In den folgenden Kapiteln soll zunächst auf die Konstruktion von Gesundheit eingegangen werden, indem verschiedene Definitionen, Beschreibungen und Konzepte sowie der Wandel des Gesundheitsbegriffes präsentiert werden. Das Ziel dieser Darlegung besteht darin, der Leserin bzw. dem Leser zu verdeutlichen, dass es sich bei Gesundheit nicht um einen klar definierbaren Status handelt, der anhand festgelegter Kriterien bestimmbar ist. Vielmehr erscheint es sinnvoll, sich in geistiger Flexibilität und erkenntnisoffen der verschiedenen Sichtweisen auf die Gesundheit als variable Konstruktion bewusst zu werden und diese als komplexen Zustand, der einer kontinuierlichen Veränderung unterliegt, zu begreifen. Anschließend wird der Eigenverantwortungsbegriff skizziert, Perspektiven auf die Übernahme gesundheitlicher Eigenverantwortung vorgestellt und final die empirische Forschungslücke im gewählten Themenkomplex aufgezeigt.
In der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Stand Mai 2014 heißt es: „Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“ Die Gesundheitsdefinition des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie fokussiert auf ähnliche Aspekte: „Gesundheit wird als mehrdimensionales Phänomen (seltsames, ungewöhnliches Ereignis) verstanden und reicht über den ‚Zustand der Abwesenheit von Krankheit’ hinaus“ (BMBF, 1997). Beide Begriffsdefinitionen verweisen auf die subjektiven Dimensionen von Gesundheit, die im Hinblick auf zeitliche und kulturelle Bedingungen zudem einem kontinuierlichen Wandel unterliegen (Bloch, 1995). Hurrelmann (2006: 7) schließt sich dem an und definiert Gesundheit als einen „Zustand des Wohlbefindens einer Person, der gegeben ist, wenn diese Person sich körperlich, psychisch und sozial im Einklang mit den jeweils gegebenen inneren und äußeren Lebensbedingungen befindet“. Der objektive und subjektiv empfundene Gesundheitszustand eines Individuums hänge demnach von der Fähigkeit ab, körperliche, seelische und soziale Bereiche in Balance zu bringen. Weiterhin bedinge er sich dadurch, die individuellen Lebensbedingungen mit den gegebenen persönlichen Ressourcen und Zielen in Einklang zu bringen, sodass die Erfüllung von Pflichten und der Genuss von Vergnügen gewährleistet seien (ebd.). Diese Konnotation fasst Freud wie folgt zusammen: „Gesundheit ist die Fähigkeit lieben und arbeiten zu können“ (Freud, o.J. in Waller 2006: 9). Der Medizinsoziologe Talcott Parsons hingegen betont den verpflichtenden Charakter im Sinne einer Erfüllung von Rollen und Aufgaben. Er hält Gesundheit für einen „Zustand optimaler Leistungsfähigkeit eines Individuums, für die wirksame Erfüllung der Rollen und Aufgaben, für die es sozialisiert (…) worden ist“ (Parsons 1951: 431). Laut Parsons (1958: 10) stelle Gesundheit somit eine der funktionalen Vorbedingungen des sozialen Lebens dar. Denn beinahe in allen Definitionen zähle sie zu den funktionalen Bedürfnissen der Gesellschaftsmitglieder, was dazu führe, dass ein zu niedriges Gesundheitsniveau und ein zu häufiges Krankheitsauftreten dysfunktional im Hinblick auf das Funktionieren eines sozialen Systems seien, da Krankheit die Erfüllung sozialer Rollen unmöglich mache.
Eine sehr lebensbejahende Bezeichnung von Gesundheit führt der deutsche Philosoph Hans-Georg Gadamer (1993: 143 f.) an:
„Es liegt ganz unzweifelhaft in der Lebendigkeit unserer Natur, (…) dass Gesundheit sich verbirgt. Trotz aller Verborgenheit kommt sie aber in einer Art Wohlgefühl zutage, und mehr noch darin, dass wir vor lauter Wohlgefühl unternehmungsfreudig, erkenntnisoffen und selbstvergessen sind und selbst Strapazen und Anstrengungen kaum spüren - das ist Gesundheit. (…) Gesundheit ist eben überhaupt nicht ein Sich-Fühlen, sondern ein Da-Sein, In-der-Welt-Sein, Mit-den-Menschen-Sein, von den eigenen Aufgaben des täglichen Lebens tätig oder freudig erfüllt sein.“
Nach Gadamer zeichne sich Gesundheit dadurch aus, dass sie sich verberge, man sich keinerlei Gedanken um sie machen müsse und sich dennoch durch ein bestimmtes Wohlempfinden gesund fühle, sodass die alltäglichen Herausforderungen motiviert angenommen werden können. Eine weitere philosophische Sichtweise auf die Begrifflichkeit Gesundheit bringt Ernst Bloch an. Er weist insbesondere auf den gesellschaftlichen und kulturellen Wandel hin, dem der Begriff unterliegt. Seinem Verständnis nach sei Gesundheit vielmehr ein gesellschaftlicher als medizinischer Begriff.
