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Gesundheitswahn? Selbstoptimierung und individueller Zwang als Reaktion auf sozialen Druck zur gesunden Ernährung

AutorCatharina Thelen
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl63 Seiten
ISBN9783668257283
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Bachelorarbeit aus dem Jahr 2016 im Fachbereich Gesundheit - Ernährungswissenschaft, Note: 1,7, Hochschule Osnabrück, Sprache: Deutsch, Abstract: In der vorliegenden Arbeit wird eine Veränderung im Ernährungsverhalten von Menschen behandelt. Das individuelle Ernährungsverhalten von Menschen ändert sich mit Wandel der Kultur und Strukturen in der Gesellschaft, denn Gesellschaft und Individuum bedingen sich wechselseitig. Das Umfeld beeinflusst das Individuum, welches sich wiederum mit seinem Verhalten auf seine Umwelt auswirkt. Durch den Megatrend Gesundheit stellt sich für einige Menschen der Fokus auf gesunde Ernährung. Über die Art und Weise des Ernährungsstils lässt sich ein Status nach außen zeigen und Anerkennung für den Selbstwert erfahren. Wer sein affektives Verhalten nicht unter Kontrolle hat und ungesunde Nahrungsmittel zu sich nimmt, zeigt das unter Umständen öffentlich über die Körperform, welche von der Gesellschaft als undiszipliniert erworben abgetan wird. Bei einigen Menschen veranlasst der gesellschaftliche Druck einen individuellen Zwang, sich gesund ernähren zu müssen, bzw. den Drang dazu, sich im Hinblick auf die gesunde Ernährung selbst zu optimieren. Dabei leisten technische Hilfsmittel, wie die App für Smartphones, Unterstützung bei der Kontrolle des Essverhaltens. Die aufschwingende Fixierung auf gesunde Ernährung birgt allerdings auch Gefahren, sodass Essstörungen begünstigt werden können oder die Besessenheit in das Phänomen Orthorexia nervosa führen kann.

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Leseprobe

2 Wandel der gesellschaftlichen Strukturen


 

2.1 Individualisierte Gesellschaft


 

 Die Entscheidung, was und wie wir essen, wird nicht länger delegiert oder einfach hingenommen wie in Zeiten materieller Knappheit oder in sozial stark hierarchischen Gesellschaften. Es geht seit langer Zeit nicht mehr vordergründig um die Befriedigung lebenswichtiger physiologischer Grundbedürfnisse, sondern vermehrt um Identitätssicherung, soziale Unterscheidung, ästhetischen und sinnlichen Genuss. Der Trend zur Individualisierung ermöglicht auch, sich die jeweiligen Esspartner je nach Situation und Bedürfnis selbst auszusuchen und findet nicht mehr notwendigerweise vor allem am familiären Tisch statt. Der Begriff der Individualisierung beinhaltet die Einzigartigkeit und das Losgelöstsein von gemeinschaftlichen Beziehungen (Abels 2010, S. 18).

 

Wie von dem Soziologen Ulrich Beck Mitte der achtziger Jahre beschrieben, endete die traditionelle Industriegesellschaft mit dem Übergang in eine Gesellschaft, die von immer größeren Risiken geprägt und von einer starken Individualisierung gekennzeichnet ist. Ebenfalls zu beobachten ist bedingt durch die Modernisierung die Veränderung des Wertesystems. Eine zunehmende Säkularisierung, was als Bedeutungsverlust von Religion bezeichnet werden kann, hatte ein Zerbrechen des einheitlich vorgegebenen Wertesystems zur Folge. In dieser Verbindung bewirkte die einsetzende Individualisierung, dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts traditionelle Werte wie Disziplin und Pflichterfüllung vorerst an Bedeutung gewannen. Die Turbulenzen und Belastungen der industriellen Entwicklungen brachten zu dieser Zeit tiefgreifende Veränderungen bis in den Lebensalltag mit sich, weshalb das Festhalten an traditionellen Werten Stabilität bewirkte und Durchhaltevermögen unterstützte. Unter anderem durch den einsetzenden technischen Fortschritt, welcher innovatives Denken fortlaufend voraussetzt, entstand eine zunehmende Auflockerung der traditionellen Werte und führte zu einem Wertewandel (Beck 1986 zitiert in Klages 1984, S. 14).

