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E-Book

Gurlitts Schatz

Hitlers Kunsthändler und sein geheimes Erbe

AutorCatherine Hickley
VerlagCzernin Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783707605754
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Gurlitts 'Schatz' ist eine Kunstsammlung, die ob ihrer Größe beeindruckt. Über 1200 Werke der bildenden Kunst, das stolze Erbe seines Vaters Hildebrand Gurlitt, lagerte Cornelius Gurlitt in seiner Münchner Privatwohnung, als dieses Who's who der Kunstgeschichte entdeckt wurde - ein weiterer Fund in Salzburg folgte. Reißerische Schlagzeilen über den 'Jahrhundertfund' von Raubkunst überschlugen sich. Doch was hat es mit dieser Sammlung und ihrer Herkunft tatsächlich auf sich? Wer war Hildebrand Gurlitt und welche Rolle spielte er während des Nationalsozialismus? War er Täter, Profiteur, gar Retter von Kunstwerken? Mit 'Gurlitts Schatz' liegt nun die bisher fundierteste Untersuchung des 'Falles Gurlitt' vor, für die Catherine Hickley präzise Archivrecherche betrieben und rechtmäßige Erben der Bilder aufgespürt hat. In ihrem hochaktuellen und differenzierten Buch wird einmal mehr klar, dass es im Umgang mit diesem Teil unserer Geschichte nicht nur Schwarz und Weiß, sondern viele Grauzonen gibt. Aus dem Englischen von Karin Fleischanderl.

Catherine Hickley geboren 1967 in England, Studium der Germanistik und Romanistik in London, anschließend Journalistin in der Schweiz, Ungarn und Berlin. 16 Jahre bei Bloomberg News, dort verantwortlich für die Kunst- und Kulturberichterstattung aus Berlin. Catherine Hickley hat sich in ihrer langjährigen Karriere als Journalistin vor allem durch ihre zahlreichen Artikel über Raubkunst der Nationalsozialisten einen internationalen Namen gemacht.

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Leseprobe

Zwei Reiter am Strand



Max Liebermanns Zwei Reiter am Strand, 1901. Das Gemälde gehörte David Torens Großonkel David Friedmann. (Foto: Privatbesitz)

November 2013
Als der Augsburger Staatsanwalt Reinhard Nemetz seinen spektakulären Fund herzeigte, schaute Lothar Fremy, ein schwer aus der Fassung zu bringender norddeutscher Rechtsanwalt, der vor dreißig Jahren nach Berlin übersiedelt war, gerade fern. Er erblickte Cornelius Gurlitts Schatz: 1200 Gemälde, Zeichnungen, Lithographien und Drucke, darunter auch einige bisher unbekannte Werke, etwa eine Gouache von Marc Chagall und ein Selbstporträt von Otto Dix. Die Liste las sich wie ein Who’s who der Kunst: Pablo Picasso, Paul Cézanne, Edgar Degas, Henri Matisse, Franz Marc, Henri de Toulouse-Lautrec, Oskar Kokoschka, Gustave Courbet, Paul Klee, Ernst Ludwig Kirchner, Albrecht Dürer, Canaletto, Jean-Auguste-Dominique Ingres. Die Werke waren zwischen Marmeladegläsern, Saftkartons, Nudelpackungen und im letzten Jahrhundert abgelaufenen Konservendosen versteckt gewesen.

Gurlitts Wohnung war vermüllt, doch laut Meike Hoffmann, der Berliner Kunsthistorikerin, die den Fund inspizierte, waren die Kunstwerke korrekt aufbewahrt. Sie waren staubig, viele von ihnen ungerahmt, aber unbeschädigt. »Das ist ein unglaubliches Glücksgefühl«, so Hoffmann bei der Pressekonferenz in Augsburg, »wenn ich sehe, dass es diese Bilder noch gibt.«

Jedes einzelne Bild hatte eine Geschichte zu erzählen, eine Geschichte wechselnder Besitzer, die jedoch erst rekonstruiert werden musste. Die Stränge der Geschichte, die Teile der einzelnen Narrative, mussten mühsam aus Dutzenden Archiven ausgegraben werden: aus Inventurlisten, alten Katalogen, Geschäftskonten und persönlichen Briefen. Von einigen Kunstwerken wusste man, dass sie im Rahmen des Feldzugs Adolf Hitlers und Joseph Goebbels’ gegen sogenannte »entartete Kunst« in deutschen Museen beschlagnahmt worden waren. Andere, vielleicht hunderte, waren jüdischen Sammlern geraubt oder von Juden verkauft worden, die aufgrund der NS-Rassenpolitik ihren Lebensunterhalt nicht mehr verdienen konnten.

