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Gott los werden?

Wenn Glaube und Unglaube sich umarmen

AutorAnselm Grün, Tomás Halík
VerlagVier-Türme-Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl206 Seiten
ISBN9783896809803
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Während wir in Deutschland schleichend und nahezu ohne großes Aufsehen Gott 'los werden', berufen sich anderswo Gläubige auf einen Gott, der in den Kampf gegen die in ihren Augen ungläubige Welt zieht. Doch wer Gott einfach nur loswerden will, macht es sich zu einfach: Wer wird dann seinen Platz einnehmen? Die Autoren geben diesen Spannungen Raum und untersuchen die Motive und Haltungen gegenwärtigen Zweifelns und Unglaubens. Darüber hinaus bringen sie ihre jeweiligen biografischen und intellektuelle Kontexte ein und geben dabei Einblicke in ihre persönliche Geschichte.

Msgr. Professor Ph.Dr. Tomá? Halík, Th.D., Dr. h.c., geb. 1948, arbeitete während des kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei als Psychotherapeut und wurde 1978 heimlich in Erfurt zum Priester geweiht. Er war enger Mitarbeiter von Kardinal Tomá?ek sowie Berater von Václav Havel. Heute ist er Professor für Soziologie an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität und Rektor der Universitätskirche St. Salvator in Prag. Tomá? Halík wurde mit zahlreichen Preisen, u.a. dem Romano-Guardini-Preis und dem Templeton-Preis ausgezeichnet. 2016 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universität von Oxford verliehen. Seine erfolgreichen Bücher wurden in mehr als 17 Sprachen übersetzt. Anselm Grün, geboren 1945, ist Mönch der Abtei Münsterschwarzach und der bekannteste spirituelle Autor in Deutschland. Seine Bücher sind Bestseller.

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Leseprobe

Prolog: Der tote Gott. Die Rede des tollen Menschen

Tomáš Halík

Der tolle Mensch. – Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: »Ich suche Gott! Ich suche Gott!« – Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verlorengegangen?, sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind?, sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? – so schrien und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. »Wohin ist Gott?«, rief er, »ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittag angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!« – Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: Auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, dass sie in Stücke sprang und erlosch. »Ich komme zu früh«, sagte er dann, »ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne – und doch haben sie dieselbe getan!« – Man erzählt noch, dass der tolle Mensch desselbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur dies entgegnet: »Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?«

Friedrich Nietzsche

Wohin ist Gott?

Wenn man nach Leitsätzen sucht, die das 20. Jahrhundert stark beeinflusst haben, so würde man sicher auf den Satz »Gott ist tot!« stoßen. Ausgesprochen hat diesen Satz Friedrich Nietzsche, der an der Schwelle zum 20. Jahrhundert starb und der sich für einen der »Erstlinge und Frühgeburten des kommenden Jahrhunderts« hielt, »denen eigentlich die Schatten, welche Europa alsbald einwickeln müssen, jetzt schon zu Gesicht gekommen sein sollten1

Nietzsche war nicht der erste und auch nicht der einzige Autor, der die Aussage vom Tod Gottes tätigte; er ist jedoch sicher der bekannteste. Die Erzählung vom tollen Menschen in seinem Buch Die fröhliche Wissenschaft2 ist nicht die einzige Version dieses Gedankens im Werk Nietzsches, sie ist jedoch die bekannteste und wirkungsvollste.

Die Szene auf dem Markt, auf welchen der Eigenbrötler kommt, der mit einer Laterne am hellen Tag den abwesenden Gott sucht, wirkte auf mich immer wie die Aufzeichnung eines Traums. Es gibt Träume, die aus den Tiefen des Unterbewusstseins etwas emportragen, was unsere Vernunft bisher nicht in der Lage war zu erblicken und zu begreifen, eine Botschaft, für die – mit den Worten Nietzsches gesprochen – »noch keine Ohren gewachsen sind«. Die Eingeborenen primitiver Stämme, behauptet C. G. Jung, unterscheiden zwischen »kleinen Träumen«, die nur eine private Bedeutung für Einzelne haben, und »großen Träumen«, die für die Zukunft des ganzen Stammes wichtig sind. Ich denke, dass die Szene, die von Nietzsche beschrieben wurde, in der Tat ein großer Traum ist, der von Bedeutung für das Schicksal unseres ganzen »Stammes« ist. »Wohin ist Gott?« – das ist eine Frage, die zu stellen immer wieder Sinn macht.

