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E-Book

Glückliche Genügsamkeit

AutorPierre Rabhi
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783957571311
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Die europäische Moderne hat den Mensch erst der Erde, nun der menschlichen Gesellschaft entfremdet; aus Ernte ist Produktion, aus Beziehung Kommunikation geworden. Wo immer ausgetüfteltere Geräte das Leben erleichtern sollten, sind die westlichen Gesellschaften von ihnen abhängig geworden. Der Mensch, versklavt von Technik, Finanzmarkt und Konsum, ist verletzlich und unfrei wie nie. In seiner grundlegenden Kritik der Moderne enttarnt Pierre Rabhi deren Verlockungen als Blendwerk. Die neue Unermesslichkeit der überfordernden Informationsgesellschaft, die Prämissen des zwanghaften Fortschritts und des 'Immer mehr', sowie die Glücksverheißungen des Konsums bedeuten nicht die Befreiung des Menschen, sondern dessen schleichende Unterjochung. In 'Glückliche Genügsamkeit' propagiert Rabhi das rebellische Prinzip der Mäßigung, die gegen die Überflussgesellschaft protestiert und den Menschen ihrem Klammergriff entreißt. Seine engagierte Streitschrift entwirft eine Utopie der Rückkehr zur Trias aus Natur, Mensch und Gemeinschaft und fordert auf zur mündigen Selbstbefreiung.

Pierre Rabhi, 1938 in Algerien geboren, ist Landwirt, Umweltaktivist und Schriftsteller. Er gilt als einer der Begründer der ökologischen Landwirtschaft in Frankreich und engagiert sich besonders für die umweltfreundliche Entwicklung von Dürreregionen. Zur Beförderung einer ökologischen Lebensweise gründete er die Organisation 'Colibris', die in Frankreich heute mehr als 100 Ortsgruppen hat.

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Leseprobe

FORTSCHRITT ZWISCHEN MYTHOS UND REALITÄT


Die Technologien und die zahlreichen Innovationen, die unter dem Signum des Fortschritts für alle – eines Fortschritts, der sich als Mythos entpuppt – heute die Welt faszinieren, stellen lediglich die Avatare eines Prinzips quasi metaphysischer Natur dar. Hinter den verführerischen Erscheinungen einer Ära, der die Befreiung des Menschen zugeschrieben wird, tritt nun eine Ideologie zutage, die auf der Verherrlichung eines selbst inthronisierten Demiurgen beruht, eines Wesens, das den Göttern des Olymp ebenbürtig zu sein beansprucht, gestützt einzig auf die Macht der Vernunft, deren Vorrang schon das antike Griechenland erklärte und besang. Dieser Anspruch, der von radikalen materialistischen Theorien verstärkt wurde, hat das, was man als Spiritualität bezeichnet, auf ein Minimum reduziert, ja mit dem fundamentalistischen Materialismus sogar aus dem neuen, westlich geprägten Denken verbannt. Aus dieser den Menschen zum König erhebenden metaphysischen Voraussetzung heraus wurde die untergeordnete Stellung der Natur proklamiert und schließlich das Prinzip, die Rohstoffvorkommen des Planeten nach und nach auszubeuten, zur Norm erhoben. Ein unvoreingenommenes Denken, das sich die daraus erwachsenden zerstörerischen Folgen für das Leben vor Augen führt, wird sich fragen müssen, ob die Natur den Menschen nur zum Zweck ihrer eigenen Ermordung hat entstehen lassen. Wie aber sollte man einer solch absurden Hypothese zustimmen können? An ihr ist nicht weniger Falsches, als sich selbst den Status eines Prinzen der Schöpfung einzuräumen, dessen ausbeuterischem Treiben der gesamte Planet überlassen ist.

