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E-Book

Gesellschaftliche Bedingungen von Bildung und Erziehung

Eine Einführung

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl326 Seiten
ISBN9783170228467
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Das Buch vermittelt grundlegende Kenntnisse der Bedingungen, unter denen Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozesse stattfinden. Erläutert werden politische, ökonomische, kulturelle, soziale und rechtliche Aspekte des Aufwachsens in der heutigen Gesellschaft. Es wird untersucht, welcher Stellenwert den sich wandelnden Beziehungen zwischen den Generationen und den Geschlechtern zukommt, welche Veränderungen die multikulturelle Gesellschaft für Bildung und Erziehung mit sich bringt, wie soziale Ungleichheit, Benachteiligung und Behinderung im Bildungswesen oft sogar verstärkt werden, wie sich Lernen und Ausbildung in der Wissensgesellschaft entwickeln und wie wir unsere Wahrnehmung der Welt durch die Neuen Medien verändern. Gefragt wird nicht zuletzt danach, woher wir eigentlich wissen, was wir wissen: Denn nicht nur die gesellschaftlichen Bedingungen von Bildung und Erziehung selbst sind in historischen Wandel einbegriffen, sondern auch die Art und Reichweite, wie wir sie zu erkennen vermögen.

Dr. Andrea Liesner ist Professorin am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg mit den Arbeitsschwerpunkten Bildungsprozesse im Kontext ökonomischer Transformationen. Dr. Ingrid Lohmann ist dort Professorin für Ideen- und Sozialgeschichte der Erziehung.

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Leseprobe

Einleitung


Andrea Liesner & Ingrid Lohmann

Kaum ein erziehungswissenschaftliches Thema ist so vielgestaltig wie das der gesellschaftlichen Bedingungen von Bildung und Erziehung. Denn Bildung und Erziehung können zwar von anderen pädagogischen Begriffen und Praktiken unterschieden werden. Gleichzeitig gibt es aber keine auf Erziehung und Bildung gerichteten Handlungen und Prozesse, die nicht von gesellschaftlichen Bedingungen gerahmt, durchformt, strukturiert und auf verschiedenste Weise beeinflusst wären.

Auf Erziehung und Bildung ›an sich‹ lässt sich also nicht schauen. Sie existieren nicht außerhalb gesellschaftlicher Bedingungen, sondern bestehen gerade wegen ihrer Funktionen für die Gesellschaften, zu deren Fortbestand sie mittels Tradierung von Wissen, Wertvorstellungen, Einstellungen, Haltungen, Kenntnissen und Fähigkeiten an die nachwachsenden Generationen beitragen. Das gilt selbst für Bildungs- und Erziehungskonzepte, die sich ausdrücklich gegen bisherige Traditionen richten und auf eine Überwindung bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse zielen: Auch sie tragen in ihren Theorien und in ihren Praktiken, bis hin zur Architektur z.B. der Schulgebäude (vgl. Burke/Grosvenor 2008), doch unverkennbar die Züge der historisch-gesellschaftlichen Epoche, der sie angehören, und deren jeweiliger Diskurse.

Wie Gesellschaftlichkeit mit Bildung und Erziehung verwoben ist, hängt von vielen Momenten ab: vom jeweiligen historischen und kulturellen Kontext, vom Stand der Wissenschaften und Technologie, vom Grad der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, von je unterschiedlichen moralischen und religiösen Überzeugungen der Bevölkerungen, von zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen divergierenden politischen und ökonomischen Zielsetzungen, ja sogar vom Maß an Vertrauen oder Misstrauen der Generationen zueinander, das mit dem je zugrunde liegenden Welt- und Menschenbild zusammenhängt. Für wissenschaftliche Untersuchungen wird außerdem nach Faktoren wie Alter, Geschlecht, Behinderung, Arbeitsmarkt und Berufsstruktur, Schicht/Klasse/Milieu usw. differenziert. Vor allem sozialtheoretische und bildungshistorische Studien verweisen nachdrücklich auf die gesellschaftliche Bedingtheit von Bildung und Erziehung (vgl. etwa Blankertz 1982, Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte 1987 ff, Petrat 1987, Herrlitz u. a. 2005, Mayer/Lohmann 2009, Mayer u. a. 2009).

