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Grundlagen des alltäglichen und wissenschaftlichen Zeitverständnisses

Zu Heideggers Bezugnahme auf Aristoteles Zeitanalyse

AutorMichael Ebers
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl46 Seiten
ISBN9783640484676
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Studienarbeit aus dem Jahr 2009 im Fachbereich Philosophie - Philosophie des 20. Jahrhunderts, Note: 1,3, FernUniversität Hagen (Institut für Philosophie), Veranstaltung: Modul Theoretische Philosophie im Master-Studiengang Philosophie - Philosophie im europäischen Kontext, Sprache: Deutsch, Abstract: In seiner Habilitationsschrift >Über den Begriff der Zahl< erwähnt der junge Husserl beiläufig die 'bekannte Definition des Aristoteles der Zeit'. Husserl legt der aristotelischen Bestimmung der Zeit als 'Zahl der Bewegung' keine andere Bedeutung bei, als auf die 'erst seit Kant geläufige Bestimmung der Zahl als Anschauungsform der Zeit' bestenfalls vorausgedeutet zu haben, indem Aristoteles eine Definition findet, die Zeit und Zahl zusammendenkt. Die schwierige Stelle aus der Physik des Aristoteles lautet im griechischen Original: ????? ??? ????? ? ?????? ??????? ???????? ???? ?? ???????? ??? ???????. Heidegger übersetzt 1924 zunächst: 'Denn das ist die Zeit, das Gezählte an der Bewegung im Hinsehen auf vorher und nachher.' Schließlich gibt Heidegger im Jahr 1927 zwei weitere Übersetzungen: 'Das nämlich ist die Zeit, das Gezählte an der im Horizont des Früher und Später begegnenden Bewegung.' - und: 'das nämlich ist die Zeit: ein Gezähltes an der im Horizont des Früher und Später (an der in dem Hinblick auf Vor und Nach) begegnenden Bewegung.' Weder Husserls noch Bergsons Zeitanalysen thematisieren, worum es Heidegger geht, den 'Nachweis des Ursprungs der öffentlichen Zeit' - der »Weltzeit« - 'aus der faktischen Zeitlichkeit', d.h. ohne Rückgriff auf mathematische und physikalische Vorstellungen eines euklidischen oder nicht-euklidischen Raums. Die Arbeit rekonstruiert Heideggers Zeitdenken vor der berühmten »Kehre«, das sich mit Heideggers Auslegung der aristotelischen Bestimmung der Zeit in dem Abschnitt >Ontologische Differenz< der Vorlesung >Die Grundprobleme der Phänomenologie< zugleich vollendet und die »Kehre« vorbereitet, in seinen Grundzügen. Wenn Heidegger nach der »ursprünglichen Zeit« fragt, geht es ihm wesentlich um die Explikation der apriorischen Kategorie »Zeit« als einer ekstatisch-horizontalen Zeitstruktur, die alle Seins- und Welterkenntnis ursprünglich überhaupt erst ermöglicht. Der Verfasser zeichnet im Detail nach, wie Heidegger das der Zeit Rechnung tragende (und von daher über eine »Zeitrechnung« verfügende) »In-der-Zeit-Sein« - die ekstatische Einheit des »Gewärtigend-behaltenden-Gegenwärtigens«, das aus der »ursprünglichen Zeitlichkeit« entspringt und Anwesendes in die »Gegenwart« begegnen lässt - entfalten kann als eine je wechselnd »gespannte Jetzt-Zeit«, in der die jeweilige (zeitliche und nicht räumliche) »Erstreckung« bzw. »Dehnung der Zeit« der jeweiligen »Bedeutsamkeit« des »in der Zeit Entdeckten« entspricht.

