Die nachfolgend vorgestellten Theorien zu den Bedingungen menschlicher Aggression/Aggressivität bieten eine umfassende Übersicht zu bestehenden theoretischen Erklärungsansätzen. Annahmen und Erläuterungen zur Entstehung von Aggression und Gewalt vermitteln Grundlagenwissen dazu, welchen Einfluss Erfahrungen und Faktoren im Heranwachsen auf Auftreten sowie Art und Ausprägung menschlicher Aggression nehmen. Aggressions- und Gewaltforschung wird in verschiedensten Wissenschaftsbereichen betrieben und ist somit sehr umfangreich. Daher werden nachfolgend nur diejenigen Ansätze vorgestellt, die in engem Zusammenhang mit dem Thema Gewalt in der Schule stehen.
SIGMUND FREUD und KONRAD LORENZ vertreten als Begründer der Triebtheorie die Annahme, dass ein gewisses Aggressionspotential einem jeden Lebewesen angeboren ist. Aggressionen sind im Menschen entstehende Impulse, deren Entladung zu einer kurzfristigen Aggressionsverminderung führt.
FREUD geht von zwei dualistischen Grundtrieben im Menschen aus, die beide im „Es“, welches ererbt ist, angesiedelt sind. Das „Es“ dient der Bedürfnisbefriedigung des Individuums, welches mit diesen Kräften bzw. Trieben sein Überleben absichert. Die Grundtriebe nennt FREUD (vgl. FREUD, 1972, S. 12) „Libido“ (Eros) und „Destruktionstrieb/Todestrieb“ (Thanatos), die beide gegeneinander wirken. Vermittelnd zwischen „Es“ und dem entstehenden „Über-Ich“ wirkt nach FREUD das „Ich“.
Der Eros lenkt über das Muskelsystem den als Aggressionstrieb in Erscheinung tretenden Destruktionstrieb ab. Geschähe dies nicht, würde der Aggressionstrieb seine selbstzerstörerische Kraft entwickeln.
FREUD schreibt:
„Zurückhaltung von Aggression ist überhaupt ungesund, wirkt krankmachend.“ (FREUD, 1972, S. 13)
So bewahrt sich der Mensch das eigene Leben dadurch, dass er fremdes Leben zerstört. FREUD äußert sich nicht konkret zu Möglichkeiten der Aggressionsminderung, hofft aber, dass der Eros und damit auch Gefühlsbindungen „dem Krieg entgegenwirken“ (FREUD, in: NOLTING, 2002, S. 55).
Die im „Über-Ich“ verfestigten kulturellen Normen bleiben somit die entscheidende Instanz zur Eindämmung aggressiver Verhaltensweisen.
Bewertung: Der wichtigste Kritikpunkt an FREUDs Theorie ist, dass sie immer wieder als Legitimation für schädigendes Abreagieren von Aggressionen herangezogen wird. Angeblich sei aggressives Verhalten genetisch determiniert und würde damit nach FREUDs Ansatz auch weniger kritisch betrachtet werden. Biologisch gesehen ist ein Todestrieb nicht nachvollziehbar und konnte bis heute auch nicht empirisch belegt werden.
Mit KONRAD LORENZ ist der zweite berühmte Vertreter der Triebtheorie in der Ethologie, der Vergleichenden Verhaltensforschung, zu finden (neben dem in der Einleitung zitierten EIBL-EIBESFELDT). In LORENZ‘ 1963 erstmalig erschienener Publikation „Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression“ beschreibt er, anders als FREUD, den Aggressionstrieb als einen von vier nicht-reaktiven Trieben. LORENZ Lehre lässt sich mit dem Modell eines Dampfkessels vergleichen. Er geht davon aus, dass sich Aggressionen permanent neu bilden und nach entsprechenden Reizen in aggressiven Handlungen entladen. Bleiben die spezifischen, von außen kommenden Reize aus, so kommt es zu Leerlaufhandlungen. Aggressionen, die LORENZ als den „auf den Artgenossen gerichteten Kampftrieb von Mensch und Tier“ (LORENZ, 1963, S. IX) definiert und damit zwischenartliche Angriffe ausschließt, erwachsen aus einem Individuum ohne Einflussnahme von außen heraus; ebenso verhält es sich mit dem aggressiven Verhalten. LORENZ führte seine zu diesen Schlüssen führenden Beobachtungen an verschiedensten Tierarten durch und zog anschließend Analogien zum menschlichen Verhalten. Mensch und Tier wohnt eine instinktive innerartliche Tötungshemmung inne, welche die völlige Artausrottung verhindert. Der Mensch zerstörte bereits mit der Erfindung des Faustkeils, mit dem ein schnelles Töten eines Artgenossen möglich ist, das gegebene Gleichgewicht zwischen Aggressionstrieb und Tötungshemmung.
„Gleiches gilt in unvergleichlich höherem Maße für die modernen Fernwaffen, bei deren Gebrauch wir gegen alle hemmungs-auslösenden, mitleiderregenden Reizsituationen weitgehend abgeschirmt sind. […] Mit Zunahme der Entfernung, auf die unsere Waffen wirken, wächst leider auch die Abschirmung unserer Gefühle gegen alle sinnfälligen Folgen unseres Tuns.“ (LORENZ, 1963, S. 339)
LORENZ schreibt dem Aggressionsabbau jedoch eine kathartische, gesunderhaltende Wirkung zu und nennt Sport als Sonderform des Kampfes als ein gutes Mittel, um „sozietäts-schädigende Wirkungen“ der Aggression zu verhindern und zeitgleich die arterhaltende Wirkung zu erhalten (LORENZ, 1963, S. 373).
