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E-Book

Gesellschaft als Urteil

Klassen, Identitäten, Wege

AutorDidier Eribon
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783518754764
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Vom Autor des Spiegel-Bestsellers Rückkehr nach Reims

Didier Eribons Rückkehr nach Reims gilt bereits heute als Klassiker der Zeitdiagnose. In seinem neuen Buch greift Eribon viele Themen des Vorgängers wieder auf und vertieft seine Überlegungen zu zentralen Fragen. Die Gesellschaft, so der französische Soziologe im Anschluss an Pierre Bourdieu, weist uns Plätze zu, sie spricht Urteile aus, denen wir uns nicht entziehen können, sie errichtet Grenzen und bringt Individuen und Gruppen in eine hierarchische Ordnung. Die Aufgabe des kritischen Denkens besteht darin, diese Herrschaftsmechanismen ans Licht zu bringen.

Zu diesem Zweck unternimmt Eribon den Versuch, die Analyse der Klassenverhältnisse sowie der Rolle zentraler Institutionen wie des Bildungssystems auf eine neue Grundlage zu stellen. Dabei widmet er sich auch Autorinnen und Autoren wie Simone de Beauvoir, Annie Ernaux, Assia Djebar und Jean-Paul Sartre sowie ihrem Einfluss auf seinen intellektuellen Werdegang. Nur indem wir uns den Determinismen stellen, die unser Leben regieren, können wir einer wahrhaft emanzipatorischen Politik den Weg bereiten.

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<p>Didier Eribon, geboren 1953 in Reims, lehrt Soziologie an der Universit&auml;t von Amiens. Er gilt als einer der wichtigsten &ouml;ffentlichen Intellektuellen Frankreichs und bezieht regelm&auml;&szlig;ig Stellung zum politischen Zeitgeschehen.</p>

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Leseprobe

2. Das Ich und seine Schatten


Da ich doch alles gesagt hatte. Hatte ich das? Hatte ich nicht im letzten Moment unter dem Vorwand irgendeines strukturellen Problems mit einem Kapitel eine lange Passage gelöscht, die aufs Beste illustrierte, wie gewaltsam mich der Wunsch beherrschte, die einmal hergestellte Distanz zwischen der mir angestammten Arbeiterwelt und der von mir erschlossenen Welt der Intellektuellen gegen alle Widerstände aufrechtzuerhalten? Warum ich für diese zwanzig Zeilen damals keinen Platz in meinem Buch finden konnte, verstehe ich heute nicht mehr. Oder besser gesagt, ich verstehe es nur zu gut, denn in ihnen laufen alle Fäden zusammen.

Vieles von dem, was ich in Rückkehr nach Reims niedergeschrieben habe, hatte ich vorher Pierre Bourdieu erzählt. Zwanzig Jahre lang hatten wir uns fast jeden Tag gesehen oder miteinander telefoniert (kennengelernt hatte ich ihn Ende 1979, gestorben ist er im Jahr 2002). Als er mir 1991 ein Interview zu lesen gab, das er im Rahmen einer großen Studie mit zwei Jugendlichen aus einer Vorstadtsiedlung geführt hatte – das Material, das später in dem außergewöhnlichen Band Das Elend der Welt zusammengefasst werden sollte, erschien damals nach und nach in seiner Zeitschrift Actes de la recherche en sciences sociales –, da wunderte ich mich über die Verbindlichkeit, mit der er diesen beiden Gesprächspartnern begegnet war. Besonders fiel sie mir dort auf, wo die beiden Interviewten durchscheinen ließen, dass sie gegenüber zwei weißen Frauen aus ihrer Siedlung, die ihrer Ansicht nach rassistisch waren, vor der Anwendung physischer Gewalt nicht zurückschreckten. Ich hielt Bourdieu vor, dass er die Situation, die er da beschreiben und analysieren wollte, auf ziemlich einseitige Weise darstellte. Die beiden Frauen und viele andere Menschen, die wahrscheinlich ihre Gründe hatten, über das Verhalten der beiden Interviewten zu klagen, kamen bei ihm nicht zu Wort. Man kann sich leicht vorstellen, wie die beiden Jungs das Leben der älteren Anwohner vergiftet haben müssen.[14] Bourdieu sagte mir dann, dass er sich in diesen beiden Jugendlichen seltsamerweise selbst erkannt hatte, dass sie ihn an seine eigene Jugend erinnert, dass ihre Aussagen in seiner eigenen Vergangenheit ein Echo gefunden hatten. Ich weiß es ja: Die Einfühlung, die ich ihm vorwarf, war für die Begegnung mit diesen beiden Jugendlichen und für die Arbeit, die er sich vorgenommen hatte, essenziell. Bevor man eine Stimme wiedergeben kann, muss diese sich zuerst selbst äußern. Den Austausch und die Gesprächssituation sollte man deshalb so ungekünstelt wie möglich gestalten. Die betreffende Ausgabe von Actes de la recherche hieß aber nun mal »Das Leiden« (»La souffrance«), und ich hörte nicht auf, den Widerspruch herauszustellen, der zwischen diesem Titel und der Nichtberücksichtigung des Leidens einiger der Anwohner bestand. In der Einleitung zu dem Interview (es handelt sich dabei übrigens um einen schönen, ja überwältigenden Text) kommt Bourdieu zumindest ansatzweise auf diesen Punkt zu sprechen. Er insistiert auf dem »Schicksalseffekt«, der sich aus dem Umstand ergibt, an einem Ort des sozialen Abstiegs leben zu müssen, dort, wo alle Räder ineinandergreifen und zu einem schrittweisen Abstieg beitragen, wo der Weg vom schulischen Scheitern über das Ausbleiben der beruflichen Perspektiven – »die mit der Abwesenheit von Abschlüssen und Qualifikationen verbundenen Nachteile, die ihrerseits mit einem Mangel an kulturellem und insbesondere linguistischem Kapital verbunden sind« – mehr oder weniger direkt in die Kriminalität oder jedenfalls in eine Art der Selbstaffirmation führt, die fast immer gewaltsam ist und mit der man sich, entweder gegen die oder entsprechend den Codes des Kollektivs, seiner sozialen Identität, ja der Wahrnehmung der eigenen Existenz versichert. Bourdieu hebt auch hervor, wie schwierig es für Menschen mit ganz unterschiedlichen Biografien ist, in diesen Räumen des sozialen Elends zusammenzuleben. Daraus ergibt sich der unvermeidliche »Adressierungsfehler«: Nicht die verantwortlichen Politiker oder die Teilung der Gesellschaft in Klassen erklärt man zum Feind, sondern den gesellschaftlich Nächsten, den eigenen Nachbarn. (Die Klassenteilung scheint zu weit weg und zu abstrakt, um als reale Tatsache zu gelten.) Deshalb entlädt sich die Gewalt von Aufständischen immerzu an den Schulen, die von den eigenen Geschwistern besucht werden, oder an den Bussen, die das eigene Viertel mit dem Rest der Stadt verbinden. Die Aufständischen stecken sie als Symbole der verhassten Institutionen, des Staates und der Macht in Brand, anstatt ihre Angriffe – aber wie sollte es anders sein? – auf die Institutionen, den Staat, die Machthaber selbst zu richten.

