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E-Book

Grundlegung einer psychoanalytischen Pädagogik

Aufgaben und Möglichkeiten eines Schulversuchs

AutorGustav Berking
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl696 Seiten
ISBN9783741247682
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Anna Freud (1895-1982) in einem Brief an den Autor: '... Ich bin Ihren Gedankengängen mit großem Interesse und Respekt gefolgt und konnte feststellen, dass Sie in keine der Abwege und Fallen gegangen sind, in die sich sonst diejenigen verirren, die aus dem Gebiet der Erziehung in das der Analyse kommen. Ihre Kenntnis der analytischen Literatur ist ganz hervorragend und die Art, wie Sie die Gedankengänge der Analyse auf die Probleme der Erziehung anwenden, ist souverän.... Dass es Ihnen gelingt, nirgends in die Weltanschauung zu verfallen, sondern sogar dem Problem der Reife gegenüber objektiv zu bleiben, ist etwas ganz Seltenes. In allen diesen Beziehungen habe ich beim Lesen wirklich besondere Freude an Ihrer Arbeit gehabt....' Hans Zulliger (1893-1965) in einem Brief an den Autor: '... ich hatte schon längst selber im Sinn, so etwas zu unternehmen - eine Pädagogik auf Grund psychoanalytischer bzw. 'tiefenpsychologischer' Erkenntnisse zu verfassen. Nun bin ich froh, dass Sie mir gleichsam 'eine Arbeit abgenommen' haben, die längst fällig ist. Ich glaube, Ihr Werk sei notwendig und not=wendend, und ich beglückwünsche Sie herzlich dazu! Es öffnet sehr weite Perspektiven...'

Gustav Berking, geboren 1908, studierte Kulturwissenschaften an der Technischen Hochschule zu Braunschweig und schloss das Studium 1931 mit dem Zeugnis der Lehrbefähigung an Volksschulen ab. Aus politischen Gründen wurde er nicht in den Schuldienst übernommen; auch eine Promotion war ihm verwehrt. Er war dann ein Jahr Lehrer an der Berthold-Otto-Schule in Berlin-Lichterfelde, wurde aber auch da als politisch nicht tragbar entlassen (B. Otto leitete damals die Schule nicht mehr selbst). Schon während dieser Zeit und danach arbeitete er in einem Heim für schwererziehbare und entwicklungsgehemmte Kinder des 'Vereins für Elternberatung e.V.' in Berlin. Auch diese Arbeit fand, Anfang 1933, ein plötzliches Ende. Kurz vor und wieder während des Zweiten Weltkriegs arbeitete er bei der Deutschen Fernkabel-Gesellschaft. Im Sommer 1945 ging er als Lehrer in ein kleines Dorf, Bartshausen, Kreis Gandersheim, und legte dort 1947 die 2. Lehrerprüfung ab. Im Kultusministerium von Niedersachsen wurde zu dieser Zeit eine Änderung des Schulsystems geplant. Zur Vorbereitung war eine Untersuchung über die 'Grundlagen, Aufgaben und Möglichkeiten des Schulversuchs' notwendig. Diese Untersuchung wurde 1950 Gustav Berking vom niedersächsischen Kultusminister übertragen. Die Untersuchung wurde 1954 abgeschlossen und eingereicht. 1955 gab es einen Regierungswechsel in Niedersachsen. Eine Änderung des Schulsystems war nicht mehr geplant. Die Untersuchung war somit für die Schulverwaltung gegenstandslos geworden; eine Publikation gab es nicht. Gustav Berking wurde wissenschaftlicher Assistent am Heilpädagogischen Institut der Pädagogischen Hochschule in Hannover. Ab 1958 unterrichtete er an der Sonderschule für Lernbehinderte in Braunschweig, 1960 war er (zusammen mit seiner Frau) Gründungsmitglied der Braunschweiger 'Lebenshilfe' und 1964 baute er in Braunschweig nach eigenen Plänen die erste Schule für geistig Behinderte in Niedersachsen auf und leitete sie bis zu seiner Pensionierung 1972. Gustav Berking starb 1982.

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Leseprobe

A. Vorgänge und Ergebnisse der Entwicklung


1. Entwicklungsanfänge


Was hat die psychische Entwicklung des Säuglings mit dem Schulversuch zu tun? Geraten wir mit einem solchen Zurückgreifen nicht in jene Abwegigkeit, die man als typisch deutsch zu tadeln pflegt44 und ersetzt sehen möchte durch die besonders an Engländern und Amerikanern gerühmte Arbeitsweise, die angeblich das Praktische, Naheliegende, weitaus bevorzugt? Dieser Forderung liegt aber ein Mißverständnis zu Grunde. Gerade das englisch-amerikanische Beispiel zeigt, daß das eine das andere nicht ausschließt, beides vielmehr eng zusammen gehört. Gerade dort wurden zunehmend große praktische Erfolge erzielt in Verbindung mit bemerkenswerten theoretischen Leistungen, was die ständig zunehmende Zahl englischer und besonders amerikanischer Nobelpreisträger unverkennbar anzeigt. Gerade dort wird auch die theoretische Forschung in einem Grade gefördert, der uns unerreichbar erscheint. Was als unmittelbare Zuwendung zur Praxis empfohlen wird, scheint das Pröbeln zu sein, und das gehört ja, wie sich angezeigt haben mag, polar zu jener als fatal empfundenen Tiefgründigkeit; beides ist vom wissenschaftlichen Denken gleich weit entfernt.

