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E-Book

Grundsätze sozialer Gerechtigkeit

AutorDavid Miller
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2008
Seitenanzahl382 Seiten
ISBN9783593402796
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Philosophische Theorien der Gerechtigkeit nehmen die Vielfalt alltäglicher Gerechtigkeitsurteile selten zur Kenntnis. Anders dagegen David Miller: Ausgehend von einer Analyse der Kontexte, in denen die in der Gesellschaft kursierenden Gerechtigkeitsvorstellungen entstehen, zeigt er deren Vielgestaltigkeit - und ihren philosophischen Gehalt. Er identifiziert drei Grundsätze, die allen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit zugrunde liegen: Bedarf, Verdienst und Gleichheit. Seine zentrale These ist, dass mit den unterschiedlichen Formen menschlicher Beziehungen der jeweilige Stellenwert dieser Grundsätze variiert. Millers klar und unprätentiös geschriebenes Buch verdient es, in einem Atemzug mit den Werken von Rawls und Walzer genannt zu werden. Glanzstücke seiner Argumentation sind unter anderem seine Bemerkungen zur Rolle von Glück bei der Beurteilung von Leistungen für das Gerechtigkeitsempfinden.

David Miller lehrt Sozialphilosophie und politische Theorie am Nuffield College in Oxford.

