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Götterdämmerung

Aufstieg und Fall der deutschen Intelligenz 1900-1940

AutorAntonia Grunenberg
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl600 Seiten
ISBN9783451814136
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Die Jahre von 1900 bis ca. 1940 wurden durch eine Generation von glänzenden Dichtern, Pädagogen, Komponisten, Philosophen, Tänzern, Schriftstellern und Politikern geprägt, die ihre Zeit als Übergang erlebten und mit allen Mitteln eine mit revolutionären und religiösen Erwartungen erfüllte Endzeit herbeisehnten. Dazu gehörte auch die radikale Ablehnung der Weimarer Republik, die teilweise in den Vorhöfen (und in den Lagern) von Faschismus, Nationalsozialismus und sowjetischem Kommunismus endete. Antonia Grunenberg stellt Walter Benjamin als den kühnsten europäischen Denker seiner Zeit in den Mittelpunkt ihres Buches und entfaltet von ihm aus das Drama der deutschen Intelligenz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Antonia Grunenberg, geboren 1944, em. Professorin für Politikwissenschaft mit den Schwerpunkten Politische Theorie und Politische Kultur. Leiterin des Hannah Arendt-Zentrums und Archivs an der Universität Oldenburg; zahlreiche Veröffentlichungen zur politischen Theorie und politischen Kultur, Erschließung des Gesamtwerkes von Hannah Arendt.

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Leseprobe

Einleitung


I.


Das zwanzigste Jahrhundert war ein „Zeitalter der Magie“. Man nennt Martin Heidegger den „Magier von Meßkirch“. Über Ernst Bloch wurde behauptet, er habe den „Tonfall eines Magiers“.1 Theodor W. Adorno schreibt über Walter Benjamin, dieser hätte „etwas von einem Zauberer an sich gehabt“.2 Franz Hessel wurde von seiner Frau Helen Hessel ebenfalls als „Zauberer“ bezeichnet. In der Tradition des magischen Denkens standen Stefan George, Karl Wolfskehl, Ludwig Klages, Alfred Schuler; magisch dachten die expressionistischen Dichter und Maler ebenso wie die messianischen Denker vom Schlage eines Martin Buber, die Philosophen Erich Gutkind und Erich Unger oder der Mystiker Oskar Goldberg. Magisch dachten Richard Wagner und Gustav Mahler; auch Arnold Schönberg war in seinen jungen Jahren vom Magischen fasziniert. Wer sich in die Sphäre der großen Gefühle wagt, betritt das Reich der Magie.

Für die Zeit von 1900 bis ca. 1932 kann man mit Fug und Recht von einer „Bewegung“ (wenn nicht von mehreren, einander überlagernden) sprechen, deren Protagonisten ihre Zeit als Übergang erlebten und mit allen Mitteln, denen der Tat und denen der Imagination, eine mit revolutionären und religiösen Erwartungen erfüllte Endzeit herbeisehnten.

Wie kam es, dass so viele begnadete Dichter und Denker von einer „endgültigen Lösung“ der Menschheitsprobleme träumten?

Es waren keine versponnenen Künstler, die die endliche Erlösung herbeiführen wollten. Es waren Dichter, Pädagogen, Komponisten, Philosophen, Hochschullehrer, Choreografen, Tänzerinnen, Schriftsteller und Politiker, die in expressivem Gestus die Endzeit beschworen, sie deklamierten, sie „wahrsagten“, ja sie hinausschrien. Es war die Spitze des deutschen Geistes, die – im Nachhinein betrachtet – mit dieser Sehnsucht und diesem Erlösungsversprechen in die Nähe oder gar mitten in die totalitären Massenbewegungen geriet, die die europäischen Staaten in jener Zeit von innen zerfraßen.