So kennzeichnet die eingangs gestellte Frage, das heißt, daß sie überhaupt ernsthaft gestellt wird, gerade jenes Strukturprinzip, dem wir nicht ausgeliefert sein wollten und das schon die Zuwendung zu den Tatsachengebieten in positivem oder negativem Sinne beeinflußt. Kein Tierzüchter, kein Landwirt, kein Gärtner wendet seine Aufmerksamkeit den Tieren und Pflanzen erst dann zu, wenn sie schon einen Teil ihrer Entwicklung hinter sich haben, geschweige denn ein Biologe. Hier gilt es als selbstverständlich, daß schon Auswahl und Behandlung zum Beispiel des Saatgutes die gleiche sorgfältige Beachtung verdienen wie jede andere Phase der Entwicklung. Wenn schon die Erziehung nicht soweit, also nicht in den Bereich der Eugenik zurückgreift, wenn sie die Kinder so zu nehmen hat, wie sie geboren werden, dann muß die Erziehungswissenschaft wenigstens von diesem Zeitpunkt ab die Entwicklung zum Objekt ihrer Forschung machen. Das gilt um so mehr, als wir heute wissen, daß etwa die ersten fünf Lebensjahre eines Menschen von entscheidender Bedeutung für sein ganzes Leben sind. Es muß wohl merkwürdig sein, daß diese Tatsache, deren Anerkennung sich in der Psychologie zunehmend durchgesetzt hat, immer noch keine merkbaren Wirkungen auf die Pädagogik ausübt. Ein deutliches Zeichen dafür ist die mindere pädagogische Ausbildung und soziale Stellung der Kindergärtnerinnen gegenüber dem Lehrer. Noch die fortschrittliche schwedische Schulreform hat bemerkenswerterweise die Småskola beibehalten, das ist die Unterstufe der Volksschule, an der geringer ausgebildete und schlechter bezahlte Lehrkräfte unterrichten, und zwar Lehrerinnen (nach einer mündlichen Auskunft soll es 1950 im ganzen Lande nur 16 männliche Lehrkräfte an dieser Unterstufe gegeben haben).

Gehört nun die Entwicklung von dem Augenblick an, in dem erzieherische Einflüsse einsetzen, zum Tatsachengebiet der Erziehungswissenschaft, dann auch bis zu ihrem Ende. Dies kann gewiß nicht ein zufälliger Abschluß sein, nicht eine der vielen möglichen Erstarrungen oder Verkümmerungen der Entwicklung, auch nicht der willkürlich festgesetzte Zeitpunkt einer Schulentlassung oder einer Prüfung, mit welcher ein Mensch für reif erklärt wird, sondern nur das unter günstigen Bedingungen erreichbare Ende der Ontogenese, dem, als Reife, eine besondere Bedeutung in der Erziehung zukommen muß. Aber ist hiermit nicht das Arbeitsgebiet der Entwicklungspsychologie umschrieben? Das ist richtig, doch diese hat ihre spezifische Fragestellung. Sie fragt nach dem Verlauf von Entwicklungen und nach Entwicklungsstufen, vergleicht auch die Ontogenese mit Erscheinungen bei den so genannten Naturvölkern. Ihre Funde sind für die Erziehung ohne Frage grundlegend wichtig, sie gilt mit Recht als die wichtigste Hilfswissenschaft der Erziehungswissenschaft. Diese fragt speziell nach dem Zusammenhang zwischen der Entwicklung und den Reaktionen der Erwachsenen, in deren Welt das Kind aufwächst, auf die Entwicklung. Es ergibt sich aus den vorangehenden Erörterungen, daß keine dieser Reaktionen von vornherein außer Betracht bleiben darf. Das führt zu der Definition Bernfelds: „Die Erziehung ist… die Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache.“45 Gehört nun zu einer Grundlegung für die Erörterung erziehungswissenschaftlicher Fragen die Darstellung der Entwicklungstatsachen, dann im Hinblick auf den Zusammenhang zwischen der Entwicklung und den Reaktionen der Erwachsenen darauf. Dies soll auf die schon angegebene Weise in diesem ersten Abschnitt des ersten Teils der Arbeit versucht werden, wird sich aber nicht streng durchführen lassen, sofern nämlich auch die Erwachsenenreaktionen erst aus dem Entwicklungsablauf, und zwar im ganzen, verständlich gemacht werden können. Darum sollen diese Reaktionen, auch ihr gesellschaftlicher Ausdruck, in einem besonderen Abschnitt im Zusammenhang behandelt werden.