Ob es beispielsweise als normal gilt, dass die Mutter zuhause bleibt und sich der Erziehung der Kinder widmet, oder dass sie berufstätig ist und die Kinder möglichst früh pädagogische Förderung im Kindergarten erfahren, ist ein augenfälliges Exempel dafür, wie sich mit der Änderung des gesellschaftlichen Umfelds auch Bildungs- und Erziehungspraktiken und damit verbundene Wertvorstellungen grundlegend ändern können (vgl. Ecarius/Malmede 2009). Ähnliches wird sichtbar beim Blick auf andere Epochen und Kulturen. Selbst als im 19. Jahrhundert, in den Anfängen modernen Erziehungs- und Bildungsdenkens, nach vermeintlich allgemein und überzeitlich gültigen Grundstrukturen von Bildung und Erziehung gesucht wurde, wusste man doch andererseits auch um deren Veränderlichkeit und Vielgestaltigkeit in Abhängigkeit vom jeweiligen historisch-kulturellen Kontext.

Dennoch war lange umstritten, ob und inwiefern Analysen der gesellschaftlichen Bedingungen von Bildung und Erziehung mit zum Fach gehören oder nicht: »Die Frage nach der sinnbestimmten Einrichtung der Erziehung« sei eine Sache, »sozialwissenschaftliche Analysen des Bedingungsgefüges der Erziehungswirklichkeit« eine andere. Es sei falsch, diese »als Erziehungswissenschaft auszugeben« (Benner 1973, 122). Mit Blick auf die vielrezipierte Schrift Die Illusion der Chancengleichheit (Bourdieu/Passeron 1971) bezeichnen ähnlich Luhmann/Schorr (1979, 19) die Hereinnahme gesellschaftskritischer Untersuchungen in die Pädagogik als fatal und wenig hilfreich.

Bei der Kontroverse, die Anlass für solche Positionierungen gab, ging es zum einen um die Frage nach der Eigenlogik von Erziehung und Bildung gegenüber anderen Handlungsformen (wie z.B. politischen, ökonomischen, künstlerischen oder rituellen). Zum anderen ging es um den wissenschaftlichen Status der Pädagogik: Wie lässt sich die Wissenschaft von Bildung und Erziehung von anderen Wissenschaften, z. B. der Psychologie oder der Soziologie, unterscheiden, wenn sie deren Aussagen über Bildung und Erziehung als pädagogische rezipiert? Und wie kann Pädagogik als Wissenschaft von und gleichzeitig für Bildung und Erziehung begründet werden, ohne sich mit dieser besonderen Struktur zum Spielball der jeweils geschichtlich vorherrschenden gesellschaftlichen Interessen zu machen?

Siegfried Bernfeld hatte Fragen wie diese schon nach dem ersten Weltkrieg provoziert, als er in seiner Streitschrift Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung (vgl. 1925, 67) gegen die damals vorherrschende geisteswissenschaftliche Pädagogik die These vertrat, dass gesellschaftskritische Analysen für die Pädagogik unerlässlich sind. Anderenfalls verkenne sie ihre ideologischen Funktionen und damit ihre eigene Beteiligung an der Stabilisierung von Herrschaft.

In den 1960er und 1970er Jahren lebte diese Diskussion wieder auf: Sozialkritische Ansätze problematisierten die restaurativen Tendenzen der Nachkriegszeit und wurden von der Studentenbewegung aufgegriffen. Die Rezeption von Bernfelds Sisyphos war dabei eine wichtige Wegmarke in der Auseinandersetzung mit den Ursachen des Zweiten Weltkriegs und der Verstrickung der Elterngenerationen in den Nationalsozialismus (vgl. Jahrbuch für Pädagogik 2008, Horn/Ritzi 2001). In neuer Schärfe wurde die Funktionalität vorgeblich ideologiefreier Erziehung und Bildung für ideologische Zwecke und kriegerische Aggression zum Thema gemacht. Wissenschaftlich stellten die Freudsche Psychoanalyse und die Kritische Theorie der Frankfurter Schule (Adorno, Horkheimer, Marcuse u.a.) die Möglichkeit in Aussicht, hinter die gesellschaftlichen Kulissen blicken zu können; es ging darum, Aufschluss zu erhalten über die verborgenen Seiten der Wirklichkeit, auch des Erziehungsgeschehens.