Um der Moderne nicht alles aufzuhalsen, sollte daran erinnert werden, dass die Plünderung und die Verwüstung des Erdballs sowie seines lebenserhaltenden Kleids, seiner Wälder, bereits eine gravierende Folge des Übergangs von den sogenannten primitiven zu den entwickelteren Zivilisationen darstellt.4

Abgeschnitten von der Klugheit des Lebens, dessen Geschöpfe wir alle sind, hat der Fundamentalismus der reinen Vernunft eine Parallelwelt aufgebaut und strukturiert, die nun vor dem Ruin steht. Die Welt ist unübersehbar in eine Falle geraten, der zu entrinnen sie kein echtes Rezept kennt. Selbst im Mikrokosmos unseres Alltags werden die Einschränkungen und Abhängigkeiten des modernen Lebens für uns alle immer spürbarer.

Seit zwei oder drei Jahrhunderten hat die Moderne all das, was nicht mit ihrer mineralischen Denkweise übereinstimmte, in Abrede gestellt oder ausgelöscht. Unter »mineralischem Denken« verstehe ich das aus dem radikalen Positivismus hervorgegangene Denken, das keine Bezugnahme mehr auf Subjektivität, Sensibilität und Intuition erlaubt. Es scheint die Realität auf eine fragmentierte und mechanische Weise wahrzunehmen; dies erfordert die Herausbildung von Spezialisten und steht im Gegensatz zu der ganzheitlichen und auf Wechselseitigkeit beruhenden Sicht der Ökologie. Wie jeglicher Glaube, der per definitionem auf einer als absolut erachteten Überzeugung beruht, hat dieses Denken mit größtem Bekehrungseifer versucht, die Rationalität zu einem allgemeinen Prinzip zu erheben, um Realität ohne das Risiko eines Irrtums in den Griff zu bekommen. So hat es, wenn auch ohne durchschlagenden Erfolg, alles daran gesetzt, die Völker jener subjektiv erlangten Überzeugungen und Erfahrungen zu berauben, die in den Augen einer tyrannischen Wissenschaftsgläubigkeit lediglich Obskurantismus und Aberglaube bedeuten.

Aber das größte Vergehen dieses regressiven Denkens besteht darin, die Schönheit, die Herrlichkeit des Lebens und des Menschen der Vulgarität der Finanzwelt überantwortet und zur Errichtung einer universellen Ordnung Beihilfe geleistet zu haben, deren Auswirkungen unter anderem in der sogenannten Finanzkrise mündeten; wie sollte man nicht von schmerzlicher Wut ergriffen werden, wenn man sieht, wie das Leben durch schiere Ignoranz entweiht wird? Die heutige Welt wurde unter dem Diktat eines seelenlosen Rationalismus errichtet. Sie scheint aller Poesie entkleidet, der Langeweile und dem Verdruss anheimgegeben. Die zunehmende Verstädterung scheint den Raum für eine echte Kreativität einzuengen zugunsten einer beträchtlichen Ausweitung, einer Vermehrung von unüberprüften Konzepten oder Erfahrungen, Abstraktionen, die sich oftmals als Chimären herausstellen. Gleichzeitig verstärkt sich das Streben nach mehr Lebenssinn, nach dem Glück eines unbeschwerten Daseins. Ohne allzu großen Optimismus und nur gestützt auf die Beobachtung der Tatsachen kann man behaupten, dass unter dem Eindruck des prometheischen Scheiterns und angesichts der sich zuspitzenden ökologischen und sozialen Situation ein neues Denken entsteht.