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Leseprobe

4 Die Zeitigung der Möglichkeit von ausgesprochener und besorgter Innerzeitigkeit durch die ekstatische Einheit des Gewärtigend-behaltenden-Gegenwärtigens


 


Während in der »ursprünglichen Zeitlichkeit« die »Zukunft« dominiert, ist in der ekstatischen Einheit der »uneigentlichen Zeitlichkeit« nicht die »Zukunft«, sondern die »Gegenwart« die primäre Ekstase. Andererseits war »Gegenwart« aber die Ekstase, die den »phänomenalen Charakter« des »Begegnenlassens von« hat und der Horizont, in dem „Besorgtes entdeckt“[114] ist. Nach Heidegger ist

 

[…] die Gegenwart, das Begegnenlassen von, […] nicht selbst anwesend, ein Vorhandenes, sondern Gegenwart ist nur gegenwärtig.[115]

 

Die »Gegenwart« ist an sich selbst »uneigentlich«[116], denn

 

[…] Gegenwart, die den existenzialen Sinn des Mitgenommenwerdens ausmacht, gewinnt von sich aus nie einen anderen ekstatischen Horizont, es sei denn, sie werde im Entschluß aus ihrer Verlorenheit zurückgeholt, um als gehaltener Augenblick die jeweilige Situation und in eins damit die ursprüngliche »Grenzsituation« des Seins zum Tode zu erschließen.[117]

 

Die Zeitigungsweise, die »Gegenwart« als »Innerweltliches« begegnen lässt, nennt Heidegger »Innerzeitigkeit«[118]. Sie

 

[…] gründet in der ekstatischen Zeitlichkeit des Gewärtigend-behaltenden-Gegenwärtigens und […] begründet die mit Uhren berechnete und datierte Jetztfolge der vulgären Zeit.[119]

 

»Innerzeitigkeit« ermöglicht „den »selbstvergessenen« Umgang mit »Zuhandenem« und das Vorstellen von »Vorhandenem«.“[120] Sie ist

 

Gewärtigen des noch ausstehenden in der Zeit Seienden, Behalten des vergangenen, Gegenwärtigen des vorhandenen. Sie ist gewärtigend-behaltendes Gegenwärtigen oder […] ungewärtigend-vergessendes Gegenwärtigen und damit so an das Gegenwärtige verloren, daß sie die »Zeit […] nicht mehr zusammenbringen« kann.[121]

 

Die ekstatisch-horizontale »ursprüngliche Zeitlichkeit« und die ekstatische Einheit des »Gewärtigend-behaltenden-Gegenwärtigens« werden „vermittelt“[122] durch die »Geschichtlichkeit«[123]:

 

Die Geschichtlichkeit kann einerseits als die um die Dimension der Selbstheit erweiterte Zeitlichkeit des eigentlichen Existierens gesehen werden. Andererseits ist sie eine Voraussetzung der mit innerzeitigen Zeitmaßen operierenden Geschichtsschreibung.“[124]

 

Mit den Analysen zur »Geschichtlichkeit« in Sein und Zeit schließt Heidegger der Sache nach also genau an die Aufgabe an, die sich ihm bereits 1916 gestellt hatte, nämlich:

 

[…] wissenschaftstheoretisch in den eigentlichen Charakter der Geschichtswissenschaft einzudringen und sie als originale und auf andere Wissenschaften unreduzierbare Geisteshaltung theoretisch zu begründen.[125]

 

Und 1924 formulierte Heidegger:

 

Der Ausdruck »geschichtlich« meint das Zeitlichsein eines Seienden, sofern es durch den Charakter »vergangen« bestimmt und als dieses Vergangene ausdrücklich oder unausdrücklich einer Gegenwart zugehört, in sie herein ragt – als erinnert – bewahrt – bzw. vergessen.[126]

 

Der Sache nach geht es dem Heidegger von Sein und Zeit weiter darum, die „fundamentale Bedeutsamkeit des historischen Zeitbegriffes wie seiner völligen Andersartigkeit gegenüber dem der Physik“[127] aufzuweisen.