Bewertung: Ein Revierverhalten einiger Tierarten lässt keine Rückschlüsse über Aggressionen der menschlichen Spezies zu und ersetzt zudem noch empirische Belege zu einem eventuellen Aggressionstrieb des Menschen. Entgegengesetzt zu FREUDs Todestrieb entsteht bei LORENZ Aggression durch den Drang nach Arterhaltung. Der Aggressionstrieb erreiche eine gleichmäßige Verteilung der Individuen einer Art über ihren Lebensraum und sorge so dafür, dass sie erhalten bliebe. LORENZ erwähnt nicht, dass andere Tierarten dieses auch ohne aggressives Verhalten schaffen. LORENZ‘ Lehre besagt, dass der Aggressionstrieb des Menschen Entlastung finden müsse, weil die sich anstauenden Aggressionen zu Leerlaufhandlungen führen. Belegt wird dies am Menschen unzureichend an seiner „verwitweten Tante“, deren anstauende Aggressionen sich alle acht bis zehn Monate im Kündigen des jeweiligen Dienstmädchens entladen würden (vgl. LORENZ, 1963, S. 85). Abschreckend zu lesen ist LORENZ Aussage nach der es innerartliche Aggression ohne Liebe gäbe, aber „keine Liebe ohne Aggression“ (vgl. LORENZ, 1963, S. 306). LORENZ erweckt in seinem Werk einen wissenschaftlichen Anschein, arbeitet aber mit Suggestivformulierungen. Seinen Erfolg verdankt LORENZ vor allem der guten Lesbarkeit und der einleuchtenden, mit Tiergeschichten anschaulich dargestellten Hypothesen.
SELG (SELG, 1982, S. 52) ist entsetzt über LORENZ‘ Aussage, nach der lachende Menschen nicht schießen würden. SELG fordert:
„Es ist wichtig, daß die Triebtheorie von LORENZ keinen Eingang in den pädagogischen und politischen Alltag findet.“ (SELG, 1982, S. 53).
Beiden Triebtheorien ist gemein, dass sie Verhalten beobachten und benennen, um es anschließend einem Aggressions- oder Destruktionstrieb zuzuordnen. Aggressives Verhalten führt häufig zum Erfolg und ist darum überall auf der Welt zu finden – was jedoch nicht den Gegenschluss zulässt, dass Aggressionen ein Trieb zu Grunde liegen müsse. Da Tiere und Menschen bei guten Umweltbedingungen über eine lange Zeit friedlich zusammenleben können, ist die Rückführung von Aggressionen auf Triebe nicht sinnvoll.
Die Beschäftigung mit der Triebtheorie kann für Schule nützlich sein. Bewegungsmangel führt häufig dazu, dass sich eine durch andere Faktoren entstandene Gewaltbereitschaft verstärkt. Werden gezielte Bewegungselemente in den Schulalltag eingebaut, so können sich physische und psychische Spannungen positiv ableiten. Unterricht wird bereits so geplant, dass sich Phasen mit verschieden gelagerter Belastung abwechseln.
Häufig werden negative Erfahrungen als Auslöser für aggressives Verhalten genannt. MARX begründete 1948 damit in seinem „Kommunistischen Manifest“ den Kampf der Arbeiter gegen die „Unterdrücker“. FREUDS frühe Lehre beinhaltete ebenso die Frustration (durch Nichtbefriedigung sexueller Impulse), welche Aggression bewirke. Diese Annahme nahm die Yaler-Forschergruppe um DOLLARD, DOOB, MILLER, MOWRER und SEARS auf und veröffentlichte 1939 in ihrer Monographie „Frustration and Aggression“ ihre klassische Frustrations-Aggressions-Hypothese. Sie beinhaltet als Basis der Theorie in ihrer strengen Form folgende Postulate:
„Aggression ist immer die Folge einer Frustration. Spezifischer: das Auftreten von aggressivem Verhalten setzt immer die Existenz einer vorangegangenen Frustration voraus,“
„und umgekehrt führt die Existenz einer Frustration immer zu irgendeiner Form von Aggression.“ (DOLLARD et al., 1971, S.9)
MILLER distanzierte sich schon kurz nach der Veröffentlichung vom zweiten der genannten Postulate. Er schlug als differenzierte Betrachtung die Annahme vor, nach der Frustration Anreize zu einer Anzahl verschiedener Formen von Verhaltensweisen schaffe, von denen eine irgendeine Form von Aggression sei. In diese Richtung erweiterte auch SEARS seine Meinung, dass Aggression zwar eine häufige Reaktion auf Aggression sei, die Neigung dazu sich aber durch Lernprozesse mindern oder hemmen lasse (vgl. MILLER/SEARS; 1941; in VERRES/SOBEZ, 1980, S. 83).
Um diese Hypothese zu überprüfen ist es notwendig, den Begriff Frustration zu klären. DOLLARD et al. legen sich nicht fest...