Die historische Bedeutung des auf der Schwäbischen Alb im Kreis Münsingen gelegenen Barockschlosses Grafeneck geht durch die Ereignisse der Jahre 1939 bis 1941 weit über eine regionale, auf Südwestdeutschland begrenzte, Ebene hinaus. Das zur ersten Euthanasieanstalt mithilfe von Gaskammern umfunktionierte Samariterstift erlangte über die Grenzen Deutschlands hinaus traurige Berühmtheit als der Ort, an dem am 18. Januar 1940 die gezielte Ermordung von geistig behinderten und psychisch kranken Menschen im Rahmen der Euthanasie- Aktion im Dritten Reich ihren Anfang nahm.
In Deutschland wurden direkte medizinische Tötungen mit dem fortschreitenden neunzehnten Jahrhundert und unter dem wachsenden „Einfluss[...] des ’wissenschaftlichen Rassismus’ in intellektuellen Kreisen“[1] in einem immer breiter werdenden Spektrum diskutiert. Für die Entwicklung und die zumindest im Diskurs etablierte Rolle des “Gnadentods“ geistig behinderter Menschen war die Unterstreichung und die hervorgehobene Gewichtung der „Integrität des organischen Volkskörpers“[2], also die Definition des Volks als ein rassisch-kulturelles Kollektiv, dessen Fortbestand es auch unter biologischen Aspekten zu sichern galt, elementar. Dem Gedanken, dass die Gruppe einen Organismus darstelle, dessen Leben zu beschützen sei und dessen Tod vermieden werden müsse, zeigte sich schon der Theoretiker Adolf Jost, welcher 1895 einen Aufruf zur medizinischen Tötung mit dem Namen „Das Recht auf den Tod“ veröffentlichte[3], zugeneigt. Jost vertritt die These, dass die Entscheidung über den Tod eines Individuums letzten Endes dem Staat zustehe. So verweist er in seiner Argumentation auf kriegerische Konflikte, in denen das Individuum ebenfalls zum Wohle des Staates geopfert werde. Neben dem für ihn unumstrittenen Recht des Staates zu töten, argumentiert er mit der Gesundheit eines Staats, welche nur durch Selektion zu gewährleisten sei: Der Staat habe der „Eigentümer des Todes“ zu sein und müsse töten, um den sozialen Organismus am Leben halten zu können[4].
Seit der Machtübertragung an Adolf Hitler war diese Rassenideologie die mächtigste Triebfeder politischen Denkens und Handelns.
Die medizinische Gleichschaltung machte das selektierende Vorgehen der Euthanasie erst möglich[5]. Für die Organisation und die Umsetzung dieser Idee kooperierten Politiker aus höchsten Kreisen, Beamte Wissenschaftler, Psychologen und Mediziner auf allen Ebenen des Staats; ein breites Spektrum von Helfern wurde mit einem „Geheimplan“[6] aus allerhöchsten Parteikreisen verbunden. Die den Nationalsozialisten eigene „Mischung aus Idealismus und Terror“[7] konkretisierte das Prinzip des Gnadentods lebensunwerten Lebens und konnte die Tötung von Kindern und Erwachsenen genehmigen.
Um die Erbgesundheit der arischen Volksgemeinschaft zu stützen und diese somit zu optimieren, bedienten sich die Nationalsozialisten Mitteln wie der Zwangssterilisierung und der euphemistisch als „Euthanasie“ titulierten Ermordung als unheilbar oder erbkrank befundener Patienten psychiatrischer Einrichtungen. Die biopolitische Entwicklungsdiktatur ruhte auf zwei tragenden Pfeilern: der Erbgesundheits- und der Rassenpolitik[8]. Diese beiden eigenständigen Politikfelder bildeten das leitende Prinzip nationalsozialistischer Politik, welches sich in allen anderen Politikbereichen widerspiegelte. Die Erbgesundheits- und die Rassenpolitik schufen das Fundament einer biologisch homogenen, übergeordneten Volksgemeinschaft, deren Fortschritt und Fortbestehen mithilfe von Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung niedriger gestellten Lebens gesichert werden sollte.
Die wichtigste, der NS- Rassenideologie und Erbgesundheitspolitik zugrunde liegende Schrift ist „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“[9], das 1920 veröffentlichte Werk der Juristen Karl Binding und Alfred Hoche, ihres Zeichens Professoren für Psychiatrie an der Universität Freiburg. In Bindings und Hoches Schrift machen die Autoren „aus der Vorstellung des ’lebensunwerten Lebens’ ein juristisches und medizinisches Konzept“[10] und beschreiben die Vernichtung dessen als Heiltätigkeit, als therapeutisches Ziel.
Seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde die Option des „Gnadentods“, wie auch die von Binding/ Hoche ausgeführten großen wirtschaftlichen Verluste, welche die „geistig Toten“[11], die große Zahl behinderter Menschen für Deutschland bedeuteten, verstärkt diskutiert. Schon in den Schulen wurden die Kinder mit den ’Problemen’, die den Staat aufgrund seiner behinderten Bürger belasteten, auf indoktrinierende Weise konfrontiert. So ließ ein Mathematikbuch die Schüler die Anzahl der Regierungskredite berechnen, welche einem jungen Paar „mit dem Geld erteilt werden könnten, das die Fürsorge für die ’Krüppel, die Kriminellen und die Geisteskranken’“[12] ausgeben muss. Auch die öffentlichen und in medizinischen Fachkreisen angeheizten Debatten über Sterilisationen tendierten immer mehr zu der Vermutung hin, dass „ radikalere Maßnahmen nötig seien“[13]. Der Grundsatz, dass die Beseitigung „lebensunwerten Lebens“ als legitime Aufgabe des Staates anzusehen sei, manifestierte sich mehr und mehr als Grundsatz in der Volksauffassung. Die im Reich verbreiteten Heil- und Pflegeanstalten für geistig und körperlich behinderte Menschen manifestierten sich zu wichtigen Zentren für die Entwicklung des Euthanasiebewusstseins[14]. Seit dem Jahr 1934 wurden das medizinische wie auch das Pflegepersonal dazu ermuntert, die ihnen anvertrauten Patienten zu vernachlässigen; die finanziellen Mittel wurden gekürzt und staatliche Gesundheitsinspektionen erfolgten nur noch der Form halber oder entfielen vollkommen[15].
All dies ist als eine Vorstufe der von oberster Stelle, namentlich durch die Kanzlei des Führers der NSDAP in Berlin, initiierten und organisierten Euthanasie im Rahmen der T4- Aktion zu werten, welche auf dem Gelände des Schwäbischen Barockschlosses Grafeneck ihren Anfang nahm.
Grafeneck, auf dessen Gebiet am 18. Januar 1940 die systematische, von staatlicher Seite angeordnete und mit Hilfe staatlicher Organe vollstreckte Vernichtung von Menschen durch medizinisch verbrämten Massenmord begann, umschrieben durch den verschleiernden Begriff der „Euthanasie“, dem „schönen Tod“, oder wie Hitler es in seiner Ermächtigung vom Oktober 1939 ausdrückte, den „Gnadentod“[16] und auf dessen Gelände zwischen Januar und Dezember 1940 10.654[17] Menschen den Tod fanden, besitzt als Symbol für die systematische Ermordung behinderter Menschen im Nationalsozialismus eine herausragende Bedeutung für die Geschichte Deutschlands, speziell des deutschen Südwestens.
Im Oktober 1939 wurde die bestehende Behinderteneinrichtung vom Württembergischen Innenministerium "für Zwecke des Reichs" beschlagnahmt und ab Januar 1940 zum ersten Ort der industriellen Ermordung von Menschen im nationalsozialistischen Deutschland umfunktioniert. Mit der gleichzeitigen Erfassung aller jüdischen Patienten in den psychiatrischen Einrichtungen Württembergs und Badens und ihrer Ermordung in Grafeneck, sowie der späteren Übernahme der Technologie und des Personals der Gasmordanstalten begann hier ein Weg, der in die Ermordung der deutschen und europäischen Juden mündete: Die Spuren der Täter führen von Grafeneck in die Vernichtungslager im Osten: Belzec, Treblinka, Sobibór und Auschwitz-Birkenau[18].
Die vorliegende Arbeit stellt die Bedeutung, den Stellenwert und die Einbettung Grafenecks in die Geschichte Deutschlands während der Zeit des Nationalsozialismus dar.
Der erste Teil der Arbeit setzt sich mit der Vorgeschichte Grafenecks und dem historischen Kontext der NS- Euthanasie auseinander. Angefangen mit einer Erläuterung des Beginns der Euthanasie- Aktion im Dritten Reich werden die ersten Planungsschritte der Verantwortlichen analysiert und der Beginn der Euthanasie in Pommern und Westpreußen, bis hin zur Brandenburger Probevergasung skizziert.
Nach der analytischen Betrachtung der rechtlichen Grundlage der Euthanasie, Hitlers Euthanasieermächtigung vom 1. September 1939, schließt der einleitende Teil ab.
Im Hauptteil der Arbeit setzt sich die Autorin mit der Tötungsanstalt Grafeneck, der zentralen Tötungsstelle Südwestdeutschlands, auseinander. Nach der Darlegung der Aktion „T4“ sowie des Aufbaus und der Organisation der Euthanasie im Reich folgt ein kurzer Exkurs in die Historie Grafenecks, begleitet von der Beschreibung der Umwandlung des Barockschlosses in eine NS- Tötungsanstalt.
Im Weiteren werden die Täter Grafenecks, die Ärztekommission und deren Mitarbeiter aufgezeigt und näher untersucht.
Nach der Beschreibung des Transports der aus Baden und Württemberg stammenden Opfer in die Tötungsanstalt Grafeneck und einer kurzen Erläuterung der Funktion der Zwischenlager für den Transport der “Patienten“, geht die Arbeit auf den Alltag in der Tötungsanstalt Grafeneck ein und beschäftigt sich mit der Erfassung und der Auswahl der Opfer, sowie dem Aufbau und Betrieb der Tötungsanlage.
Auch die Darstellung der auf dem Schlossgelände...