Fremy sah, dass Hoffmann einige der lange verloren geglaubten Bilder auf eine Leinwand projizierte. Ein Gemälde von Max Liebermann in einem reich verzierten Rahmen, das in Gurlitts Wohnung gehangen hatte, tauchte auf. Auf einem Sandstrand irgendwo in Nordeuropa reiten zwei Männer entlang der Wasserlinie, der vordere lehnt sich zurück und wendet sich zu seinem Begleiter, als wolle er ihm über die Brandung hin etwas zurufen. Hinter ihnen befindet sich eine bewegte, raue See, der Himmel ist wolkenverhangen, stellenweise blitzt Blau auf.

Fremy war erstaunt. »Das kenne ich doch«, sagte er. »Danach haben wir jahrelang gesucht.«1

David Toren, Fremys Klient, hatte fünfundsiebzig Jahre lang nichts über den Verbleib des Gemäldes gewusst. Toren ist pensionierter Patentanwalt und lebt mit seiner Frau im dreiundzwanzigsten Stockwerk eines Wohnhauses auf der Madison Avenue in New York. Seine Wurzeln liegen jenseits des Atlantiks, in einem Land namens Schlesien, das einmal zu Deutschland gehört hatte und jetzt Teil Polens ist.2

––––

David Toren wurde am 30. April 1925 als Klaus-Günther Tarnowksi geboren und wuchs als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie im noblen Süden von Breslau, dem heutigen Wroclaw, auf. Während der industriellen Revolution hatte die Stadt einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt und war zur fünftgrößten Stadt in Deutschland geworden. Trotzdem war Breslau Ende des 19. Jahrhunderts kulturelle Provinz. Die öffentlichen Kunstsammlungen waren spärlich ausgestattet, nicht zuletzt, weil es kein königliches Erbe gab, das man ausstellen hätte können. Das erst 1880 gegründete Nationalmuseum war auf Schenkungen und Leihgaben reicher Bürger angewiesen – bis Ende des 19. Jahrhunderts waren das zum Großteil Adelige, Industrielle und Gelehrte. Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Sammler und Mäzene vorwiegend Juden.3

Zur Zeit von Torens Geburt befand sich in Breslau eine florierende jüdische Gemeinde mit ungefähr 23 das ist ein monet0 Mitgliedern, die drittgrößte in Deutschland nach Berlin und Frankfurt.4 Die Juden waren Kaufmänner, Geschäftsleute, Rechtsanwälte, Akademiker, Lokalpolitiker und Handwerker. Sie bereicherten das Kulturleben auf unglaubliche Weise, stellten in den Museen ihre beeindruckenden Sammlungen aus, machten großzügige Schenkungen moderner Kunst und schufen die Voraussetzungen für einen florierenden Kunsthandel.5 Die Juden spielten eine Schlüsselrolle in der Kunstszene der Stadt, als Publikum finanzierten sie den Opern-, Orchester- und Theaterbetrieb. Toren erinnert sich, er habe als Kind die Zauberflöte gesehen.

Trotz ihrer religiösen Traditionen waren die meisten Breslauer Juden, wie auch Torens Vater, Dr. Georg Martin Tarnowski, Deutschnationale, sie verehrten die deutsche Kultur und waren ins öffentliche Leben der Stadt eingebunden. Die Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden waren zwar eingeschränkt, aber freundlich.6 Tarnowski senior hatte wie viele Breslauer Juden im Ersten Weltkrieg gedient. Er leitete den Ortsverband des Reichsbundes Jüdischer Frontsoldaten. Versuche, ihn für den Zionismus zu gewinnen, scheiterten.

Gemeinsam mit seinem älteren Bruder, Hans Hermann Alfred Eberhard Tarnowski, wuchs Toren in einer luxuriösen Wohnung auf, an den Wänden hingen mehr als ein Dutzend Bilder des jüdischen Impressionisten Lesser Ury. Die Wohnung der Familie befand sich über einem Spirituosenladen an der Kaiser-Wilhelm-Straße – einem Boulevard, den Toren als »Breslauer Champs-Élysées« beschreibt. Adolf Hitler benannte sie später in SA-Straße um, zu Ehren der Sturmabteilung, der brutalen paramilitärischen Einheit der Nationalsozialisten.

