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E-Book

Giuseppe Verdi als Interpret seiner Werke und Verdis Opern als Gegenstand von Interpretation

AutorChristian Springer
Verlagepubli
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl270 Seiten
ISBN9783746714615
Altersgruppe18 – 99
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
'Diese Impresari haben noch immer nicht begriffen, daß man die Opern, wenn man sie nicht ungestrichen, wie sie der Autor geschaffen hat, aufführen kann, besser gar nicht aufführt; sie wissen nicht, daß die Transposition eine Stückes oder einer Szene fast immer der Grund für den Mißerfolg einer Oper ist', schrieb der achtunddreißige Giuseppe Verdi 1. Dezember 1851an den Impresario Vincenzo Luccardi. Und achtunddreißig Jahre später, am 1. Jänner 1889, an seinen Verleger Giulio Ricordi: 'Es gibt nur eine einzige Interpretation eines Kunstwerks, und es kann nur eine einzige geben.' Er bezog sich dabei auf die Willkürakte von Sängern und Dirigenten, die seine Opern verunstalteten und verstümmelten. Er konnte zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, was das deutsche 'Regietheater' dereinst seinen Werken antun würde. Verdis detaillierte und fundierte Aussagen zur Interpretation seiner Werke finden sich in vielen seiner Briefe aus sechs Jahrzehnten und in sonstigen zeitgenössischen Dokumenten. Heute weitgehend unbekannte Berichte von Augen- und Ohrenzeugen über Verdis Arbeitsweise, seine Interpretationswünsche und Dirigate kamen noch Jahre nach dem Tod des Komponisten zutage. Da Verdi sowohl bei der Komposition als auch bei der szenischen Realisation seiner Werke pragmatisch vorging und theaterpraktischen Aspekten ausnahmslos den Vorrang vor theoretischen Erläuterungen einräumte, sind seine Wünsche und Ansichten auch heute noch von außerordentlichem Interesse.

Mag.phil. Christian Springer absolvierte ein Übersetzer- und Dolmetscherstudium an der Universität Wien. Danach war er als freiberuflicher Übersetzer für Italienisch tätig. Neben Studienaufenthalten in Italien studierte er Gesang in Wien. Ab 1981 gestaltete er Radiosendungen mit den Schwerpunkten 'italienische Oper' und 'historische Sänger' beim ORF, seit 1984 übt er eine internationale Publikationstätigkeit aus, vorwiegend über die italienische Oper im Ottocento. Seit 2000 hat er zahlreiche Bücher veröffentlicht. Zuletzt erschien das Standardwerk 'Giuseppe Verdi - Simon Boccanegra. Dokumente - Materialien - Texte' (Wien 2008).

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Leseprobe

Für meinen Teil erkläre ich, daß nie, nie, nie irgendjemand fähig war und es verstanden hat, alle von mir gewollten Wirkungen herauszuarbeiten ... NIEMAND!! nie, nie ... weder Sänger, noch Dirigenten!! ... {1}

Die hier zitierte Äußerung Giuseppe Verdis scheint auf einen Komponisten hinzudeuten, der als weltberühmter Zweiundsechzigjähriger, nach den großen Erfolgen von Aida (1871/72) und Messa da requiem (1874) auf dem Gipfel seines Ruhms stehend, im Rückblick auf seine große, von ihm selbst für beendet gehaltene Karriere verdrießlich festhält, dass er mit keinem einzigen Interpreten seiner Werke je zufrieden war. Doch es handelt sich nur um anlassbezogenen Ärger, der durch Interpreteneigenmächtigkeiten verursacht wurde:

Die Aufführung!!!!

Nicolini{2} ließ immer seine Nummer aus ...!!!

Aldighieri{3} verschiedene Male das Duett im dritten Akt!!

Sogar das zweite Finale wurde an einem Abend gestrichen!!!!!!! ...

Abgesehen davon, daß die Romanze nach unten transponiert wurde, hat man auch noch einige Takte geändert.

Ein mittelmäßige Aida!!

Ein Sopran{4}, der die Amneris singt!!

Und noch dazu ein Dirigent{5}, der sich herausnimmt, die Tempi zu ändern!!! ...