Schon 1916 charakterisierte der Kritiker und Dichter Hugo Ball die Höhenflüge seiner literarischen und künstlerischen Zeitgenossen im Zürcher Exil – der Dada feierte dort seine Urstände wie auch das Cabaret Voltaire – mit den Worten, sie entsprängen alle einem „Grand Hotel Metaphysik“. Er spielte damit auf die ihm weltfremd erscheinende Radikalität an, mit der viele seiner Zeitgenossen agierten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg nannte der marxistische Philosoph Georg LukÆcs den geistigen Ort von Denkern wie Theodor W. Adorno, Max Horkheimer oder Walter Benjamin „Grand Hotel Abgrund“. Bei LukÆcs entsprang die Metapher seiner staatssozialistischen Kritik an einem Salonmarxismus, den er in der „Frankfurter Schule“ und anderswo verortete und dem er vorwarf, sich in verbalem Radikalismus zu gefallen.

Widersprüchliche Urteile über die Weimarer Intellektuellen haben auch die Zeitenwende von 1989 überlebt: Einerseits preist man ihre Geistesgröße, andererseits kann man nicht umhin, einzuräumen, dass viele von ihnen zum Untergang der Weimarer Republik aktiv und passiv beitrugen. Einige, wie Martin Heidegger oder Carl Schmitt, wurden von der Nachwelt zu Repräsentanten eines bösen, weil antisemitischen oder autoritären Denkens erhoben, bei anderen wird die Frage nach der Nähe zum totalitären Denken gar nicht erst gestellt.

Wie ist diese Konstellation entstanden, in der die geistige Elite Deutschlands mitten in der Moderne die höchsten geistigen Leistungen vollbrachte und gleichzeitig überzeugt war, dass man die Weimarer Republik zerstören müsse, um eine bessere menschliche Gemeinschaft zu schaffen? Wie kamen die Protagonisten dieses Umbruchs, der sich da seit Ende des 19. Jahrhunderts in allen Industrien und Künsten vollzog, dazu, die Rolle der Stellvertreter Gottes zu übernehmen und Erlösung aus dem säkularen Elend zu versprechen? Haben wir es mit einer kollektiven Geistesverwirrung zu tun, wie manche glauben und sich darüber erheben?

II.


Man kann diese Konstellation nur verstehen, wenn man den Aufbruch nachvollzieht, der seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Wirtschaft, die Gesellschaft und die Welt des Geistes erschütterte. In diesen Wandlungsprozess wurden zunächst diejenigen hineingezogen, die sich im Sog der wissenschaftlich-industriellen Revolution befanden und dem Fortschritt dienen wollten: Sie erfanden die Glasarchitektur und die Eisenbrücken, bauten den Suez- und später den Panamakanal, erfanden das Telefon, das Dampfschiff, die Lokomotive, den Telegraphen, das Flugzeug, den Panzer, den Rassismus, den Nationalismus und den Sozialismus. Eine kaum vorstellbare Dynamik brach sich Bahn, innerhalb deren das Deutsche Reich aus einem Agrar- zu dem stärksten Industrieland Europas wurde; große Städte entstanden, in denen Massen von Arbeitern lebten.

Die wirtschaftliche Dynamik erfasste alle gesellschaftlichen Bereiche und Nischen, die Natur- und die Geisteswissenschaften, die bildenden und die darstellenden Künste, die Dichtung, die Literatur und die Musik, das Handwerk, Männer und Frauen, soziale Beziehungen; auch die Vorstellungen davon, was „richtiges Leben“ bedeute, wurden auf den Kopf gestellt.

Im Rücken dieser Entwicklungswelle bildeten sich überall kleine Gruppen von jungen Leuten, die große Reformen vollbringen wollten. Sie wollten sich von der traditionellen Lebens-, Denk- und Produktionsweise absetzen. Verachtungsvoll blickten junge, avantgardistische Künstler, Architekten, Maler und Kunsthandwerker auf die Traditionen der Vorväter. Aus den Künsten, den Wissenschaften und dem Handwerk verkündeten zornige junge Männer, ihr Metier revolutionieren zu wollen. Nichts weniger als eine ganz neue Zeit wollte diese Generation heraufbeschwören.

Zu diesem Aufbruch stieß um die Jahrhundertwende die nächstjüngere Generation. Oberschülerinnen und Oberschüler, Studenten und Studentinnen, Lehrlinge und junge Angestellte, Mädchen und Jungen fanden sich in Gruppen und Vereinen zusammen, vom Singeklub über die Abstinenzler bis zum esoterischen Literaturzirkel. Alle fühlten sich verbunden im Aufstand gegen die Zwangspädagogik der Elternhäuser und der Schullehrer, gegen die Sitten und Gebräuche der Vorfahren, gegen die verlogene Sexualmoral, gegen die Enge und den Mief der elterlichen Wohnungen.