Dieser Impetus war weit verbreitet. In Gestalt der Etablierung von Psychologie und Soziologie als verpflichtenden Nebenfächern fand er 1969 sogar Eingang in die Rahmenordnung des damals neu entstehenden Diplomstudiengangs Pädagogik. Allerdings verhärteten sich in diesem Kontext auch die wissenschaftlichen Fronten: Nicht nur in der Pädagogik warfen sich nun Vertreter der ›traditionellen‹ und der ›kritischen‹ Wissenschaft gegenseitig Ideologisierungen vor: Die einen, weil sie mit ihrem Festhalten an Objektivität und Werturteilsfreiheit die bestehenden gesellschaftliche Machtverhältnisse verschleierten, die anderen, weil sie unter Berufung auf Emanzipation, Mündigkeit und Autonomie ihre eigenen normativen Ansprüche an Bildung und Erziehung durchzusetzen versuchten.

Seit den 1980er Jahren ebbt diese Auseinandersetzung ab. Das liegt jedoch nicht daran, dass die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen von Bildung und Erziehung an Brisanz verloren hätte, im Gegenteil: Der Anspruch auf Selbstbestimmung nimmt nicht deshalb ab, weil er in unserer Gesellschaft zunehmend realisiert wäre. Er verliert vielmehr deshalb an provokativer Kraft, weil Fremdbestimmungen in vielen Bereichen unsichtbarer und zum Teil sogar mit Aufforderungen zur Selbstbestimmung verbunden werden (vgl. Meyer-Drawe 2000, Bröckling 2007).

Anstöße für kritische Untersuchungen, die sich auf diese komplexer werdenden gesellschaftlichen Bedingungen von Bildung und Erziehung richten, ergaben sich in jüngerer Zeit aus der Rezeption der Schriften Michel Foucaults: Wichtig sind hier insbesondere seine Untersuchungen zu den Verflechtungen von Macht und Wissen in komplexen historischen Formationen sowie zur Gouvernementalität, d. h. zum Regieren und zur Machtausübung mit Einverständnis der Beherrschten (vgl. Weber/Maurer 2006, Bröckling u. a. 2000). Hinzu kommen jüngst Studien, die sich mit den Wirkungsweisen der neuen Steuerungsformen in Bildungsinstitutionen beschäftigen (vgl. Altrichter u. a. 2007).

Aus solchen Entwicklungen heraus zählt das Thema des vorliegenden Buchs zu jenem Fundus an Kenntnissen, Denkweisen und Reflexionen, der für grundständige erziehungswissenschaftliche Studiengänge wie für die entsprechenden Teile des Lehramtsstudiums als grundlegend angesehen wird. Daher führt die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE), die Vereinigung der in Forschung und Lehre tätigen FachwissenschaftlerInnen, in ihren Empfehlungen für das Kerncurriculum die Studieneinheit »Gesellschaftliche, politische und rechtliche Bedingungen von Bildung, Ausbildung und Erziehung in schulischen und nicht-schulischen Einrichtungen unter Einschluss internationaler Aspekte« gleichrangig neben der Studieneinheit »Grundlagen der Erziehungswissenschaft« auf.

Die Aufgaben werden wie folgt umrissen: »Einführung in empirische und sozialhistorische Bedingungen pädagogischen Handelns und erziehungswissenschaftlicher Fragestellungen in nationaler und internationaler Perspektive; Befähigung zur kritischen Auseinandersetzung mit erziehungswissenschaftlicher Forschung und pädagogischen Aufgabenstellungen im Hinblick auf ihre historischen, kulturellen, politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen; Befähigung zur Beurteilung und Entwicklung von Handlungskonzepten« (DGfE 2008, 25 und passim). Weiterhin gemäß den Empfehlungen zählen zu der Studieneinheit »Gesellschaftliche Bedingungen«:

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