[...] wir haben es nicht nötig, daß Dirigenten und Sänger daherkommen, um neue Wirkungen zu entdecken; für meinen Teil erkläre ich, daß nie, nie, nie irgendjemand fähig war und es verstanden hat, alle von mir gewollten Wirkungen herauszuarbeiten ... NIEMAND!! nie, nie ... weder Sänger, noch Dirigenten!! ...

Aber jetzt ist es Mode, auch die Dirigenten von Claquen bejubeln zu lassen, und das bedauere ich nicht nur wegen der wenigen, die ich schätze, sondern ich bedauere noch mehr mitansehen zu müssen, daß diese Unsitte von einem Theater zum anderen übergeht, ohne je aufzuhören. Früher mußte man die Tyranneien der Primadonnen ertragen, heute muß man auch die der Dirigenten ertragen!

Und nun? Ihr sprecht mir von schreiben!!! ... von Kunst usw. Ist das Kunst? Ich kann nicht umhin, Euch zu bitten, der Casa Ricordi{6} mitzuteilen, daß ich die oben erwähnten Mißstände nicht zulassen kann; und daß Casa Ricordi meine letzten drei Partituren zurückziehen kann, wenn sie will (und das würde mir große Freude bereiten), daß ich es aber nicht gestatten kann, daß man daran Änderungen anbringt. Es mag geschehen, was will, aber ich wiederhole nochmals, „ich kann es nicht gestatten ...“.{7}

Zur Zeit dieser verärgerten Äußerung steckte Verdi gerade in den Vorbereitungen zu der Europa-Tournée, auf der er sein bis dahin letztes Werk, die Messa da requiem, in Paris, London und Wien vorstellte, wobei er selbst dirigierte. Über das Solistenquartett, das er für diesen Zweck selbst ausgewählt hatte – es bestand aus der böhmischen Sopranistin Teresa Stolz, der Wiener Mezzosopranistin Maria Waldmann, dem Tenor Angelo Masini und dem Bassisten Paolo Medini – äußerte sich Verdi sehr zufrieden und widersprach damit seiner eigenen Unmutsäußerung in jeder Hinsicht.

Auch wenn unkünstlerische Sängerwillkür als unausrottbarer Jahrmarkt der Eitelkeiten Verdi immer wieder Anlaß zu Ärger gab, war der erfahrene Theaterpraktiker aufgrund seiner Einsichten in die Abhängigkeit des Instruments Stimme von der psychophysischen Befindlichkeit der Sänger auch immer wieder zu Verständnis für deren Probleme bereit.{8} Hinzuzufügen wäre, daß es in Italien nie jene k.u.k. „Würde staatsangestellter, altersversicherter Kunst, die sich als Spätblüte vergangener Kulturen bezeichnet“{9} gab, die Anton Kuh mit scharfem Blick in Wien ausmachte.

Verständnis für Dirigentenwillkür, damals wie heute vorwiegend geprägt von Sich-in-Szene-Setzen und Besserwisserei{10}, konnte Verdi allerdings nie aufbringen. Vier Jahre zuvor, 1871, hatte der Dirigent Angelo Mariani dem Komponisten Anlaß zu Kritik gegeben. Verdi war seit 1857 mit dem hochtalentierten Musiker befreundet gewesen, 1870 war es aus privaten Gründen zum Bruch gekommen. Mariani war aufgrund seines überragenden Könnens der erste Dirigentenstar der italienischen Musikgeschichte. Doch er hatte im Zuge seines Aufstiegs Allüren entwickelt und begonnen, auf der Suche nach Wirkungen sich musikalische Eigenmächtigkeiten herauszunehmen. Dazu schrieb Verdi an seinen Verleger:

Ich habe Euren Artikel über das Orchester gelesen, den ich Euch in einer Kreuzbandsendung zurückschicke; ich glaube, daß Einwände angebracht sind:

