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Gierige Institutionen

Soziologische Studien über totales Engagement

AutorLewis A. Coser
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl230 Seiten
ISBN9783518738467
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR


<p>Lewis A. Coser (1913-2003) wurde in Berlin geboren, emigrierte 1933 zuerst nach Frankreich und schlie&szlig;lich in die USA, wo er zu einem der Begr&uuml;nder der Konfliktsoziologie wurde.</p>

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Leseprobe

2. Die politischen Funktionen des Eunuchentums


Eunuchen waren in den meisten klassischen Reichen des Fernen und Nahen Ostens bedeutende Instrumente der kaiserlichen Herrschaft. In China und Byzanz ebenso wie insbesondere in den arabischen, mesopotamischen und persischen Reichen hatten Eunuchen verschiedenste Positionen am Hofe, in der Regierung oder in der Armee inne. Im Persien nach Xerxes »hatten die Eunuchen eine weitreichende politische Autorität erlangt und schienen dann alle wichtigen Staatsämter zu besetzen. Sie waren die Berater des Königs im Palast und seine Generäle im Feld. Sie überwachten die Erziehung der jungen Prinzen und fanden es leicht, diese zu ihren Werkzeugen zu machen.«[1] Im China der Ming-Dynastie entstanden »[a]m Hof […] ganze Eunuchenbureaux, die bald auch für vertrauliche Aufgaben des Kaisers außerhalb des Palastes benutzt wurden«.[2] Sie lenkten Heere und kontrollierten manchmal die Bürokratie, sodass Berater mit dem Kaiser nur über die Eunuchen als Vermittler kommunizieren konnten.[3]

In der früheren Han Dynastie »[i]m Zentrum des Regierungssystems sitzend, erlangten sie bald die vollständige Kontrolle über den Staatsdienst […]«.[4] Tatsächlich war die Anstellung von Eunuchen in Spitzenpositionen in den Monarchien des Nahen Ostens so häufig, dass der Begriff Eunuch manchmal – wie etwa im Hebräischen – seine ursprüngliche Bedeutung verlor und als Synonym für Hofbeamte oder Minister benutzt wurde, unabhängig davon, ob diese Männer wirklich Eunuchen waren oder nicht.[5]

Dieses Kapitel wird eine grundlegende Erklärung des offensichtlich überraschenden Umstands versuchen, dass Männer, die nicht ganz vollständige Männer waren, im Wesentlichen ähnliche politische Funktionen in verschiedenen kulturellen Zusammenhängen ausübten. Ähnliche strukturelle Notwendigkeiten führten – wie ich zu zeigen versuche – zum Rückgriff auf das politische Eunuchentum.

Das Eunuchentum geht auf das Bedürfnis der Herrscher mit großen Harems zurück, verlässliche Haremswächter zu haben, die nicht in Versuchung geführt werden konnten, ihre Herren zu hintergehen. Aber der Ursprung erklärt nicht, warum Eunuchen als bevorzugte Instrumente der Herrschaft benutzt wurden. Wie wir seit Durkheim wissen, erklärt der Ursprung eines Phänomens nicht seinen Fortbestand oder seine Veränderungen.[6] In Byzanz, wo es den Harem als Institution nicht gab, war den Eunuchen »kein noch so hohes kirchliches oder weltliches Amt – mit der einzigen Ausnahme des Kaiseramtes selbst – […] grundsätzlich verschlossen, und mehrere Staatsmänner und Feldherren, die sich in der byzantinischen Geschichte ausgezeichnet haben, wie auch mehrere Patriarchen, waren Eunuchen.«[7] Obwohl das Eunuchentum aufgrund des Bedarfs an Haremswächtern entstand, verbreitete es sich in Gebieten ohne Harems, weil es für die Herrscher von Imperien Funktionen erfüllte, die jene ursprünglichen weit überstiegen.

Das politische Eunuchentum florierte unter dem orientalischen Despotismus, wo die bürokratische oder protobürokratische Herrschaft bereits entwickelt, aber starke patrimoniale Elemente noch immer gängig waren. In solchen Systemen wollte der Herrscher seine Abhängigkeit von der Bürokratie verringern, deren unpersönliche Standards als Mittel persönlicher Herrschaft nicht geschmeidig genug waren. Er brauchte daher Männer, die ihm vollkommene Gefolgschaft schuldeten. Die Spannung zwischen dem Bedürfnis, sich im Interesse der Zentralisierung auf die Bürokratie stützen zu können, und dem Bedürfnis nach persönlichem Gehorsam und persönlicher Abhängigkeit führte zur Schaffung einer neuen Rolle, jener des politischen Eunuchen.

Eunuchen wurden typischerweise die Jungen, die im Zuge von Sklaven-Raubzügen oder anderen militärischen Operationen gefangen genommen wurden, oder es handelte sich um Jungen, die von Bauern an den Hof verkauft wurden. (Neben Knaben, die in ihrer Jugend kastriert wurden, bediente man sich auch manchmal der Männer, die zur Strafe als Erwachsene kastriert worden waren.) Waren sie einmal in den sozialen Kreis des Hofes aufgenommen worden, verloren diese Eunuchen üblicherweise den Kontakt zu ihren Familien und ihrem Herkunftsort. Sie waren – buchstäblich oder im übertragenen Sinne – Fremde.[8]

Nachdem ihre Bindungen zu Angehörigen und territorialen Einheiten gekappt und sie von den Bindungen zu ihren Herkunftsfamilien »befreit« wurden und unfähig waren, eigene Kinder zu zeugen, waren die Eunuchen für eine Reihe politischer Aufgaben ideal geeignet, da sie vom Herrscher auf eine Art abhängig waren, wie es kein Mann mit konkurrierenden familialen und territorialen Loyalitäten hätte sein können. Xenophon drückte die Sache mit dem ihm eigenen Scharfsinn aus, als er über Cyrus schrieb:

Und weil ihm bekannt war, daß die Menschen nicht leichter überwältigt werden könnten, als bey Tafel und Trunk, im Bad, Bette und im Schlaf, so sah er sich nach treuen Leuten zu seiner Leibwacht um. Er glaubte, daß kein Mensch treu seyn könnte, der einen anderen mehr, als den liebte, der seines Schutzes bedarf. Er wußte, daß diejenigen, die Kinder, verträgliche Weiber, oder Liebhaber haben, von Natur getrieben werden, sie über alles zu lieben. Nach seinem Urtheil mußten die Eunuchen, die alles das entbehrten, diejenigen über alles werth schätzen, die sie vornehmlich reich machen, gegen Unrecht schützen und sie mit Ehren überhäufen könnten.[9]

Mittelalterliche Herrscher benutzten den zölibatären Klerus nicht nur wegen seiner Bildung und seinem Wissen, sondern weil Männer ohne eigenen Nachwuchs sich vollständiger in den Dienst ihres Herren stellen konnten als Männer, deren Loyalitäten für gewöhnlich zwischen ihren Familien und ihren politischen Herren aufgeteilt waren. Doch die Loyalität zur Kirche kam der Treue zum König oft in die Quere, wie die Tragödien von Becket und More bezeugen. Außerdem hatte der Priester oder Mönch zwar keinen Nachwuchs, aber doch eine Herkunftsfamilie und andere Angehörige, die ihn davon abhielten, ausschließlich seinen politischen Herren zu gehorchen. Geographische Entfernung des Klerikers von seiner Heimatregion konnte solche Bindungen verringern, was auch für weltliche Amtsinhaber galt. Nichtsdestotrotz war diesen Amtsträgern auch bei vorübergehender Entwurzelung bewusst, dass sie irgendwo Wurzeln hatten. Im Gegensatz dazu waren die Eunuchen schlichtweg allein. »Da sie sozial wurzellos waren, verdankten sie alles, was sie hatten und waren, ihrem Herrscher; und ihre hündische Ergebenheit gegen ihn ergab sich […] folgerichtig aus ihrer Stellung […].«[10] Der Eunuch hatte nicht nur keine territorialen oder familiären Bindungen, er war außerdem ein Ziel von Spott und Geringschätzung. Daher war es für ihn wichtiger, vom Herrscher geschätzt, anerkannt und beschützt zu werden. Da er keine andere Bezugsgruppe hatte, wurden der Herrscher (und sein Hof) für ihn zum einzigen Bezugspunkt, zur einzigen Schutzmacht, zur wichtigsten Quelle der Wiedergutmachung. Um erneut Xenophon zu zitieren: »[…] da die Eunuchen keinen Werth in den Augen anderer Menschen haben, [brauchen] sie eben deshalb einen Herren […], der sich ihrer annimmt.«[11]

Was Georg Simmel über den Fremden sagte, trifft mit besonderem Nachdruck auf den Eunuchen zu: »Weil er nicht von der Wurzel her für die singulären Bestandteile oder die einseitigen Tendenzen der Gruppe festgelegt ist, steht er allen diesen mit der besonderen Attitüde des ›Objektiven‹ gegenüber, […] während sich das Verhältnis zu den organischer Verbundenen auf der Gleichheit von spezifischen Differenzen gegen das bloß Allgemeine aufbaut.«[12] Die eigentliche Absonderung des Eunuchen-Fremden von allen Gruppenbindungen bewirkt seine »Objektivität« gegenüber allen Untertanen und umgekehrt seine Nähe zum Herrscher. Er ist daher ein ideales Instrument der Subjektivität des Herrschers.[13]

Bürokratische Amtsinhaber standen den Eunuchen naheliegenderweise äußerst misstrauisch gegenüber, weil das Eunuchensystem die Betonung der Rationalität und des disziplinierten und methodischen Handelns negierte, also das eigentliche Wesen des qualifizierten Beamtenapparats. Die Eunuchen waren an keine Regel gebunden, und sie konnten nicht von bürokratischen Vorgesetzten in die Schranken gewiesen werden. Daher herrschte ein konstanter Kampf zwischen dem Literatenstand und dem Eunuchensystem in China. Laut Max Weber ist »[o]hne die Einsicht in diesen Kampf […] die chinesische Geschichte vielfach fast unverständlich«.[14] In allen Dynastien versuchten »[…] energische Herrscher […] natürlich stets erneut, mit Hilfe der Eunuchen und plebejischer Parvenus die Bindung an die ständisch vornehme Bildungsschicht der Literaten abzuschütteln«.[15] Während die Literaten ihre Position durch harte Prüfungen errangen, erhielten die Eunuchen ihre durch die Macht über Frauen und Kinder in den Gemächern des Harems und des Hofs. Sie waren erfolgreich unter dem Weiberregiment, und im Gegensatz zum Rationalismus der Bürokraten waren sie gewohnt, bei den Intrigen Zauberei und Aberglauben zu benutzen, durch die sie Macht und Einfluss zu gewinnen trachteten. Sie praktizierten Günstlingswirtschaft und Partikularismus, während die Literaten universalistische Standards befürworteten.

Zuständig für das leibliche Wohl des weiblichen Haushalts innerhalb des Palastes, nutzten die Eunuchen diese Position in der Nähe der Person des Herrschers und seiner Familie aus. Die Grundlage ihres Einsatzes bestand in der Dienstleistung an der Person, während der bürokratische...

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