Welcher Beweis bürgt mir indes, Dass ein Prophet sterblicher Art Weiter hinaus schauet als ich?
Sophokles
ERFOLG IST KÄUFLICH
WIR LEBEN IN einer bemerkenswerten Zeit. Etwa neunzig Prozent aller westlich zivilisierten Zeitgenossen glauben, der Sinn des Lebens bestünde darin, Spaß zu haben. Etwa zehn Prozent glauben, der Sinn des Lebens bestünde darin, Erfolg zu haben.
Nun, ein Irrtum ist so gut wie der andere. Zumal sie einander ja trefflich ergänzen. Denn je mehr Spaß die einen verlangen, desto erfolgreicher sind die anderen bei der Produktion und Vermarktung der dazu erforderlichen Utensilien. Zwar ist Erfolg zu haben bisweilen noch anstrengender als Spaß zu haben, aber dafür hat der Erfolg ein paar ganz akzeptable Begleiterscheinungen: Macht, Geld und Sex. Und das macht dann ja auch wieder Spaß.
Leider bleibt, trotz dieser Überlegungen, die Frage nach dem Sinn des Lebens weiterhin offen. So richtig überzeugende Antworten, wie sie uns ehedem von Gott, Kaiser und Vaterland frei Haus geliefert wurden, stehen derzeit nicht im Raum. Das verunsichert die Menschen. Selbst die Clowns der Spaßgesellschaft und die Karrieristen der Ellbogengesellschaft zweifeln oft sekundenlang daran, ob ein zünftiger One-Night-Stand oder ein Büro in der obersten Etage wirklich das ist, was ihre Existenzberechtigung außer Frage stellt.
Aber auf die Frage nach dem Sinn des Lebens gibt es keine Antwort. Und wenn, dann würde sie niemandem gefallen. Der Spaß allein kann es jedenfalls nicht sein, der Erfolg allein wohl auch nicht – aber der Spaß am Erfolg ist zumindest eine ganz gute Möglichkeit, um wieder auf andere Gedanken zu kommen.
Dem Erfolg kann man ja heute auf anständige Art kaum noch entgehen. Man müsste sich schon mit Händen und Füßen dagegen wehren, wenigstens eine der unzähligen Methoden auszuprobieren, die unausweichlich Glück, Reichtum und Karriere nach sich ziehen.
Schon die Volkshochschulen geben ganz präzise, aber dennoch wohlfeil, künftigen Führungskräften die wesentlichen Schritte auf dem Weg nach oben vor. Mit Kursen wie etwa: „Aussöhnung mit dem inneren Kind“, „Tanze und Du bist“ oder „Persönlichkeitsentwicklung mit NLP“. Das heißt aber nicht etwa National Liberale Partei, und um etwaige rechtspopulistische Erwartungen zu dämpfen, wird das Kürzel folgendermaßen erklärt: „Basis des NLP ist die Annahme, dass jeder Mensch alle Fähigkeiten zur Problemlösung und zur persönlichen Entwicklung in sicht trägt.“ Klingt gut, aber wo bleiben da Jürgen Möllemann und Jenny Elvers? Möglicherweise ist die Annahme doch etwas zu optimistisch, denn wissenschaftlich erwiesen ist bislang nur, dass jeder Mensch alle Fähigkeiten in sicht trägt, Probleme zu schaffen, die seiner persönlichen Entwicklung im Wege stehen.
Natürlich gibt es auch preislich etwas gehobenere Angebote. Fortbildungskurse und Seminare speziell für Manager. Man lernt dort Teamgeist, Verantwortung, Motivation oder wie man sich die Schnürsenkel zubindet. Manche Chefs schicken, ungeachtet der Kosten, ihre Mitarbeiter in derartige Seminare, beflügelt von der Hoffnung, es könnte sich für das Unternehmen segensreich auswirken. Solche Verzweiflungsaktionen haben einen sehr realen Hintergrund, schließlich hat eine Studie erst unlängst ergeben: Wegen mangelnder Planung verplempern deutsche Führungskräfte fünfndvierzig Prozent ihrer Arbeitszeit völlig unproduktiv. Österreicher sogar fünfzig. Wobei am meisten erstaunt, dass der Unterschied zwischen deutscher Gründlichkeit und österreichischer Schlamperei nur fünf Prozent ausmacht. Sollten die beiden Völker vielleicht doch enger verwandt sein, als man bisher angenommen hat?
Ob die vielen seltsamen Seminare tatsächlich einen wirtschaftlichen Nutzen erbringen, ist bis dato restlos ungeklärt, aber es gibt genug sadistische Bosse, die ihre Angestellten dorthin zwingen. Die schönen Bräuche, seine Mitarbeiter auszupeitschen oder an die Löwen zu verfuttern, sind ja mit dem alten Rom fast gänzlich ausgestorben, aber der Sadismus lebt weiter, und so kann jeder Boss jederzeit mehrtägige Quälereien anordnen. Menschen, die ihr bisheriges Leben vornehmlich in Waisenhäusern, Asylantenheimen, Gefängnissen oder anderen geschlossenen Anstalten verbracht haben, sitzen auch solche Seminare ungebrochen auf einer Backe ab. Sensiblere Zeitgenossen hingegen, vor allem ältere, die von ihrer Lebensleistung bisher ziemlich beeindruckt waren, fallen bei manchen Programmpunkten jäh in ein schwarzes Loch. Selbst leidenschaftliche Controller und sturmgestählte Chefsekretärinnen verstehen oft nicht, weshalb sie in gruppendynamischteamgeistigen Sitzungen völlig fremde Menschen anfassen, ihr Unterbewusstsein lüften oder von einem Baum springen sollen. Kann man dadurch wirklich bei der Produktion von Doppel-Whoppern oder dem Vertrieb von Glasfaserkabeln und ähnlichen profanen Unternehmenszielen in neue Dimensionen vorstoßen?
