EINE GESCHICHTE DES ERFOLGS
„‚Liest du gerne Bücher, Bran?‘, fragte Jojen ihn. ‚Manche Bücher. Geschichten, in denen gekämpft wird, mag ich. Meine Schwester Sansa mag Geschichten, in denen geküsst wird, aber die sind dumm.‘
‚Ein Leser durchlebt Tausende Leben, ehe er stirbt‘, sagte Jojen. ‚Der Mann, der nie liest, lebt nur sein eigenes.‘“3
George R. R. Martin aus Santa Fe, New Mexico, ist ein Nerd, wie er im Buche steht: Der korpulente Mann mit dem zauseligen Bart und dem Kassengestell auf der Nase spielt gerne Fantasyrollenspiele, liebt Fast Food und Comics. Er ist Fan der Fernsehserie „Battlestar Galactica“, fiebert aber auch mit, wenn sein geliebtes American-Football-Team, die New York Giants, auf dem Platz steht. Schon während seiner Jugend entdeckt Martin außerdem seine Liebe fürs Schreiben. Und er hat Talent: Seine Science-Fiction-Kurzgeschichten kommen gut an und mit 29 Jahren veröffentlicht er schließlich sogar seinen ersten Roman. Da er selbst ein begeisterter Leser von Fantasyautoren wie J. R. R. Tolkien („Der Herr der Ringe“) und Tad Williams („Der Drachenbeinthron“) ist, beschließt er Anfang der 90er-Jahre, selbst einen Ausflug in das Fantasygenre zu wagen. Und so beginnt er, eine eigene epische Geschichte in einer phantastischen Welt zu kreieren. Doch anders als die Erzählungen seiner literarischen Vorbilder entwickelt Martin ein düsteres Opus voller Sex und Gewalt, in dem fast alle Charaktere ums Überleben kämpfen. Martin beschreibt mit unglaublichem Realismus eine mittelalterlich anmutende Welt mit komplexen Charakteren und einer Vielschichtigkeit, die der realen englischen Geschichtsschreibung in nichts nachsteht (und sogar von ihr inspiriert wurde), vor allem der der englischen Rosenkriege mit ihren unzähligen Königen, Adelshäusern und Intrigen. Sein Roman über Politik, Krieg und Intrigen kam 1996 unter dem Titel „A Game of Thrones“ in die amerikanischen Buchhandlungen und schlug ein wie eine Bombe. Die Geschichte zog Abertausende von Lesern in ihren Bann. Schon bald galt das Buch sowohl unter Fans als auch unter Kritikern als Meilenstein der modernen Fantasy.
Aber worum geht es eigentlich? Dunkelheit zieht über den Kontinent Westeros herein, der Wintereinbruch steht bevor. Was bei uns nur ein müdes Gähnen hervorgerufen hätte, kommt in Westeros einer mittleren Katastrophe gleich, denn dort dauert so ein Winter gut und gerne mal ein paar Jahrzehnte. Als dann auch noch der engste Vertraute des Königs auf mysteriöse Weise stirbt, wird Lord Eddard Stark in die Hauptstadt Königsmund gerufen, um dessen Nachfolge anzutreten. Doch am Hofe des schwachen Königs Robert Baratheon scharen sich Intriganten und Verräter. Währenddessen plant in einem fernen Steppenland Exil-Prinz Viserys Targaryen, seine Ansprüche auf den Eisernen Thron der Sieben Königreiche geltend zu machen. Er verheiratet seine 13-jährige Schwester Daenerys mit einem Stammesfürsten, um die Befehlsgewalt über dessen gewaltige Armee zu erhalten, die ihm bei der Rückeroberung der Krone helfen soll. Und schon bald wird klar: In Westeros geht’s hart zur Sache. Im Mittelpunkt der Handlung steht das politische Ränkespiel zwischen Königen, Fürsten und ihren Handlangern. Gewalt und Verrat stehen an der Tagesordnung. Das ist nichts für zarte Gemüter, denn Martin schreckt auch nicht davor zurück, seine Hauptcharaktere völlig unerwartet und meistens grausam über die Klinge springen zu lassen. „George R. R. Martin ist absolut kein Märchenonkel, der wohlige Geschichten am Kaminfeuer erzählt“, warnte die Nürnberger Zeitung4. Leser, die auf Einhörner, Feenwälder und Glitzermagie gehofft hatten, blieben zumeist verstört zurück. Und einige verliehen ihrer Wut Ausdruck, indem sie George R. R. Martin in Foren oder Online-Rezensionen als „perversen Opa“ beschimpften und sein Werk als „widerlich“ bezeichneten. Ein Amazon.de-Rezensent urteilte sogar: „Meines Erachtens gehört dieses gewaltverherrlichende und mit pädophilen Tendenzen durchsetzte Machwerk zum Schlimmsten, was je in diesem Genre geschrieben wurde.“