Bourdieu kommt später auf seine Nähe zu den interviewten Jugendlichen zurück. In einem Abschnitt von Ein soziologischer Selbstversuch beschreibt er sich selbst als einen Heranwachsenden, der sich »in ständiger innerer Auflehnung, immer am Rande einer Straftat« befand. Er erklärt damit, wie es ihm gelang, trotz des Umstands, dass

wir doch so grundverschieden waren, und in völliger Mißachtung meines Alters und meiner Stellung – die vielleicht etwas weit ging, wie man mir dann sagte, bis hin zu bestimmten Verhaltensweisen, die normalerweise als völlig unmöglich angesehen werden – mit dem algerischstämmigen Jungen in Das Elend der Welt und seinem Freund ins Gespräch zu kommen und das zutiefst Hilflose hinter ihrer widerspenstigen Unzugänglichkeit wahrzunehmen, die sie vor einem anderen bestimmt aufrechterhalten hätten […].[15]

Es könnte durchaus sein, dass Bourdieus spontane Identifikation mit den beiden Jugendlichen und die allergische Ablehnung, die ich beim Lesen dieses Textes empfand, etwas mit unserer jeweiligen Sexualität und unserem Bezug zur Männlichkeit zu tun hatte. (Identifikation ist ein sehr starkes Wort, vielleicht war es eher eine Empathie, die er unbedingt äußern wollte. Meine Haltung war übrigens nicht weniger »unreflektiert«, denn es handelt sich da um ein Interview, Bourdieu versucht, Antworten auf Fragen zu bekommen, die man stellen muss … Natürlich suchte er dafür nach einer geeigneten Sprache.) Bourdieu erkannte in den jungen Männern etwas aus seiner eigenen Jugend wieder. Mir ging es da ganz anders. Aus mir hätte durchaus ein raufender, tobender Junge werden können – die Welt, aus der ich kam, prädestinierte mich dazu, ich hatte stillschweigenden Erwartungen zu entsprechen, die sich, sobald ich dies nicht tat, in Mahnungen zur Ordnung äußerten (»Du bist ’ne richtige Tussi«, »Du bist ’ne richtige Schwuchtel« und noch viel gröbere Sätze, die ich lieber für mich behalte). Doch die Homosexualität, die von den anderen immer als ein Schreckbild dargestellt wurde oder als das, was zu sein oder darzustellen völlig undenkbar war, entfernte mich recht schnell von diesen auf mich wartenden, nach mir rufenden Rollen. Der junge Schwule, der ich war, besser: in den ich mich nach und nach, furchtsam und unsicher, aber auch mit einer anderen Zukunft fest im Blick, verwandelte, wäre wohl eher – oder sagen wir es ruhig: ist tatsächlich und wiederholt – eines der Opfer jener Art von Brutalitäten gewesen, mit denen die beiden Figuren aus Bourdieus Buch sich brüsten. Im Lauf dieser Entwicklung wurde ich zu jenem »scared gay kid«, dem verängstigten schwulen Jungen, von dem Allen Ginsberg in einem seiner letzten Gedichte spricht. In gewisser Weise bin ich das bis heute geblieben. Diese doppelte Bewegung zu beschreiben ist nicht leicht: Man entdeckt, dass man anders ist, man versucht, das eigene Leben nach dieser Andersheit zu organisieren und sich selbst nach ihr zu formen: ein positives Gefühl, in das man freudige Hoffnungen setzt. Zugleich erkennt man aber, dass diese neue Identität etwas Schamvolles ist, das nur im Zeichen der Angst gelebt werden kann: ein negatives Gefühl, welches das positive, das also nur mit Abstrichen ein freudiges ist, ruiniert und verdunkelt. Diese Angst hat mich in Wahrheit nie verlassen....

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