 

 Der Freisetzungsprozess, den Beck beschreibt, begann mit dem Wirtschaftsaufschwung, welcher der deutschen Bevölkerung mehr Wohlstand brachte. Er hatte zur Folge, dass die Hierarchien zwischen den Klassen und Schichten und auch ihre intern spezifischen Bindungen abebbten. Daraus ergab sich zunehmend der Verlust ihrer „traditionellen Prägekräfte“ (ebd.). Ebendiese versprachen Sicherheiten, deren Zerfall Unbestimmtheit mit sich brachte (ebd.). Das Individuum wurde zunehmend aus lebensbestimmenden Determinanten losgelöst. Früher verblieb der Mensch in der sozialen Schicht seiner Herkunft, wohingegen das einzelne Individuum heute frei darüber bestimmt, wie es seinen eigenen Lebenslauf gestaltet (Beck 1986, zitiert in Reitmeier 2013, S. 42).

 

Von Max Weber wird der Begriff der Entzauberung in den Verlauf der Individualisierung eingefügt (Abels 2010, S. 235). Darunter ist zu verstehen, dass verbindliche Sinnsysteme nicht mehr vorherrschen, auf die alle Bezug nehmen. Seit dem zwanzigsten Jahrhundert wurden die Menschen hauptsächlich über Medien darüber aufgeklärt, dass kein Wert und keine Norm besser oder schlechter ist als ein anderer. Die so genannte „Entzauberung der Welt“ (Weber 1904 zitiert in Abels 2010, S. 103), wie Weber sie betitelt, beinhaltet ebenso, dass ein naives Vertrauen auf einen festen Sinn nicht mehr möglich ist und Gewissheiten schwinden. Sie werden durch die Freisetzung des Individuums zu eigenen Entscheidungen, ersetzt und selbst konstruiert. Ein einzig wahrer Leitfaden, an den es sich zu halten gilt, wird vom individuellen Sinn des Lebens substituiert (Abels 2010, S. 235 f.).

 

 Freigesetzt von Klasse sowie Familie kann und muss das Individuum aus den unbeschränkten Möglichkeiten nun sein eigenes Leben formen, wodurch es zur Pluralisierung der Lebensformen kommt. Begleitet von der neuen Freiheit ergibt sich für Beck ambivalent dazu die zwingende Notwendigkeit, sich zu entscheiden, wobei die freie Entscheidung in Abhängigkeit mit der Verantwortung des Entscheidungsträgers steht (Beck 1986, zitiert in Reitmeier 2013, S. 181).

 

 Neben der These der Entzauberung spricht Beck von einer „neuen sozialen Einbindung“ des Individuums (Beck 1986, zitiert in Abels 2010, S. 213). Aus seiner individuellen Lage heraus sollen Entscheidungen für sein eigenes Leben getroffen werden, wobei die Erwartungen des Umfeldes mit einbezogen werden sollen, die eine bestimmte Richtung vorgeben. Es breitet sich Druck auf Privates sowie Öffentliches aus, erzeugt von Moden und Konjunkturen, von Institutionen und Standards. Beck nennt diesen neuen Modus der Vergesellschaftung Re-Integration und Kontrolle. Für Beck besteht ein Zusammenhang von Freisetzung und Standardisierung. Die Herauslösung aus traditionellen Lebenszusammenhängen geht einher mit einer Vereinheitlichung und Standardisierung der Existenzformen (ebd.).

