzen, aus und stellten dabei fest, dass sie doch Geschwister behinderter Kinder betreuen und unterrichten. In Kenntnis der familiären Situation bewerteten sie daraufhin die Verhaltensauffälligkeiten dieser Kinder bedeutend toleranter.

Hier drängt sich der Gedanke auf, Eltern zu empfehlen, die Besonderheiten ihres Familienlebens in der Schule und im außerhäuslichen Umfeld uneingeschränkt offenzulegen, eventuell sogar, bevor Probleme mit dem Geschwisterkind auftreten. Jedoch ist ein derartiges Offenlegen nur eine der Optionen, die Eltern haben. Es ist eine Möglichkeit, die nicht immer Vorteile bringt ( Abschn. 4.2.2). Jede Familie kann nur für sich und abhängig von der entsprechenden Situation entscheiden, was und wie viel sie von den behinderungsbedingten familiären Problemen wo preisgibt.

Der Median der Berufserfahrung der befragten Personen lag bei 12 Jahren, wobei als Minimum 1 Jahr und als Maximum 30 Jahre Berufserfahrung angegeben wurden. Der überwiegende Teil der Teilnehmer (85 %) betreut nur wenige Geschwister behinderter Kinder pro Schuljahr.

Jedoch beobachteten fast alle Teilnehmer Auffälligkeiten bei den Geschwisterkindern ( Abschn. 2.3), deren Ursache sie in der schwierigen Familiensituation sehen. Diese Auffälligkeiten treten laut Befragung sowohl im Freizeit- als auch im Unterrichtsbereich auf, wobei Auffälligkeiten im Unterrichtsbereich etwas seltener beschrieben wurden. Die Angabe, dass Schwierigkeiten »eher zu Hause« auftreten, wurde vom Fragebogen nicht vorgegeben, sondern vom Bearbeitenden hinzugefügt.

Einige Befragte konkretisierten die im Fragebogen formulierte schwierige Familiensituation als Ursache für das Auftreten von Auffälligkeiten. Sie gaben an, dass die Schwierigkeiten des Geschwisterkindes dadurch hervorgerufen werden, dass die Eltern auf das behinderte Kind sehr fokussiert sind, sich den Geschwisterkindern weniger zuwenden oder den Geschwistern die Verantwortung für das behinderte Kind übertragen.

Das Alter des Geschwisterkindes in Bezug auf das behinderte Kind scheint keinen Einfluss auf das Auftreten von Auffälligkeiten zu haben. Intensität, Dauer und Art der Auffälligkeiten wurden hierbei nicht in die Betrachtung einbezogen.

Tab. 2.1: Auswertung des Fragebogens zur Situation von Geschwistern behinderter Kinder

2.2       Situation von Geschwisterkindern aus der Sicht anderer Personengruppen


»Und zur Krönung des Ganzen fragte sie mich noch, ob sich denn meine beiden anderen Kinder überhaupt altersgerecht entwickeln würden« (Maus, 2013, S. 103). Diese Frage stammt von einer Person, die meinen damals als verhaltensauffällig geltenden Sohn beurteilen sollte und die ihre Unterschrift über folgende Zeilen gesetzt hatte: Ärztin für HNO-Heilkunde, Ärztin für Phoniatrie-Pädaudiologie, Leiterin der Beratungsstelle für Hör- und Sprachbehinderte.

In der Diskussion nach Vorträgen berichten Eltern immer wieder über ähnliche Erfahrungen. Diese Erfahrungen stammen meist aus der Zeit, bevor die Diagnose Autismus gestellt wurde. Da man einem Kind mit Autismus in vielen Fällen nicht ansieht, dass es autistisch ist, nimmt es die nicht wohlwollende Umgebung häufig als schlecht erzogen wahr. Schlechte Erziehung wird auf elterliche Unfähigkeit zurückgeführt, woraus sich der scheinbar logische Schluss ergibt, dass die anderen Kinder der Familie ebenso behandelt werden ( Abschn. 4.2.1). Dies stellt nicht nur für Eltern eine enorme psychische Belastung dar, sondern auch Geschwisterkinder erleben diese Situationen und nehmen daraus die Botschaft mit, dass sie bestimmte Normen nicht erfüllen. Geschwisterkinder entwickeln so rasch Gefühle von Scham, Wut oder Hass, die sich sowohl auf das besondere Kind der Familie als auch auf die Eltern beziehen können.

Betreffs der postulierten, pauschal verallgemeinernden Unfähigkeit der Eltern gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen Familien mit Kindern mit Autismus oder ähnlichen Entwicklungsstörungen und Familien mit anderweitig behinderten Kindern. Niemand fragt Eltern eines spastisch gelähmten Kindes, ob denn die anderen Kinder auch...

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