Ich habe drei Jahre in der Fabrik gearbeitet, an der Seite von Männern und Frauen, die aus allen Provinzen Frankreichs stammten oder nach Frankreich eingewandert waren. In diesem ärmlichen Mikrokosmos war die Entfremdung durch eine uninteressante oder gar schädliche Arbeit bestürzend. Einzige Gegenmittel in dieser Lage waren die Anteilnahme, die Herzlichkeit und die Verbundenheit, die in dieser Welt aufblühten. Was die Entfremdung anbelangt, muss man wohl nicht mehr an die Fließbandarbeit eines Frederick Taylor erinnern, die den Menschen zu einem biologischen Rädchen gemacht und auf ein Bewegungsrepertoire reduziert hat, das bis zur völligen Abstumpfung wiederholt wurde. Und muss man noch auf die Bergleute hinweisen, die dem Untergrund Erze und Brennstoffe für die Hochöfen entrissen und dies mit einer Staublunge bezahlten? Die Liste ist lang. Wie aber ist diese verharmloste Knechtschaft mit den humanistischen Verlautbarungen in Einklang zu bringen? Als Lagerarbeiter hatte ich selbst eine gewisse Zeit an dieser kleinen Arbeitswelt teil, hatte notgedrungen Gelegenheit, ihre Atmosphäre und das, was sie mit den Menschen macht, mitzubekommen. Wenn ich heute versuche, mir diese Atmosphäre wieder vor Augen zu führen, kommt mir das Bild einer Pyramide in den Sinn. Eine nahezu militärisch hierarchisierte Pyramide mit den wichtigen Menschen an der Spitze, die alles Positive auf sich vereinen – gute Gehälter, Anerkennung, Autorität und alles, was sich daraus ergibt – und am unteren Ende der Pyramide die Menschen, die alles Negative auf sich ziehen – mittelmäßige Bezahlung, dürftige Wohnverhältnisse. Zwischen den beiden befinden sich Gruppen, die aufsteigen und sich vor einem Abstieg hüten müssen. Sie stehen für den Weg der Entwicklung und der Exzellenz, wie sie zuvor durch das Erziehungssystem vorgezeichnet worden waren. Ich erinnere mich insbesondere an eine geradezu pathologisch ungesunde Malerwerkstatt, in der arme Menschen über ihre Fähigkeiten und ihre Arbeitskraft hinaus ihre ganze Gesundheit verpfändeten, um daraus einen mageren Lohn für ihren Lebensunterhalt zu beziehen. In diesem seltsamen menschlichen Bienenstock wurde die Arbeit wie eine große Tugend hochgehalten und in den Dienst einer ständig auf Hochtouren laufenden Produktion gestellt. Ein solches Szenario bildet den unantastbaren Leitsatz eines entgrenzten wirtschaftlichen Wachstums; jede Übertretung oder Infragestellung dieses Prinzips wird bis heute als Häresie angesehen, die in anderen Zeiten auf den Scheiterhaufen geführt hätte.

Wenn ich die Bedingungen objektiv prüfe, die den Menschen unter dem Vorwand eines lautstark als Befreier ausgegebenen Fortschritts auferlegt wurden, komme ich kaum umhin, den krebsartigen Charakter des Systems zu bemerken – es handelt sich um eine auf den Menschen angewandte Variante einer »Kultur ohne Boden«5. Auf meinen Vorträgen bringe ich das Thema oft zur Sprache; dabei lenke ich die Aufmerksamkeit des Publikums auf den Weg, der den Menschen ins Herz der Moderne führt: vom Kindergarten bis zur Universität erlebt er eine Einkapselung. Das Vokabular, das wir im Alltag verwenden, gibt darüber Aufschluss, ohne dass wir uns dessen bewusst wären: Manche von uns begeben sich in die Kasernen, andere arbeiten in kleinen oder großen boîtes (französisch: Kiste, hier: Betrieb oder Klitsche). Selbst um uns zu zerstreuen gehen wir in die Disco (en boîte), und wie? In unserer alten Kiste (caisse), womit sonst! Es gibt sogar die boîtes à vieux, die Altenheime, bevor unser Weg in der letzten Kiste endet, wo nichts unsere Ruhe trüben kann. Alles im Leben des Städters ist beschränkt vor allem durch die Abwesenheit des Horizonts, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht. Das Fernsehen, das mit seinen Bildern die Weite der Welt vorführt, lässt uns dies einen Moment lang vergessen … Der Gipfel dieses eingekerkerten Daseins ist die Allgegenwart von Schlüsseln, Schließanlagen, Eingangscodes und Überwachungskameras. Ein solches Klima der Prävention, des Verdachts wird geradewegs soziale Gifte freisetzen, ein Gefühl der Unsicherheit schüren und innere wie äußere Schranken errichten. Aber es handelt sich um eine noch viel bedenklichere Einschließung. Mit ihrer heimtückischen und schädlichen Natur wirkt sie direkt auf die menschliche Psyche, und der übermäßige Gebrauch elektronischer Medien und Geräte ist das Einfallstor. Man gewinnt den Eindruck, dass der Gebrauch dieser Geräte die...

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