Wir sprechen vom Paradies der Kindheit, aber die genaue Beobachtung hat längst erwiesen, wie sehr wir damit unrecht haben. Das Kind mag andere Nöte und Sorgen haben als wir, und wir mögen uns so weit davon entfernt haben, daß wir darüber lächeln, aber für das Kind bedeuten sein Schmerz und sein Kummer, gewiß nicht weniger als unsere Schmerzen für uns. Aber vielleicht dürfen wir nicht von „dem“ Kind sprechen, vielleicht ist mit der paradiesischen Zeit nur die allerfrüheste gemeint? Oder vielleicht ist der Glaube an ein Paradies, ein Goldenes Zeitalter, das Primäre, und wir sind nur in Verlegenheit, ihn zeitlich unterzubringen, und die Dunkelheit der frühesten Kindheit bietet sich bereitwillig dazu an.

Der Glaube an ein Paradies, ein verlorenes, aus dem die Menschen einst vertrieben wurden, oder an ein zukünftiges (wiederzugewinnendes?), ein seliges Leben nach dem Tode, einen künftigen ewigen Frieden: er ist uralt und mindestens aus dem Wunsch nach Frieden und Geborgenheit von jedem wieder nachzufühlen. Die platt-rationalistische Aufklärung, die so manches Wunder als „ganz natürlichen“ Vorgang zu erklären sich bemüht hat, konnte gegen einen so starken Glauben nichts ausrichten. Er ist mächtig und wirksam, und viele Menschen können recht unfriedlich werden, wenn ihnen jemand die Wahrheit dieses friedlichen Paradieses in Zweifel zu ziehen versucht, ja viele zeigen sich bereit, für den Bestand und die Ausbreitung eines solchen Glaubens beträchtliche Opfer auf sich zu nehmen, sogar dafür zu sterben, und andere, Ungläubige, Zweifel-Säende, mit Feuer und Schwert eines Besseren zu belehren. Was so stark wirksam ist und so allgemein besteht, muß höchst bedeutungsvoll sein: einer solchen Erscheinung gegenüber gibt es nicht nur Glauben oder Unglauben oder Desinteressiertheit, sondern wiederum ein aufmerksames Interesse – aus der wissenschaftlichen Denkweise. Dieser Glaube ist ein Beispiel für das, was hier als „psychische Realität“ bezeichnet wurde. Er ist für das wissenschaftliche Denken eine Tatsache, die nicht nur anzuerkennen, nicht nur im Einzelfalle oder in der gesamten Weltliteratur aufzusuchen und zu beschreiben, sondern auch zu ergründen ist: nicht anders als eine Naturerscheinung.

Das kann nun gewiß nicht hier geschehen. Stattdessen wird eine Theorie wiedergegeben, die die größte Wahrscheinlichkeit für sich hat. Es bedarf allerdings einiger Voraussetzungen, die erst später deutlich werden können (nicht einmal einem jeden), daß man sich nicht sogleich, mehr oder weniger unbewußt, gegen eine solche Theorie sperrt, sondern sie als das nimmt, was sie sein will: als wohl begründetes, dennoch der Korrektur offen bleibendes Ergebnis wissenschaftlichen Denkens, und nicht als ein als Ganzes hinzunehmender oder abzulehnender, Überzeugung heischender Systembestandteil. Dieser Glaube, sagt diese Theorie, sei tatsächlich keine bloße Einbildung, sondern gehe auf ein reales Erlebnis zurück: auf das in jeder Entwicklung wiederholte Erlebnis paradiesischer Geborgenheit in der vorgeburtlichen Situation. Wir können sie nicht mit Worten erinnern, ebenso wenig wie alles sonst, was wir erlebt haben, ehe wir das Sprechen lernten; ja wir können sie, genau genommen, gar nicht erinnern, weil wir sie nie vergessen haben, und dies, weil sie niemals bewußt gewesen ist46. Unverlierbar gegenwärtig bleibt das Gefühl, einmal im Paradiese gewesen zu sein, in völliger Ruhe, zeitloser, reizloser Geborgenheit. Unser ganzes Leben hindurch bleiben wir der Anziehungskraft dieses mächtigen Erlebnisses ausgesetzt, und wenn wir ihm später in Worten, Gestaltungen oder anderen Handlungen Ausdruck geben, dann zu allen Zeiten: in Träumen oder Träumereien, Märchen, Mythen, Sagen, auch in gewissen Verhaltensweisen oder Reaktionen, in immer der gleichen Weise. Ist nun aber die Paradiessehnsucht oder auch nur der Wunsch nach Schlaf und Tod, nach dem Zustand der...

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