 

Zusammengefasst beschreibt Beck, dass im Laufe der Individualisierung ein Sinnverlust für das individuelle Leben eintritt. Auf der eigenständigen Suche nach dem Sinn des Lebens, gehen dem Individuum unter der Entzauberung der feste Halt und der Zweck verloren. Die folgende Freigabe eröffnet letztendlich die Aufgabe, gemeinschaftliche Beziehungen selbst herzustellen. Die zunehmende Institutionalisierung nimmt richtungsweisenden Einfluss auf das Individuum und kontrolliert auch seine Vorstellungen von Freiheit. Nach dieser These liegt bei den ununterbrochenen Entscheidungen, die das Individuum zu treffen hat, die Schwierigkeit vor, einen sozialen Konsens des Richtigen oder Vernünftigen mit einzubeziehen. Die Schwierigkeit kommt daher, weil die Entscheidungen durch Sachzwänge präformiert und die Folgen des Handelns nicht eindeutig sind (Abels 2010, S. 237).

 

Das In-Einklang-Bringen zwischen den Wünschen und Bedürfnissen sowie den eigenen Fähigkeiten und der Umwelt ist vor allem eine psychische Herausforderung, die es zu bewältigen gilt. Die Konsequenz daraus ist, laut Beck, eine immer größer werdende Verunsicherung und eine dauernde Vergewisserung, auf dem richtigen Weg zu sein (Reitmeier 2013, S. 181).

 

 Insbesondere in der Adoleszenzphase, in der der Mensch sich noch selbst zu finden versucht, verspürt er das Bedürfnis nach Vorgaben, die ihm Sicherheiten versprechen. Die wechselseitige Vergewisserung über ein geteiltes Verständnis von Regeln, Normen und der Wirklichkeit schlechthin geschieht während der Jugendphase innerhalb gleichaltriger Gruppen, auch Peer Groups oder Peer-Gruppen genannt (Reitmeier 2013, S. 176). Sie dienen als bedeutungsvolle Instanz der Orientierung und stellen somit eine wichtige Ressource für die Subjektbildung dar. Vor allem, weil der Heranwachsende einen körperlichen Umstellungsprozess mitmacht, findet in diesem Alter auch die Internalisierung von Idealen körperlicher Attraktivität statt, ebenso verbunden mit der Unsicherheit, dieses Ideal überhaupt erfüllen zu können. Das stark ausgeprägte Vergleichsverhalten unter Jugendlichen kann letztendlich zur Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper führen und somit die Anfälligkeit für gestörtes Essverhalten erhöhen (Reitmeier 2013, S. 181).

 

Neben dem Konkurrenzverhalten, kann ein kollektiv gewählter Ernährungsstil eine Quelle für das Selbstwert- und Identitätskonzept herbeiführen, um sich von anderen abzugrenzen wie auch eine gemeinschaftliche Stärke zu verspüren. Das Streben nach Autonomie und Selbstverwirklichung, das Finden der eigenen Persönlichkeit und die Orientierung in einer vorgegebenen Welt sind prägende Erfahrungen, denen sich ein Individuum stellen muss, um sich in einer individualisierten Welt einen Platz zu verschaffen (Rose 2009, S. 287).

 

2.2 Wertewandel


 

Möchte man betrachten, inwieweit Verhaltensweisen und Entscheidungen im Bereich der Ernährung gebildet werden, ist es hilfreich aus der vielschichtigen Dimension der beeinflussenden Faktoren zu untersuchen, wie und welche Werte und Leitbilder den Menschen dabei prägen. Dabei geraten vordergründig junge Erwachsene in den Blick, da sie in ihrem Verhalten noch nicht so stark manifestiert sind.

 

Werte stehen im Fokus, denn an ihnen orientieren sich Handlungen von jungen Menschen, während sie in der Phase der Jugendzeit nach Orientierung suchen und ihre Zukunft planen. Alte Werte bzw. die Werte der Alten werden kritisch hinterfragt und auf eine mögliche Übernahme geprüft (Gille et al. 2006, S. 32). Darunter kann auch die Kritik an hohem Fleischverzehr verstanden werden, der für die alte durch eine Lebensmittelknappheit nach dem zweiten Weltkrieg geprägte Generation, ein Produkt des Wohlstandes darstellte. Für die jüngere Generation wird im Gegensatz dazu, unter bspw. ethischen Gesichtspunkten, Fleisch als eher minderwertiges Produkt angesehen. Denn sie ist mit einem hohen Angebot an Fleischwaren aufgewachsen (vgl. Reitmeier 2013, S. 231).

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