Die Protagonisten dieser Rebellion und ihre Anhänger hatten eine Mission. Sie sahen sich berufen, Deutschland zu erneuern, und zwar vom Kopfe her. Sie riefen eine Revolution des Geistes aus. Es war ein Umsturz, der aus dem Bildungsbürgertum gegen das Bildungsbürgertum und die politische Klasse antrat.

Die offene Revolte der Jungen endete jäh mit dem Kriegsausbruch 1914, als sich diese junge Generation zu großen Teilen freiwillig in den Krieg warf und in ihm umkam. Das Feuer schwelte freilich weiter.

III.


Wilhelm Dilthey hat einmal bemerkt, um herausragende Gestalten der Geschichte verstehen zu können, müsse man sie in das Ensemble ihrer Generation, neben andere bedeutende Gestalten stellen.3 Für dieses Buch ist Diltheys methodische Bemerkung insofern von Bedeutung, als sie über jene immanente Darstellungsweise hinausweist, in die gerät, wer eine geschichtliche Gestalt herausgreift und dabei mit dem Dilemma konfrontiert ist, diese Gestalt aus ihrem Leben und Werk heraus erklären zu wollen. Doch Dilthey muss sich ergänzen lassen: Es reicht nicht aus, die individualisierende Geistesgeschichte dadurch zu erweitern, dass man sie in intellektuelle Zirkel und künstlerische Milieus einbettet.

Geistesgeschichte wird nur zum geringsten Teil von Geistesgrößen geschrieben. Ob und wie einer zu Lebzeiten groß herauskommt oder verkannt in der Ecke bleibt oder erst nach dem Tod die Anerkennung findet, die ihm oder ihr zu Lebzeiten verwehrt blieb, ob er seine Generation und die danach beeinflussen kann, bestimmen Zeitumstände und Zufälle. Desgleichen, ob und wie sich ein Werk von seinem Schöpfer löst und in die Kulturgeschichte eingeht. Umstände und Zufälle nehmen Einfluss darauf, wes „Geistes Kind“ jemand ist. Man kann Fragmente eines Lebens „monadisch“ isolieren. Und doch prägen wirtschaftliche, politische und kulturgeschichtliche Konstellationen und Produktionsbedingungen der Zeit noch jeden Genius, so apolitisch und weltabgewandt, so revolutionär und hyperpolitisch er sich auch gibt.

Es geht in diesem Buch nicht nur um den Lebensweg und die Karriere, um das Scheitern oder den Erfolg eines Einzelnen, es geht um Wechselwirkungen zwischen Einzelnen, ihrer Generation und den intellektuellen und politischen Bezügen, in die sie eingebunden sind, sowie den Zeitläufen, in denen sich ihr Leben und Denken vollziehen.

Im Zentrum steht der Philosoph und Literaturkritiker Walter Benjamin. Um ihn herum gruppieren sich seine Familie, seine Freunde und Kritiker: Ernst Bloch, Gerhard (Gershom) Scholem, Franz Hessel, Theodor W. Adorno, Asja Lacis, Bertolt Brecht, Siegfried Kracauer und etliche andere.

Im weiteren Umkreis befinden sich diejenigen, die ihn eine Zeit lang beeinflussten: Florens Christian Rang, Erich Gutkind, Stefan George, Alfred Schuler, Oskar Goldberg u. a. m.

Aus seiner „französischen Zeit“ in den zwanziger und dreißiger Jahren treten André Gide, Louis Aragon, Paul Valéry hinzu, in der Ferne sind Charles Baudelaire, Marcel Proust und Georges Sorel präsent.

Goethe und Franz von Baader stehen im Hintergrund, es grüßen Novalis und Friedrich Schelling wie erst recht Immanuel Kant und Karl Marx. Am Horizont erscheint die antike Welt mit Platon.

Es sind die Kontexte des Denkens dieser Generation, die es aufzuschlüsseln gilt; in ihnen werden...

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