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E-Book

Grand Hotel Abgrund

Die Frankfurter Schule und ihre Zeit

AutorStuart Jeffries
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl560 Seiten
ISBN9783608191721
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Sie überlebten zwei Weltkriege, erlebten den Rassismus, flohen vor dem Nationalsozialismus. Sie entgingen dem Holocaust und überlebten eine Odyssee. Adorno und Horkheimer hatten den Mut, nach dem Krieg aus dem amerikanischen Exil nach Deutschland zurückzukommen, um eine andere, humanere Gesellschaft aufzubauen. Sie waren großbürgerlich, gebildet und elitär - allen voran ihr Papst, Theodor W. Adorno, und ihr Finanz- und Außenminister, Max Horkheimer. Stuart Jeffries entwirft eine vielschichtige Biographie der Frankfurter Schule, die sich mitten im Zeitalter der Extreme des 20. Jahrhundert ereignet. Mitreißend schildert er, wie Mitte der 20er bis Ende der 60er Jahre ihre gesellschaftlichen Utopien entstehen. Kritisch beobachtet Jeffries, wie die 68er-Bewegung aus der Frankfurter Schule hervorgeht und sich etliche 68er zur Gewalt bekennen. Ironisch hält er fest, wie auch diese Rebellion scheitert und vermerkt bitter, dass die »Schule« geschlossen wird. Und dennoch stellte die Frankfurter Schule fast alles vom Kopf auf die Füße: Entschieden wehrten sie sich gegen die Seilschaften alter Nazis und äußerten sich über Jahrzehnte hinweg unmissverständlich gegen Populismus, rechte Ideologie, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Kapitalismus, Beherrschung von Natur und Mensch. Die deutsche Gesellschaft ist seither eine ganz andere: freier, offener, (selbst-)kritischer. »Eine fesselnde Geschichte des Lebens und der wichtigsten Ideen der führenden Denker der Frankfurter Schule.« New York Review of Books »Eine leicht zugängliche, unterhaltsame Geschichte von einer der beeindruckenderen intellektuellen Bewegungen des 20. Jahrhunderts.« Owen Hatherley, The Guardian

Stuart Jeffries, geboren 1962, arbeitete zwanzig Jahre für den »Guardian« und für etliche Zeitungen und Zeitschriften, darunter die »Financial Times« und »Psychologies«. Stuart Jeffries lebt in London. Sein Hauptinteresse gilt der Geschichte und der Wirkung der »Frankfurter Schule« von ihren Anfängen bis zu Jürgen Habermas und Axel Honneth. Er setzt sich mit den Einflüssen auf die Umweltbewegung und die Gründungsgeneration der »Grünen«, Rudi Dutschke, Petra Kelly, Joschka Fischer, Daniel Cohn-Bendit auseinander.

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Leseprobe

Vorwort
Gegen den Strom


Kurz vor seinem Tod äußerte Theodor Adorno gegenüber einem Journalisten: »Ich habe ein theoretisches Denkmodell aufgestellt. Wie konnte ich ahnen, dass Leute es mit Molotow-Cocktails verwirklichen wollen?«[1] Für viele bestand eben darin das Problem mit der Frankfurter Schule: Ihre Vertreter ließen sich nie auf revolutionäres Handeln ein. »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern«, schrieb Karl Marx.[2] Die Denker der Frankfurter Schule jedoch stellten diese elfte These über Feuerbach von Karl Marx auf den Kopf.

Seit seiner Gründung im Jahr 1923 hielt sich das marxistische Forschungsinstitut, das später unter dem Namen »Frankfurter Schule« bekannt wurde, abseits von jeglicher Parteipolitik und kultivierte eine deutliche Skepsis gegenüber politischen Kämpfen. Seine führenden Köpfe – Theodor Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Erich Fromm, Friedrich Pollock, Franz Neumann und Jürgen Habermas – kritisierten virtuos die Schändlichkeit des Faschismus und den sozial vernichtenden, geistig erdrückenden Einfluss des Kapitalismus auf die Gesellschaften des Westens, doch ihre Bereitschaft, das zu verändern, was sie kritisierten, blieb weit hinter dieser theoretischen Virtuosität zurück.

Die eklatante Verkehrung von Marx’ Denken durch die Frankfurter Schule verärgerte andere Marxisten zutiefst. Der Philosoph Georg Lukács warf Adorno und anderen Mitgliedern der Frankfurter Schule einmal vor, sie würden in einem Etablissement residieren, das er als »Grand Hotel Abgrund« bezeichnete. Dieses schöne Hotel sei, so schrieb er, »mit allem Komfort ausgestattet – am Rande des Abgrunds, des Nichts, der Absurdität«. Zu den früheren Bewohnern gehörte aus Lukács’ Sicht unter anderem auch der pessimistische Frankfurter Philosoph Arthur Schopenhauer, in dessen Werk das Leiden an der Welt aus sicherem Abstand ein fester Bestandteil sei: »Der tägliche Anblick des Abgrunds, zwischen behaglich genossenen Mahlzeiten oder Kunstproduktionen, kann die Freude an diesem raffinierten Komfort nur erhöhen«, kommentierte Georg Lukács sarkastisch.[3]

Lukács war der Meinung, die Denker der Frankfurter Schule seien keinen Deut besser. Wie vor ihnen schon Schopenhauer so hätten auch die kürzlich eingetroffenen Gäste des Grand Hotels Abgrund ein perverses Vergnügen am Leiden – in ihrem Fall handelte es sich um das Leiden angesichts des Monopolkapitalismus, der, während sie sich über die Brüstung der Terrasse lehnten, tief unter ihnen den menschlichen Geist zerrüttete. Für Lukács hatte die Frankfurter Schule die notwendige Verbindung von Theorie und Praxis aufgegeben, wobei letztere die Umsetzung ersterer in Handlung bedeutete. Beide waren nur zu rechtfertigen, wenn sie miteinander verbunden waren, wenn eines das andere in einer dialektischen Beziehung verstärkte. Sonst, so Lukács, verkomme die Theorie zu einer elitären Interpretationsübung – was bis zum Auftreten von Karl Marx sämtliche Philosophien gewesen seien.