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Leseprobe
Die leitende Idee dieses Buches lautet, dass wir, um die Idee der sozialen Gerechtigkeit zu verstehen, zunächst die kontextuelle Natur der sozialen Gerechtigkeit verstehen müssen. Damit meine ich, dass man Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit und besonders Grundsätze der Verteilungsgerechtigkeit nur verstehen kann, wenn man die gesellschaftlichen Kontexte ins Auge fasst, in denen sie angewandt werden: Diese Kontexte helfen uns nicht nur, den Sinn der verschiedenen Grundsätze zu erfassen, sondern sind auch für ihre Rechtfertigung relevant. Die Grundsätze sollten jeweils nicht als abstrakte Spezifikation von Gerechtigkeit im Allgemeinen, sondern als Spezifikation dessen betrachtet werden, was Gerechtigkeit in diesem speziellen sozialen Zusammenhang - oder in diesen verschiedenen Zusammenhängen - bedeutet. Diese Idee ist uns im Alltagsleben wohl vertraut. Als moralische Akteure wechseln wir mühelos zwischen sozialen Kontexten und schalten dabei auch von einem Gerechtigkeitsgrundsatz zum anderen um, ohne lange über unser Tun nachzudenken. Wir verhalten uns zueinander als Familienmitglieder, Arbeitskollegen, Rivalen im Sport, Geschäftspartner in der Wirtschaft, Mitbürger und so fort, und wissen in jedem dieser Zusammenhänge instinktiv, was die Gerechtigkeit von uns verlangt, wenn wir die verschiedensten Ressourcen - Geld, Güter und Dienstleistungen, Positionen, Preise, Vergütungen - zuweisen sowie Kosten und Lasten aufteilen müssen. Natürlich kann der Kontext manchmal mehrdeutig sein - einem Arbeitskollegen sind wir möglicherweise sowohl freundschaftlich wie beruflich verbunden - und dann stehen wir vielleicht bei gewissen Verteilungsfragen vor dem Dilemma, nicht zu wissen, welchen Gerechtigkeitsgrundsatz wir anwenden sollen. Aber im Allgemeinen beherrschen wir das, was ich im Buch 'die Gerechtigkeitsgrammatik' nenne, ziemlich gut. Man kann es als das Problem der sozialen Gerechtigkeit ansehen, wie diese Grammatik auf jene großen und komplexen menschlichen Vergesellschaftungsformen übertragen werden kann, die wir 'Gesellschaften' nennen. Wären die sozialen Beziehungen innerhalb dieser Assoziationen eindimensional, handelte es sich bei der sozialen Gerechtigkeit um eine relativ einfache Angelegenheit. Wenn eine Gesellschaft beispielsweise nur ein gigantischer Marktplatz wäre, auf dem die Marktteilnehmer in Verfolgung ihrer individuellen Ziele Güter und Dienstleistungen tauschten, würden wir unter Gerechtigkeit bloß die Forderung verstehen, ohne Anwendung von Gewalt, Betrug und dergleichen Äquivalente zu tauschen. Wäre eine Gesellschaft dagegen wirklich eine große Gemeinschaft - etwa eine stark vergrößerte Version des israelischen Kibbuz' -, müsste ein ganz anderer Grundsatz angewandt werden. Da Gesellschaften aber offensichtlich komplexer sind als diese beiden Bilder suggerieren - die Gesellschaftsmitglieder sind miteinander auf verschiedenartige Weise verbunden -, muss auch die soziale Gerechtigkeit komplex sein. Sie muss mehrere Grundsätze umfassen, die nicht aufeinander reduzierbar sind. Im Buch habe ich mich auf drei der wichtigsten Grundsätze konzentriert - auf Verdienst, Bedarf und Gleichheit - ohne damit unterstellen zu wollen, dass es sich dabei um eine vollständige Aufzählung handelt. Ich glaube jedoch nach wie vor, dass viele Dilemmas, mit denen wir es in der Praxis zu tun bekommen, wenn wir die Idee der sozialen Gerechtigkeit auf staatliche Politik anwenden, aus Konflikten zwischen diesen drei Grundsätzen erwachsen. Es ist daher eine wichtige theoretische Aufgabe, den Geltungsbereich jedes dieser drei Grundsätze zu bestimmen. Dieser Theorie der sozialen Gerechtigkeit ist von manchen Kritikern eine konservative Schlagseite, das heißt eine zu enge Ausrichtung der Gerechtigkeitsidee an den tatsächlichen Verteilungsverfahren vorgeworfen worden - ein Vorwurf, der auch gegenüber anderen kontextuellen Theorien wie der von Michael Walzer erhoben wurde.2 Sie ist aber natürlich nicht in dem strengen Sinne konservativ, dass sie die bestehenden Institutionen und Praktiken rechtfertigen würde: Einer kontextuellen Theorie fällt es nicht schwer zu zeigen, dass das bestehende Recht und die tatsächlich angewandten Verfahren in Bezug auf die zu regulierenden menschlichen Beziehungen ungerecht sein können. Man kann sich beispielsweise auf die Verdienstidee beziehen, um zu zeigen, dass das bei Beschäftigung und Einkommen vorherrschende Verteilungsmuster zutiefst ungerecht ist. Trotzdem ist es wahr, dass die Theorie durch die Verortung der Gerechtigkeit im Kontext tatsächlich existierender Formen menschlicher Vergesellschaftung die Möglichkeit ausschließt, diese Formen durch Berufung auf ein abstrakteres Prinzip in Bausch und Bogen zu verdammen. Angenommen Verteilungsgerechtigkeit würde zum Beispiel mithilfe eines Grundsatzes der Ergebnisgleichheit definiert - etwa Gleichheit der Ressourcen oder der Wohlfahrt. Dann müssten viele der gegenwärtig üblichen menschlichen Praxen - Familienleben, wirtschaftliche Kooperation unter anderen als Gleichheitsbedingungen, Wettkampfsport, die Ehrung und Auszeichnung besonderer Leistungen in verschiedenen Bereichen - schlicht als Hindernisse für die soziale Gerechtigkeit angesehen werden. Die Frage würde dann lauten, wie weit es möglich ist, sich solcher Praktiken zu entledigen, und in welchem Maße wir bereit wären, zugunsten anderer Werte Zugeständnisse bei der sozialen Gerechtigkeit zu machen. Dieser radikale Schritt hätte jedoch zur Folge, dass die Idee der sozialen Gerechtigkeit nicht mehr als die praktische Richtschnur für institutionelle und politische Reformen taugen würde, als die sie, wie im Buch unterstellt, im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ursprünglich die Szene betrat. Wenn Gerechtigkeit nicht weniger als die radikale Umgestaltung aller menschlichen Beziehungen erfordert, sind kleinere Änderungen relativ sinnlos; die Marxisten hatten von ihrem Standpunkt aus Recht, wenn sie Gerechtigkeit als bloßes Palliativ betrachteten, das die Aufmerksamkeit von dem eigentlichen Menschheitsproblem ablenkt. Einigen Philosophen bereitet diese mangelnde Anwendbarkeit offensichtlich kein Problem. Sie betrachten Gerechtigkeit als eine platonische Idee, als bloßes Reflexionsobjekt, das die Schlechtigkeit der bestehenden menschlichen Gesellschaften erklärt. Sie nehmen bereitwillig eine grundlegende Differenz zwischen der eigentlichen Gerechtigkeit und den Gerechtigkeitsvorstellungen hin, mit deren Hilfe die Menschen tatsächlich ihre Alltagsbeziehungen regeln. Im Gegensatz zu dieser platonischen Sicht gehe ich davon aus, dass eine Theorie der sozialen Gerechtigkeit den Zweck hat, Grundsätze zur Regelung von sozialen Beziehungen auszuarbeiten, denen sich gewöhnliche Menschen aus freien Stücken anschließen können; sie soll, um es in einem Begriff aus dem späteren Werk von John Rawls auszudrücken, eine 'realistische Utopie' sein - Utopie, weil sie eine Welt beschreibt, in der die Menschen tatsächlich mit Institutionen leben, die ihren Gerechtigkeitsvorstellungen entsprechen, realistische Utopie jedoch, weil sie die Grenzen des tatsächlich Möglichen anerkennt.3 Dabei handelt es sich nicht nur um die von den physikalischen Naturgesetzen gezogenen Grenzen. Es ist uns physisch durchaus möglich, im Einklang mit Grundsätzen zu leben, die unseren steinzeitlichen Vorfahren entsprochen hätten. Angesichts unserer tiefen Bindung an verschiedene Eigentümlichkeiten des modernen Lebens, so beispielsweise an die Freiheit, unsere persönlichen Beziehungen, Berufe, religiösen Überzeugungen und dergleichen frei zu wählen, ist es jedoch praktisch unmöglich. Eine Gerechtigkeitstheorie, die von uns verlangen würde, diese Freiheiten zu opfern, würde nicht auf eine realistische Utopie im Rawls'schen Sinne hinauslaufen.
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