Warum ist im Gleichnis Nietzsches der Gottsucher ein Verrückter, ein toller Mensch? Warum wird sowohl diese Frage als auch die Antwort, das Diktum vom Tod Gottes, gerade in den Mund eines Verrückten gelegt? Ist dieser vielleicht jener törichte Mensch aus dem Psalm, in dem zu lesen ist: »Die Toren sagen in ihrem Herzen: Es gibt keinen Gott« (Ps 14,1; Ps 53,2)? Oder ist eher ein Narr, ein Hofnarr, der Einzige, dem es erlaubt ist, verbotene Wahrheiten auszusprechen? Ähnelt er in seiner Torheit einem Kind, das ausspricht, was jeder sehen kann, aber was alle zu sehen und zu benennen fürchten, nämlich dass der Kaiser nackt ist? Oder ist der tolle Mensch nur aus der Perspektive der Menschen auf dem Markt ein Verrückter, der in Wirklichkeit ihre eigene Torheit enthüllt? Ähnelt er mit seiner Laterne am hellen Tag dem Kyniker Diogenes, der den Menschen zeigte, dass ihr Licht in Wirklichkeit die Dunkelheit der Unwissenheit ist? Ist er nicht ein Jurodivyj, einer jener heiligen Narren, von denen die Legenden des christlichen Ostens erzählen? Oder sagte Nietzsche vielleicht sein eigenes Schicksal voraus, das Schicksal eines abgelehnten Propheten, der im Wahnsinn endet?

Die Diagnose des Atheismus und ihre Folgen

Der Schlüsselsatz, der beim Lesen dieses Textes immer wieder übersehen wird, lautet, dass die Adressaten dieser Botschaft Menschen waren, welche nicht an Gott glaubten. Gerade deshalb lachen sie den Menschen aus, der Gott sucht. Sie dagegen suchen ihn nicht mehr, kümmern sich nicht um ihn, fragen nicht nach ihm; Gott hat für sie keine Bedeutung. Ja, der tolle Mensch Nietzsches ist primär gekommen, um die Atheisten zu provozieren, um aus ihrem unproblematischen und unproblematisierten Massenatheismus ein Problem zu machen.

Erst am Ende der Erzählung provoziert der tolle Mensch nach den konventionellen Atheisten auch konventionelle Gläubige, die nicht wissen, dass ihre Kirchen nur Grüfte und Grabmäler eines toten Gottes sind. Vielleicht ähneln sich diese beiden Gruppen von selbstsicheren Menschen – denn die selbstsicheren Ungläubigen, aber auch die selbstsicheren Gläubigen suchen Gott nicht.

Nietzsche wählte stets einen dritten Weg zwischen den Einseitigkeiten, er suchte ein unerforschtes Gebiet »jenseits, hinter« – jenseits des Guten und Bösen, jenseits der Religion und des Atheismus in ihrer traditionellen Gestalt. Seine Rhetorik ist immer dann extrem, wenn er die drohende, nicht durchschaute Einseitigkeit und scheinbare Selbstverständlichkeit eines der beiden Extreme ausgleichen will. In der Zeit der »Wahrheit des Tages«, die vom Licht der Vernunft beleuchtet wird, betonte er die »Wahrheit der Nacht«, die Zeit, in der die Welt tief ist, tiefer, als es am Tag zu sein schien: »Nicht alles darf vor dem Tage Worte haben.«3

Der tolle Mensch Nietzsches ist nicht gekommen, damit er den Glauben an Gott widerlegt und den Atheismus verkündet, sondern er bringt eher eine Diagnose des Atheismus mit. Er zeigt seine tragische Seite und seine tragischen Folgen. Hinter dem Geheimnis des Verschwindens Gottes, den niemand mehr sucht, steht ein Verbrechen, größer als alle Verbrechen: der Mord an Gott. Es ist ein Verbrechen mit tragischen Folgen für den ganzen Kosmos: Die Sonne der Sicherheiten ist erloschen, wir haben die Orientierung verloren, wir fallen in den leeren Raum. Wir stürzen uns in die dunklen Weiten, weg von der Sonne, in die Kühle des Nichts, fort von allen Sonnen.4

Die Frage nach Gott ist deshalb erloschen, weil die Antwort ein verheimlichtes, vergessenes, ins Unterbewusstsein verdrängtes Verbrechen an die Oberfläche bringen würde. Es war ein kollektives Verbrechen, dessen Täter und Mitschuldige der Tor und seine Zuhörer sind. Es ist ein Verbrechen, für das die Täter die Verantwortung übernehmen müssen. »Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen?«

Erst in den nächsten Kapiteln desselben Buches deutet Nietzsche dieses Verbrechen, dessen Größe seinen Tätern nicht gerecht wird und dessen Folgen sie noch nicht zu spüren bekommen und begriffen haben, als felix culpa, als eine glückliche Schuld: Sie eröffnete ihnen neue Horizonte, sie ermöglichte es ihnen, auf das weite Meer...

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