„Gesundheit wiederherstellen, heißt in Wahrheit den Kranken zu jener Art von Gesundheit bringen, die in der jeweiligen Gesellschaft die jeweils anerkannte ist, ja in der Gesellschaft selbst erst gebildet wurde (...). Gesundheit ist in der kapitalistischen Gesellschaft Erwerbsfähigkeit, unter Griechen war sie Genussfähigkeit, im Mittelalter Glaubensfähigkeit.“ (Bloch 1995: 539)
Der Historiker und Soziologe Alfons Labisch (1992: 12) vertritt die Ansicht, dass alle Deutungen von Gesundheit auf eine vorweggenommene Ordnung verweisen würden. In wissenschaftlichen Untersuchungen über den Gesundheitsbegriff werde deutlich, dass dieser grundsätzlich nicht von Wertvorstellungen zu trennen sei. Die Normalität des Körpers gehe unmerklich in eine Normativität, eine Wertbezogenheit des Körpers über. Er führt weiterhin an: „Gesundheit im allgemeinen Sinn ist (…) eine Normativitätsvorstellung des Körpers (…), die diesen jetzt und zukünftig als organische Grundlage individuellen und sozialen Handelns im Rahmen der dafür vorgegebenen Werte gestaltet und berechenbar zur Verfügung hält“ (ebd.: 16). Laut Labisch (1992: 17) handele es sich bei Gesundheit und Krankheit um inhaltsleere Worthülsen, die sich aus vorgegebenen Blickrichtungen jeweils neu füllen ließen. Er assoziiert mit dem Gesundheitsbegriff somit grundsätzlich Wertvorstellungen und den Übergang eines Normalitätsgedankens des Körpers in eine Normativitätsvorstellung zur Zielerreichung einer inhaltsleeren Worthülse.
Während Parsons (1951) Gesundheit im Zusammenhang mit den Vorbedingungen eines jeden sozialen Systems und der Rollenerfüllung sieht, erkennt Gadamer (1993) darin ein freudiges Erfülltsein von den eigenen Aufgaben des täglichen Lebens und nach Bloch (1995) sei die Tatsache relevant, dass Gesundheit in der jeweiligen Gesellschaft gebildet werde. Die aufgeführten Definitionen erlauben einen ersten Eindruck darüber, welche Vielfältigkeit der Gesundheitsbegriff aufweist und wie sein jeweiliger Sinngehalt durch die Schwerpunktsetzung in der Formulierung durchaus divergent dargestellt werden kann. In diesem Zusammenhang merkt Brunnett (2007: 170) an, dass wissenschaftliche Konzepte, individuelle Gefühle, Erfahrungen und Vorstellungen von Gesundheit nicht natürlich, sondern sozio-kulturell und historisch höchst kontingent seien. Sie schlussfolgert, dass Gesundheit demnach sozial konstruiert werde und dies die Frage aufwerfe, wie sie in den Medien oder der Medizin entworfen wird (ebd.). Jener Frage wird im Verlauf der vorliegenden Ausarbeitung kontextsensitiv nachgegangen.
Eine weitere Erkenntnis liefert Mazumdar (2004), indem er in seinem Artikel über den „Gesundheitsimperativ“ den Paradigmenwechsel des Gesundheitsdiskurses veranschaulicht. In den 80er und 90er Jahren unterlag der Begriff einem Wandel von der reinen Krankheitsabwehr hin zur Vernetzung mit dem Glück und Glücksversprechen. Gesundheit würde demnach nicht mehr ausschließlich im Rahmen medizinischer Expertise entstehen, sondern sei im Zusammenhang mit alltäglicher Lebensqualität, Wohlbefinden und Glück eigens erreichbar vor dem Hintergrund, dass Gesundheit und Genuss miteinander vereinbar seien. Das Phänomen, dass Gesundheit und Glück zunehmend zusammenfließen, führe dazu, dass sich die Beliebtheit und Undefinierbarkeit des Glücksbegriffes auf den der Gesundheit abfärbe und Definitionsversuche von Gesundheit zur zirkulären Herausforderung würden. Bedeutsam erscheint dabei seine Erkenntnis, dass jener schwer definierbare Gesundheitszustand obligatorisch sei: „Gleichgültig, ob man „dafür“ oder „dagegen“ ist, ob man für die eine oder die andere Auffassung von Gesundheit und Krankheit ist: man hat gesund zu sein“ (ebd.: 14, Hervorh. im Original). Auch das Arzt-Patienten-Verhältnis habe sich verändert: beide würden sich nun als gleichberechtigte Subjekte begegnen und der Heilungsprozess durch eine gemeinsame Entscheidungsfindung herbeigeführt. Der pathogenetische und reduktive Gesundheitsbegriff trete in den Hintergrund und schaffe Raum für ein Verständnis von Gesundheit, das durch ein biopolitisches und produktives Wohlbefinden charakterisiert sei, wobei der Wille zur Gesundheit die Konstante in diesem Paradigmenwechsel darstelle. Der Wandel vom pathogenetischen zum salutogenetischen Ansatz impliziere darüber hinaus ein Mehr an Eigenverantwortung, indem Gesundheit keine fixe Konstitution mehr sei, sondern vielmehr einen Prozesscharakter besäße. Es ginge nicht mehr um die Vermeidung von Risikofaktoren, sondern um deren Bewältigung (ebd.: 22). Vor dem Hintergrund einer positiven Gesundheitstheorie handele es sich bei Gesundheit demnach nicht um einen Zustand, sondern um ein „labiles, aktives und sich dynamisch regulierendes Geschehen zwischen den Risikofaktoren und dem...