Tarnowski senior, ein erfolgreicher Rechtsanwalt, war nicht strenggläubig, die Familie besuchte die Neue Synagoge, nach der Berliner Synagoge die zweitgrößte und zweitschönste Synagoge in Deutschland. Es war eine Reformgemeinde. Als Torens Vater seine Mutter heiratete, brachte sie einen Sitz in der Mitte der zweiten Reihe mit in die Ehe, ein Statussymbol, auf das er sehr stolz war.

Toren besuchte gemeinsam mit einer Handvoll anderer jüdischer Schüler eine fortschrittliche private Grundschule namens Weinholdschule. Unter seinen Mitschülern war auch Anita Lasker, eine begabte junge Cellistin, Torens erste Liebe. Sie hielten heimlich unter dem Tisch Händchen und gingen ein Stück des Schulwegs miteinander.7 Anita Lasker-Wallfisch, wie sie später hieß, überlebte Auschwitz, weil sie ausgesucht worden war, im Frauenorchester des Lagers zu spielen. Nach dem Krieg ging sie nach Großbritannien und gründete mit anderen das English Chamber Orchestra.8 Sie erinnert sich an Toren als frechen kleinen Jungen mit blonden Locken und Stirnfransen.9

Eng befreundet war Toren auch mit seinem Klassenkameraden Bolko von Eichborn, einem kräftigen Kind aus einer adeligen deutschen Bankiersfamilie. Er schützte Toren vor Übergriffen, er duldete nicht, dass er bedroht wurde. Mit zehn trat Toren in die Fußstapfen seines Vaters und ging ins Zwingergymnasium, der besten höheren Schule in Breslau. Auch Eichborn besuchte diese Schule, sie blieben befreundet.

Torens Großonkel David Friedmann war ein reicher Zuckerfabrikant, er hatte in Breslau ein Wirtschaftsimperium aufgebaut. Gemeinsam mit Torens Großvater, Siegmund Friedmann, der starb, als Toren noch ein Kind war, war er Inhaber eines Ziegelwerks. Der sanftmütige Onkel David wurde in der Familie sehr bewundert, denn wie Toren sagt, »war er sehr reich und sehr nett«. Als Sechzigjähriger, als Toren noch ein kleiner Junge war, hatte Friedmann eine kleine Glatze, die er leicht puderte. Toren glaubte, sein Onkel, der ja Zuckerfabrikant war, puderte die Glatze mit Staubzucker. Er erinnert sich, dass er ihm 100 Reichsmark – damals viel Geld – für seine Bar Mitzwa am 7. Mai 1938 gab.

Friedmann hatte sein Vermögen als Landbesitzer gemacht. Er besaß vier Landgüter, die ungefähr eine Stunde von Breslau entfernt waren, und verpachtete das Land an Bauern, die Zuckerrüben anbauten. Zu seinen Besitztümern, ungefähr vier Hektar, gehörte auch das Gut Großburg, wo er eine Raffinerie und eine Destillerie betrieb und Pferde hielt. Auf einem Pony brachte der Stallmeister Toren das Reiten bei. In Michelwitz und Schweinbraten baute Friedmann Rüben an, das vierte Gut, Haltauf, wurde nicht landwirtschaftlich genutzt, hier befanden sich eine Jagdhütte und ein ausgedehnter Wald.

In Breslau wohnte Friedmann in einer luxuriösen, mit Porzellan, Perserteppichen, antiken Möbeln und Gemälden ausgestatteten Villa – auf der schattigen Ahornallee, jetzt Aleja Jaworawa, Nr. 27 – in einem Viertel im Süden der Stadt, wo viele wohlhabende Juden lebten. Nur ein paar Häuser entfernt befand sich das Haus Max Silberbergs, der eine großartige, weit über die Grenzen Breslaus hinaus bekannte Sammlung mit Gemälden von Cézanne, Monet, Manet, Renoir und Van Gogh besaß. In der Nähe wohnte auch Carl Sachs, ein Kurzwarenfabrikant, der wertvolle Drucke von Edvard Munch, Toulouse-Lautrec, Francisco Goya und Honoré Daumier sammelte. Er verlieh die Werke regelmäßig an Museen, sogar an weit entfernte in Berlin und Zürich. Ein weiterer Nachbar, der Textilfabrikant Leo Lewin, hatte seine Sammlung französischer Impressionisten mit modernen Werken von Munch und Picasso ergänzt. Max Liebermann, der bekannteste deutsche Impressionist, und der Künstler Max Slevogt waren regelmäßig...

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