Aber die begeisterten Stimmen überwogen stets. Für die Genrefans bot diese Geschichte so viel mehr als all die anderen Fantasyromane, mit denen der Markt mittlerweile regelrecht überschwemmt ist. In erster Linie waren es die Qualität der Schilderung und die Komplexität der Figuren, die viele Leser faszinierten. Während sich andere Fantasyautoren noch am Monomythos mit drei Akten, Guten und Bösen und klar verteilten Rollen die Zähne ausbissen, so wie es der Mythenforscher Joseph Campbell als klassische Heldenreise definierte, war George R. R. Martin schon längst über dieses konservative Konzept hinaus und setzte von Anfang an auf Realismus. Statt schwarz und weiß waren Martins Charaktere grau angelegt. Und wer zunächst als Bösewicht erschien, konnte aus einer anderen Perspektive durchaus zum Helden mutieren. Die Akteure bei George R. R. Martin werden durch bestimmte Motivationen zu ihren Taten angetrieben, und ob dies dann gut oder böse ist, hängt hauptsächlich vom Standpunkt ab. Aber auch der wechselt von Kapitel zu Kapitel. Damit erreichte George R. R. Martin eine Komplexität, die einen ungeheuren Sog auf den Leser ausübt, so wie man es bei Fantasyromanen zuvor selten erlebt hatte. Bei Martin ging es nicht um das effektvolle Abfackeln hohler Magie-Effekte, sondern von Anfang an standen die Figuren im Vordergrund. „Das Lied von Eis und Feuer“ lebt von den geschliffenen Dialogen und von der Ambivalenz der Helden. Es gibt keine klar verteilten Rollen. Und so kann es passieren, dass man als Leser plötzlich mit einem vermeintlichen Bösewicht sympathisiert oder die Motive eines Mörders nachvollziehen oder zumindest verstehen kann. Dabei wird man das ein ums andere Mal vom Autor hinters Licht geführt. Immer wieder legt George R. R. Martin falsche Fährten aus und immer, wenn man meint, etwas verstanden zu haben, ist plötzlich alles ganz anders.
Nach und nach erschienen weitere Bände. Doch der Weg war steinig, denn zwischenzeitlich sah es so aus, als würde das monumentale Ausmaß des Epos dem Autor selbst über den Kopf wachsen. Die Wartezeiten auf die Fortsetzungsbände zogen sich immer weiter in die Länge und stellten die Fans auf eine harte Probe. Als 2005 der vierte englische Band bereits fünf Jahre auf sich warten ließ, machten sich regelrechte Entzugserscheinungen bei den Lesern bemerkbar. Ihre Forderungen wurden lauter und vehementer. Einige begannen Martin sogar persönlich zu beleidigen. Schließlich war es Autorenkollege Neil Gaiman („Der Sternwanderer“), der die Fans in einem offenen Brief unter dem Titel „George R. R. Martin is not your bitch“ zur Räson rief und darauf hinwies, dass der Autor kein Schreibroboter, sondern ein Mensch sei. Mittlerweile genießt ein Song mit diesem Titel Kultstatus im Internet.
Schon bald nach der Veröffentlichung entdeckten die amerikanischen Literaturkritiker das Buch. Und anders als in Deutschland, wo Fantasy im Feuilleton anscheinend kategorisch abgelehnt wird, wurde es in renommierten Zeitungen wie der New York Times gelobt. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten, schon bald tauchte „Game of Thrones“ auf den Bestsellerlisten auf. Der Roman lieferte bis dato nie gekannte Unterhaltungswerte, verlangte im Gegenzug aber auch eine gewisse Aufmerksamkeit. Die Leser mussten sich auf die Geschichte und vor allem die Dutzende Charaktere einlassen. Oft half nur noch der Blick in den Anhang, um einen groben Überblick über all die Personen und ihre Adelshäuser zu behalten.
Einige Literaturkritiker ließen sich reflexartig zu Vergleichen mit J. R. R. Tolkien hinreißen, mit dem Martin aber bis auf das Genre und den Grad der Komplexität gar nicht so viel gemeinsam hat, wie mancher glaubt. Martins Werk ist vielmehr eine Historien-Imitation, ein künstliches Geschichtswerk in einer Fantasywelt, die dem mittelalterlichen Großbritannien nicht unähnlich ist. Dies steht im Gegensatz zu Tolkiens Werk, das vom Autor im Sinne eines klassischen Mythos angelegt war. Das Einzige, was das „Lied von Eis und Feuer“ zu Beginn mit dem „Herrn der Ringe“ wirklich gemeinsam hatte, war die Tatsache, dass es zunächst als Trilogie geplant war. Daraus wurden dann aber schnell fünf und schließlich sieben Bücher (bzw. in Deutschland entsprechend 14 Bände).
Lange Zeit waren Tolkiens Epos „Der Herr der Ringe“ und der damit verbundene Aufbau einer solchen Welt maßgebend für viele andere Fantasyautoren. Die Archetypen aus Tolkiens Geschichten haben sich bis heute in Romanen und Rollenspielen durchgesetzt. Die Helden sind stets Elfenkrieger, Waldläufer oder mutige Halblinge, und auf der anderen Seite steht der fiese Zauberer-Dämon, der das Ziel hat, die gesamte Welt zu unterjochen, was eindeutig einer bösen Absicht entspricht. Elben, Zwerge, Orks, die klare Gesinnungen haben; Gut gegen Böse. Zwar gibt es auch bei J. R. R. Tolkien ambivalente Charaktere, die in ihrer Gesinnung eher grau gezeichnet sind,...