Dabei sind solche Seminare ja noch vergleichsweise völlig harmlos, weil sie oft in schöner Umgebung, auf Schlössern oder in gut überdachten Hotels stattfinden. Besonders experimentierfreudige Bosse verdonnern ihre Manager gleich zu zwei Wochen auf einer arktischen Eisscholle oder einem Trip in den Dschungel, wo sie sich mit einer Tagesration von einem Pfund Lianen und zwei, drei Breitmaulfröschen durchschlagen müssen. Schließlich geht es um Führungsqualität, Zielbewusstsein und Stärke.
Falls die Manager von ihrer Mission zurückkehren, werden sie natürlich alle gleich gefeuert. Denn erstens hat sich in ihrer Abwesenheit herausgestellt, dass es ohne sie auch geht. Und zweitens: Welcher Chef hat schon gerne Mitarbeiter, die zu jedem Blödsinn ja sagen, um sich bei ihm lieb Kind zu machen.
Befördert aber wird der einzige Verweigerer der persönlichkeitsbildenden Aktion. Weil bei aller Liebe zum Dschungel schließlich einer dableiben muss, um dem Chef die Aktentasche zu tragen. Das ist Stärke!
Überhaupt: Wozu in die Ferne schweifen? Die Propheten des Erfolges lauern an jeder Straßenecke. Reisende Gurus predigen in Kongresshallen und Wirtshaussälen, und gegen einen leicht überhöhten Unkostenbeitrag können sich selbst deklarierte Versager einmal vor Hunderten Leuten zum Trottel machen. Man darf sich jauchzend mit Gleichgesinnten verbrüdern, auf Anweisung des Vortragenden laut herausbrüllen: „Ja, ich kann! Ja, ich will! Ja, ich muss mal!“ Und wenn man sich vorher die Füße gewaschen hat, darf man zum krönenden Abschluss vielleicht sogar über Glasscherben oder glühende Kohlen laufen. Denn die Veranstalter haben längst gelernt, wie man die richtige Atmosphäre erzeugt und ergänzen das gute alte Reichsparteitagsfeeling gern mit einer mittleren Dosis Voodoo. Und das Beste ist: Man kann von den Heilslehren all dieser Propheten tatsächlich profitieren! Vorausgesetzt, man gehört zu den Propheten!
Aber die großen Gurus müssen sich auch verdammt anstrengen, um ihr Konzept für Glück und Erfolg als das einzig Richtige zu vermarkten, denn die Propheten vermehren sich wie die warmen Semmeln, und nichts ist so schnell gefunden wie der nächste Heilige Gral.
Natürlich gibt es seriöse Unternehmen auf diesem Gebiet. In Florida etwa, wo man in 72 Stunden seine körperliche, emotionale und spirituelle Energie so richtig auf Vordermann bringen kann. Dahin schicken auch große Firmen wie Estée Lauder und Glaxo Smith Wellcome ihre Topleute, und sie wissen bestimmt warum, denn immerhin bezahlen sie pro Kopf 3000 Dollar dafür. Gewiss gibt es da und dort ein paar Ignoranten, die das Geld lieber versaufen würden – da kann selbst das beste Training nichts ausrichten. Andere hingegen sind schon nach ein paar Stunden des Eintauchens in sich selbst so weit, ähnlich tolle Sätze zu formulieren, wie unlängst ein bekannter amerikanischer Firmenchef: „Angst, Wut und Frustration, werden weder Ihre Performance verbessern noch helfen sie anderen.“ Zugegeben, solche Sätze haben auch schon das tapfere Schneiderlein und andere klassische Philosophen ausgesprochen, aber die Weisheit klassischer Philosophen geht uns doch heute – mit Verlaub gesagt – am Ohr vorbei.
Klassische Dichter hingegen sind im Aufwind. So stützt sich etwa ein neues Erfolgstraining ausschließlich auf William Shakespeare, der ja in seinen Werken bekanntlich alle Höhen und Tiefen des Big Business ausgelotet hat. Im „Hamlet“ schildert er die feindliche Übernahme des dänischen Königsthrones, in „Romeo und Julia“ die katastrophalen Folgen eines unüberlegten Mergers. Er war eben ein Bursche von unendlichem Humor, und selbigen darf man wohl auch den Erfindern dieses Schulungsprogrammes nachrühmen. Vor allem, wenn sie zu guter Letzt ihre Schüler noch anhalten, in Strumpfhosen und andere historische Kostüme zu schlüpfen. Das eröffnet gewisse...
