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E-Book

Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem

[Was bedeutet das alles?]

AutorStephan Lessenich
VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl96 Seiten
ISBN9783159615110
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis5,49 EUR
Demokratie ist ein allseits anerkannter Hochwertbegriff, möglicherweise der Hochwertbegriff der westlichen Moderne überhaupt. Aber die real existierende Demokratie ist auch ein System der Grenzziehungen - der sozialen Ausgrenzungen ebenso wie der ökologischen Entgrenzungen. Vor dem Hintergrund dieser Einsicht entwirft Stephan Lessenich Perspektiven für eine solidarische, inklusive und nachhaltige Demokratie.

Stephan Lessenich, geb. 1965, ist Professor für Soziologie an der LMU München und war Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.

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Leseprobe

Öffnungen der Schließungstheorie


Eigentlich scheint also mit Weber bereits – wie zu so vielem – alles gesagt zu sein zum sozialen Schließungshandeln. Doch bevor wir das Konzept für das Problem des Öffnens und Schließens demokratischer Berechtigungsräume nutzbar machen, seien zwei soziologische Weiterentwicklungen desselben benannt, die den Gebrauchswert der Schließungstheorie für die Gesellschaftsanalyse nochmals deutlich erhöht haben, nämlich die Ansätze der britischen bzw. kanadischen Soziologen Frank Parkin und Raymond Murphy. Zwar getrennt voneinander, aber de facto doch mit vereinten Kräften, haben die beiden in den 1970er und 80er Jahren daran gearbeitet, Webers Verständnis des Phänomens für das Denken in gesellschaftlichen Strukturen der Schließung sowie in Kategorien des Konflikts zwischen unterschiedlichen Formen des Schließungshandelns zu öffnen. Ihre Überlegungen seien hier zumindest in den Grundzügen skizziert.

War Marshalls berühmter Beitrag zur modernen Inklusionsdynamik Citizenship and Social Class betitelt, so ließe sich Parkins Fortschreibung der Theorie sozialer Schließung unter dem analogen Betreff »Closure and Social Class« verhandeln. Auch für ihn ist Schließungshandeln eines, das auf die Maximierung von kollektiven Ansprüchen auf Vorteile und Erfolgschancen zielt. Der Clou seines Ansatzes besteht nun aber darin, zwei typische, wechselseitig aufeinander bezogene (»reziproke«) Schließungsstrategien voneinander zu unterscheiden. Die Grundüberlegung ist einfach: Wo die einen die anderen von der Beanspruchung begehrter Ressourcen auszuschließen trachten bzw. dies auch erfolgreich tun, da nehmen die anderen einen solchen Ausschluss nicht einfach unwidersprochen hin. Vielmehr geht die Schließungsgeschichte im Zweifel weiter – wenn und sobald nämlich »die Ausgeschlossenen selbst in direkter Reaktion auf ihren Außenseiterstatus bestimmte Maßnahmen ergreifen«, und das bedeutet: ihrerseits zur Waffe der sozialen Schließung greifen.

So gehen Klassenkämpfe, schließungstheoretisch gesehen; und dies nicht erst heute, sondern grundsätzlich. Auf das Schließungshandeln der einen folgt das Schließungshandeln der anderen, auf die »Macht der Ausschließung« wird mit der »Macht des Solidarismus« reagiert. Ausschließung ist dabei Parkin zufolge die dominante Schließungsform: Sie bezeichnet das Streben einer sozialen Gruppe, ihre Lage oder Position durch Unterordnung und damit Schlechterstellung einer anderen Gruppe zu erhalten oder zu verbessern. Diese Schließung nach unten aber – die das ›Unten‹ gegebenenfalls erst im Akt der Schließung produziert – geschieht in einer komplexen Gesellschaft nicht nur einmal, sondern vielfach und immer wieder. Wer durch Schließung von Berechtigungsräumen ausgeschlossen wird, versucht zunächst dasselbe zu tun, also für wiederum andere den Zugang zu den verbleibenden Möglichkeiten und Ressourcen zu beschränken und damit ein weiteres ›Unten‹ zu schaffen. Parkins Vorstellung sozialer Schließungskaskaden ist dazu angetan, die Klassenanalyse moderner Gesellschaften aus der bei Marx angelegten dualistischen Engführung zu befreien. Der unauflösbare Widerspruch zwischen den Klassen erschöpft sich aus dieser Perspektive nicht im Gegensatz einer sozial ausschließenden Kapitalisten- und einer sozial ausgeschlossenen Arbeiterklasse. Vielmehr suchen Gruppen auf jeder Hierarchiestufe der Sozialstruktur, die verbleibenden Lebenschancen zu monopolisieren und gegen ein jeweils noch weiter abgehängtes Unten zu schließen.

Die zweite, nachgeordnete Schließungsform ist nach Parkin die des Solidarismus. Schließungstheoretisch gesehen ist dieser gewissermaßen das Brot der armen Leute: Wem es selbst nicht möglich ist, weiter nach unten auszuschließen, muss sich eben zusammenschließen und die Anstrengungen, seine soziale Lage oder Position zu verbessern, notgedrungen nach oben richten. Es geht hier also um die Schließungsversuche ausgeschlossener Gruppen, denen eigenes Ausschließungshandeln effektiv verschlossen ist – und die ihr Glück folglich darin suchen müssen, ein Stück vom Kuchen der Reichen und Mächtigen zu ergattern. Die eingangs dieses Kapitels genannten demokratischen Klassenkämpfe, zunächst des Bürgertums gegen den Adel und sodann der Arbeiterschaft gegen das Bürgertum, sind klassische Beispiele für mehr oder weniger erfolgreiche Versuche, bestehende Ressourcenmonopole – der politischen Macht, des ökonomischen Besitzes, der kulturellen Deutungshoheit – aufzubrechen und für die Teilhabe bislang von diesen ausgeschlossener Gruppen zu öffnen.