 

Das „Wesentliche des historischen Zeitbegriffes“[128] bestimmt der junge Heidegger von 1916 so:

 

Die Zeiten der Geschichte unterscheiden sich qualitativ.[129]

 

Die Zahl 750 und jede andere Geschichtszahl hat in der Geschichtswissenschaft nur Sinn und Wert mit Rücksicht auf das inhaltlich historisch Bedeutsame.[130]

 

Angesprochen ist also ein Problem, das die ganze abendländische Denktradition beschäftigt und das – woran hier zu erinnern ist – auch der junge Husserl zum Thema seiner Habilitationsschrift gemacht hat: der Zusammenhang von Zeit und Zahl, den Husserl aus der Sicht Heideggers mathematisch fundieren wollte, den Bergson über den Raum hergestellt hatte und der in der „ontologische[n] Ursprungsgeschichte des Zeitbegriffs“[131] erstmals in der aristotelischen Zeitbestimmung begrifflich gefasst wurde.

 

Angesprochen sind bereits 1916 die „(Geschichts-)Zahl“, d.i. in der Terminologie Heideggers von 1927 das Problem der »Datierbarkeit« und „das historisch Bedeutsame“, d.i. das Problem der »Bedeutsamkeit«.

 

4.1 Bedeutsamkeit


 


»Bedeutsamkeit«[132] ist für Heidegger „[…] kein Sachcharakter, sondern ein Seinscharakter“[133] und als solcher

 

[…] eine kategoriale Determination von Welt; die Gegenstände einer Welt, die weltlichen, welthaften Gegenstände sind gelebt im Charakter der Bedeutsamkeit.[134]

 

Die Bedeutsamkeit selbst aber, mit der das Dasein je schon vertraut[135] ist, birgt in sich die ontologische Bedingung der Möglichkeit dafür, daß das verstehende Dasein als auslegendes so etwas wie »Bedeutungen« erschließen kann, die ihrerseits das mögliche Sein von Wort und Sprache fundieren.[136]

 

Wenn Heidegger von einem „Erschließen“ bzw. der »Erschlossenheit« spricht, meint er damit kein „besonderes thematisches Wissen“[137], sondern dasjenige, „was solches Wissen allererst fundiert und ermöglicht“[138].

 

Die Aneignung und Verwahrung der erschlossenen Welt vollzieht sich im Dasein, das durch das Redenkönnen bestimmt ist als ein Ansprechen und Besprechen der begegnenden Welt. Die Vollzugsart ist das Ansprechen von etwas als etwas.[139]

 

Nur weil das Dasein »innerweltlich« und »innerzeitlich Begegnendes« je schon in seinem Sein »erschlossen« hat – d.h. etwas als etwas anspricht – können „gültige Urteile gefällt und sinnvolle Aussagen über die Sachen ausgedrückt werden“[140], so dass

 

am Ende eine Aussage nur deshalb wahr sein kann, d.h. in ihrem Aussagehalt an das Worüber angemessen [sein], weil dieses Seiende schon irgend enthüllt ist, – d.h. eine Aussage über ... ist nur deshalb wahr, weil der Umgang mit ... schon eine gewisse Wahrheit hat.[141]

 

Es ergibt sich: Durch Heideggers Zeitanalysen von Sein und Zeit werden das (Ursprungs-)»Phänomen der Zukunft«[142], das der existenzielle Vollzug in der primären Ekstase der »Zukunft« zeitigt, indem er „sich von der Unbestimmtheit als solcher angehen[143] lässt, durch »die Unbestimmtheit als solche« (Sein überhaupt) fundamentalontologisch fundiert und das (Ursprungs-)»Phänomen der Welt«[144], das der existenzielle Vollzug in der primären Ekstase der »Gegenwart« zeitigt, durch seine je konkrete „Bestimmtheit[145] (Seiendes) fundamentalontologisch fundiert.

 

4.2 Datierbarkeit


 


Ein »gleichursprüngliches« Strukturmoment der ekstatischen Einheit des »Gewärtigend-behaltenden-Gegenwärtigens«, das Anwesendes »in-der-Zeit« begegnen lässt, ist die »Datierbarkeit«:

 

Wir nennen [die] scheinbar selbstverständliche Bezugsstruktur der »jetzt«, »damals« und »dann« die Datierbarkeit.[146]

 

Nach Heidegger kann „das Dasein als Zeitlichkeit ein Verhalten zeitig[en], das sich in der Weise zur Zeit...

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