1. Gegen die Absichten und die handwerklichen Fähigkeiten unserer Maestri, die ihr anführt.

2. Gegen die Eingebungen der Dirigenten .... und das Kreieren bei jeder Aufführung .... Das ist ein Prinzip, das geradewegs ins Barocke und zum Falschen führt. Es ist der Weg, der die Musikkunst zu Ende des vergangenen Jahrhunderts und zu Anfang dieses Jahrhunderts, als die Sänger sich erlaubten, ihre Partien zu kreieren (wie die Franzosen heute noch sagen) und damit alle möglichen Stümpereien und Widersinnigkeiten in die Partien hineinbrachten, ins Barocke und zum Falschen führte. Nein: Ich will nur einen einzigen Autor und begnüge mich damit, daß einfach genau das ausgeführt wird, was geschrieben ist; das Übel liegt darin, daß niemals das ausgeführt wird, was geschrieben ist. Oft lese ich in den Zeitungen von Wirkungen, an die der Komponist nicht gedacht hat; ich für meinen Teil habe diese Wirkungen nie bemerkt. Ich verstehe alles, was ihr an die Adresse von Mariani richtet. Wir sind uns alle über seine Meriten einig, aber hier handelt es sich nicht um eine Einzelperson, so großartig sie auch sein mag, sondern um die Kunst. Ich gestehe weder den Sängern noch den Dirigenten das Recht zu, etwas zu schaffen, was ein Prinzip ist, das in den Abgrund führt ... Wollt Ihr ein Beispiel? Ihr habt mir einmal lobend eine Wirkung zitiert, die Mariani in der Ouverture zu La forza del destino erzielte, indem er das Blech in G mit einem ffortissimo einsetzen ließ. Nun: ich billige diese Wirkung nicht. Dieses Blech sollte nach meiner Vorstellung im mezza voce nur den frommen Gesang des Mönchs ausdrücken und sonst nichts. Marianis ffortissimo verändert völlig den Charakter, und diese Stelle wird zu einer kriegerischen Fanfare, was nichts mit dem Sujet des Dramas zu tun hat, in welchem das Kriegerische nur nebensächlich ist. Damit wären wir auf der Straße des Barocken und des Falschen.

3. Gegen die Zusammensetzung und die Anordnung der Orchester, die überall mehr oder weniger miserabel ist. Ihr führt als Vorbild die Opéra-Comique an. Doch warum 10 Erste Geigen und 8 Zweite?{11}

Die Themen, die Verdi in diesem Brief anspricht – Autorenwille und dessen Missachtung, Interpretenwillkür, Text- und Notentreue, Interpretenhandwerk, eingebürgerte Traditionen – sind die Themen der vorliegenden Betrachtung.

INTERPRETATION


„Was ermöglicht dem Kunstwerke zu existieren, was verbürgt ihm seine Dieselbigkeit, wenn es gerade weder ausgeführt noch gehört wird? Was erlaubt ihm, sich als dasselbe in verschiedenen Ausführungen zu zeigen?“ fragte der bedeutende polnische Philosoph Roman Ingarden (Krakau 1893-1970), nicht ohne bewusst mit dem Begriff „Ausführung“ den in romanischen Sprachen gängigen Terminus „esecuzione“ bzw. „exécution“ zu verwenden und dabei das höher greifende deutsche Wort „Interpretation“ zu vermeiden. Dieser deutsche Begriff wurde bereits im 19. Jahrhundert auf herausragende Interpreten von Musikwerken wie Clara Schumann, Franz Liszt oder Anton Rubinstein angewandt, als Synonym für die Aufführung bzw. Ausführung von Musik setzte er sich allgemein aber erst im 20. Jahrhundert durch. „Das Bewusstsein für die konstitutive Interpretationsbedürftigkeit komponierter Musik ist also verhältnismäßig jung“, stellt der Schweizer Musikwissenschafter Hans-Joachim Hinrichsen{12} fest, womit er einen Gedanken anspricht, den Sergiu Celibidache gerne so formulierte: „Musik als solche existiert nicht. Sie entsteht erst bei der Aufführung“, was nichts anderes bedeutet, als dass ein Musikwerk in der notierten Partitur nur ein „schematisches Gebilde“ (Ingarden) ist, das „erst in der Reihe seiner Aufführungen zur lebendigen Konkretion und gerade damit zu seiner Identität“ (Hinrichsen) gelangt.

Einen essentiellen Beitrag zur Etablierung der Interpretationsforschung als Teildisziplin der Musikwissenschaft leistete der 1992 von Hermann Danuser herausgegebene Band über die Interpretation innerhalb des Neuen Handbuches der Musikwissenschaft{13}, der mit dem neuen Titel „Musikalische Interpretation“ den alten Titel „Aufführungspraxis“ (Ausgabe 1929) ersetzt.

Der Begriff „Interpretation“, wie er in der...

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