Als Adorno seine Bemerkung über Molotowcocktails machte, bezog er sich auf den Rückzug der Frankfurter Schule auf die Theorie, der sich zu einer Zeit vollzog, da viele im Umfeld Adornos und seiner Kollegen zum Handeln aufriefen. Die Studentenbewegung und die Neue Linke hatten den Höhepunkt ihrer Wirkmacht erreicht, und viele waren – fälschlich, wie sich herausstellte – überzeugt, dass eben dank einer solchen Praxis ein radikaler politischer Wandel unmittelbar bevorstehe. Die damalige Zeit war politisch äußerst turbulent. Überall zwischen Berkeley und Berlin re-voltierten die Studierenden; beim Parteitag der Demokraten in Chicago wa-ren gegen den Vietnamkrieg Protestierende von der Polizei attackiert worden; und erst kürzlich waren sowjetische Panzer nach Prag gerollt, um das tschechoslowakische Experiment eines »Sozialismus mit menschlichem Gesicht« zunichtezumachen.

Adorno selbst, dieser – wie er selbst zugab – dickliche, 65-jährige Professor, die prominenteste Gestalt der Frankfurter Schule in Deutschland, wurde an der Universität Frankfurt von Anführern des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes dafür angegriffen, dass er nicht radikal genug war. Seine Vorlesungen wurden von Demonstranten gestört; einer schrieb an die Tafel: »Wer nur den lieben Adorno läßt walten, der wird den Kapitalismus ein Leben lang behalten.«[4]

Bezeichnenderweise wurde das Institut für Sozialforschung der Universität Frankfurt für eine kurze Zeitspanne von Demonstranten übernommen und erhielt den neuen Namen »Abteilung Spartakus«, nach der politischen Bewegung, die unter der Führung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gestanden hatte, jener deutschen Revolutionäre, die fünfzig Jahre zuvor ermordet worden waren. Der Namenswechsel sollte zugleich Vorwurf und Erinnerung sein: Vorwurf, weil die Spartakisten im Jahr 1919 etwas getan hatten, was die Denker der Frankfurter Schule im Jahr 1969 ganz offensichtlich nicht zu tun gedachten; und Erinnerung, insofern als die Frankfurter Schule ihre Existenz zum Teil den Bemühungen marxistischer Theoretiker verdankte, die nach einer Antwort auf die Frage suchten, warum die Spartakisten mit ihrem Versuch gescheitert waren, in Deutschland das nachzuahmen, was die Bolschewiken in Russland zwei Jahre davor geschafft hatten.

1969 hielten Anführer der Studentenbewegung wie Rudi Dutschke und Daniel Cohn-Bendit den Zeitpunkt für gekommen, Theorie und Praxis zu vereinen, die Universitäten zu revolutionieren und den Kapitalismus zu zerschlagen. Die deutsche Intelligentsia durfte ausgerechnet jetzt, in dieser Stunde der Abrechnung, nicht wieder scheitern. Adorno aber zögerte. Seine Bedenken sind höchst aufschlussreich hinsichtlich der Frage, was die Frankfurter Schule war und ist und warum sie damals und teils auch heute noch von vielen Linken so skeptisch beurteilt wurde beziehungsweise wird. In seinem Aufsatz »Marginalien zu Theorie und Praxis« aus dem Jahr 1969 schrieb Adorno, dass einem Studenten sein Zimmer verwüstet worden sei, weil er lieber gearbeitet habe, als sich an den Studentenprotesten zu beteiligen. Irgendjemand hätte sogar an die Wand des Zimmers die Worte geschmiert: »Wer sich mit Theorie beschäftigt, ohne praktisch zu handeln, ist ein Verräter am Sozialismus.«

Adorno empfand diesen Studenten offensichtlich als verwandten Geist – ein kritischer Theoretiker, kein Straßenkämpfer – und er wollte ihn verteidigen. Er tat das, indem er die Theorie gegen eine Art von Praxis in Stellung brachte, die er in der Studentenbewegung und der Neuen Linken diagnostizierte. »Praxis wurde nicht ihm [dem Studenten, dessen Zimmer verwüstet wurde] allein gegenüber zum ideologischen Vorwand von Gewissenszwang«, schrieb Adorno.[5]

Dieses Paradox – der gewaltsam-autoritäre Aufruf zu befreiender Aktion – bereitete Adorno und vielen anderen Denkern der Frankfurter Schule Unbehagen. Jürgen Habermas bezeichnete das Phänomen als »linken Faschismus«; und Adorno, sein früherer Lehrer, befürchtete das Aufkommen einer grauenerregenden neuen Mutation jener autoritären Persönlichkeiten, die in Deutschland unter den Nationalsozialisten und in der Sowjetunion unter den Stalinisten gewütet hatten.

Adorno und die anderen Mitglieder der Frankfurter Schule kannten sich mit autoritären Persönlichkeiten zur Genüge aus. Als jüdischer, marxistischer Intellektueller, der gezwungen war, ins Exil zu fliehen, um nicht von den Nazis ermordet zu werden – was für die meisten Mitglieder der Frankfurter Schule galt –, war man quasi automatisch Fachmann für das Spezialgebiet »autoritäre Persönlichkeit«. Sämtliche führenden...

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