Der kurze Abriss von Parkins dynamischer Konzeption sozialer Schließungsbeziehungen und -konflikte sollte nicht ohne den Hinweis schließen, dass soziale Gruppen durchaus auch beide Strategien – Ausschließung und Solidarismus – gleichzeitig verfolgen können, um das größtmögliche Maß an Chancen und Ressourcen für sich zu beanspruchen. Eine solche schließungspolitische Doppelstrategie ist »charakteristisch für Gruppen, die auf der mittleren Ebene im Schichtungsgefüge angesiedelt sind«. Das berühmt-berüchtigte Radfahrerprinzip – nach oben buckeln, nach unten treten – ist demnach nur die defensive Variante des Schließungshandelns gesellschaftlicher Mittelklassen. Schließungstheoretisch mindestens ebenso plausibel ist der offensivere Versuch, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen: Während der Klassencharakter der ›Mittelschichten‹ nach Parkin durch ihre dominante, gegen die Unterklassen gerichtete Ausschließungsstrategie bestimmt ist, steht ihnen doch zugleich auch die Zweitoption eines die Oberklassen und deren Privilegien aufs Korn nehmenden solidaristischen Handelns offen. Wer die heutige politische Konfliktkonstellation etwa in der Bundesrepublik Deutschland betrachtet, wird unschwer eine solch doppelsinnige klassenpolitische Positionierung der ›Mitte‹ erkennen.

Wie Frank Parkin führt auch Raymond Murphy eine weiterführende begriffliche Unterscheidung in die Schließungstheorie ein, und zwar die von primären und abgeleiteten Schließungsformen. Damit leistet er den entscheidenden Beitrag, um die Vielzahl und Vielfalt gleichzeitig bestehender Schließungsbeziehungen in den Blick zu nehmen: Nur so lässt sich nämlich die gesellschaftliche Schließungsstruktur als Ganze erfassen, als Ordnung der Beziehungen zwischen sozialen Schließungsbeziehungen. Für Murphy zeichnen sich die westlichen, industriekapitalistischen Gesellschaften durch eine primäre Schließungsform aus, die deren gesamte, überaus komplexe Ordnung von ausschließenden und solidaristischen Handlungen maßgeblich strukturiert: Das ist die Institution des Privateigentums. Denn als Marktgesellschaften verweisen sie all diejenigen Nicht-Besitzenden, die von Privateigentum – im Marx’schen Sinne des gesellschaftlichen Produktivvermögens – ausgeschlossen sind, auf soziale Handlungsstrategien, die von eben diesem Ausschluss bestimmt oder bedingt werden, sprich: von ihm abgeleitet sind. Die Struktur sozialer Beziehungen gestaltet sich folglich derart, dass die Besitzer*innen von Produktivvermögen in der privilegierten Position sind, die Marktstrategien der Nicht-Besitzenden unmittelbar bestimmen oder mittelbar bedingen zu können.

Die Folgen dieser primären Schließungsform lassen sich an der gesellschaftlich allseits akzeptierten Bedeutung von Bildung als wohl bedeutsamstem sozialen Platzanweiser studieren. Alle Bürger*innen ohne Eigentum an Produktivkapital (oder ohne ein anderweitig erworbenes oder ererbtes Großvermögen, von dem sie – etwa in Gestalt multiplen Immobilienbesitzes oder eines sehr großen Glücksspielgewinns – auf Dauer leben könnten) sind zwecks Sicherung ihres Lebensunterhalts darauf verwiesen, ihr Arbeitsvermögen auf Arbeitsmärkten bestmöglich einzusetzen, um ein entsprechendes Arbeitseinkommen zu erzielen. ›Bestmöglich‹ bedeutet, dass sie über am Markt nachgefragte Qualifikationen verfügen bzw. nach dem Erwerb ebensolcher Qualifikationen streben müssen (heutzutage spricht man diesbezüglich von privaten Bildungsinvestitionen, die der Schlüssel zum individuellen Markterfolg seien). Welche Qualifikationen aber gesellschaftlich jeweils gefragt sind, welche Investitionen (so sie von den Marktbürger*innen getätigt werden können) sich überhaupt als renditeträchtig erweisen: Darüber entscheiden, um im (durchaus schiefen) Bild zu bleiben, nicht die Investor*innen selbst, sondern letzten Endes die Besitzer des Produktivvermögens. Deren Unternehmen sind es, die Arbeitskräfte einstellen (oder eben nicht). Deren Personalabteilungen sind es, die technologische Entwicklungen in betriebliche Stellenprofile übersetzen. Deren Branchenverbände sind es, die schulische und berufliche Bildungspläne beeinflussen. Wer sich als Arbeitskraftanbieter*in auf Arbeitsmärkten bewegt, dessen Handlungsstrategien sind – direkt oder indirekt – von den Handlungsstrategien der Kapitaleigner*innen abgeleitet, sei es nun im Versuch, den Vorteil einer nachgefragten Qualifikation zu schützen (und also den Qualifikationsraum gegenüber anderen zu schließen) oder aber umgekehrt an erfolgsträchtige und daher sozial begehrte Qualifikationen zu gelangen (und also den Zugang zu besagtem Qualifikationsraum für sich selbst zu öffnen). Murphy bezeichnet eine solche gesellschaftliche Schließungsordnung als »Tandemstruktur«: Wer hier vorne sitzt, der bzw. die vermag zu bestimmen, wohin...

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