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Gut streiten will gelernt sein!

Schülerkonflikte verstehen und erfolgreich moderieren (1. bis 4. Klasse)

AutorCaterina Di Chio, Daniele Novara
Verlagscolix
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl133 Seiten
ISBN9783403704041
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
und Anstöße zur Weiterentwicklung zu begreifen. Unterstützen Sie Ihre Schüler dabei, Streit zuzulassen, ihn zu verstehen und konstruktiv damit umzugehen.

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Leseprobe

2 Streitende Kinder: ein Tabu


2.1 Konflikte als Ressourcen wahrnehmen


Vielen Menschen fällt es schwer, Konflikte nicht als Problem, sondern als Ressource wahrzunehmen. Verschiedene Faktoren sind dabei im Spiel: die Lebensgeschichte und die Ausbildung der jeweiligen Person, ihre Erlebnisse und Erfahrungen, der kulturelle und gesellschaftliche Hintergrund, der historische Kontext.

Konflikte unter Kindern sind nach wie vor ein Tabu, vielleicht das letzte pädagogische Tabu unserer Epoche. Auf gewisse Weise sind sie immer noch mit einem Verbot belegt. Bei Erwachsenen rufen sie eine Mischung verschiedener Reaktionen hervor, von Scham über Verlegenheit bis hin zu Angst und Stress. Konflikte erzeugen einen Kontrollwunsch und werden auf unterschiedlichste Art sanktioniert oder verhindert.

Unser Ziel ist es, dieses Tabu zu entkräften: Wir wollen seine historisch-kulturellen Wurzeln offenlegen und zeigen, inwiefern es mit persönlichen Erfahrungen zusammenhängt. So möchten wir allen Erwachsenen mit Erziehungsaufgaben – Eltern, Lehrkräften oder Erziehern – ermöglichen, „guten Streit“ als Chance zu sehen und sich bewusster und zielführender mit diesem Thema auseinanderzusetzen.

2.2 Die Tradition


In den Humanwissenschaften existiert keine Tradition, die Konflikte als Ressource begreift. Keine Strömung der Pädagogik, der Psychologie oder Soziologie hat Konflikte je in diesem Sinne untersucht.

Die Psychologie und die Psychoanalyse sehen Konflikte traditionell als zwar nicht pathologisches, aber doch eher unangemessenes Beziehungsmuster, das es zu überwinden gilt. Die soziologisch oder sozialpsychologisch geprägte Tradition hat das Thema tiefer gehend analysiert, betrachtet Streit dabei aber als eine Art Unfall, der zum Bruch in Beziehungen führt. Diesem Ansatz nach sollten wir lernen, auf Konflikte zu reagieren und sie zu kontrollieren. Dahinter steckt eine soziopolitische Logik: Der Konflikt wird hier als Zeichen von Diskontinuität und nicht als Lernanlass gesehen, er kündigt primär das Auftauchen neuer gesellschaftlicher beziehungsweise politischer Instanzen und Kräfte an.

Und die Pädagogik? Ganz abgesehen von der „schwarzen Pädagogik“ (siehe Miller 2008), die alles unterdrückt, was zur Kindheit dazugehört, ein Ansatz, von dem wir uns immer noch befreien, fällt es wie bereits erwähnt auch den fortschrittlicheren Zweigen der Pädagogik schwer, das Potenzial kindlicher Streiterfahrungen zu erkennen. Auch hier untersucht man nicht, inwiefern wir Konflikte als Chance nutzen können zugunsten der Erziehung und Entwicklung der Kinder. Diese Bereiche der Forschung orientieren sich ebenfalls im Wesentlichen an der Logik der Zusammenarbeit, häufig verstanden als eine dem Konflikt antithetisch entgegengesetzte Form zwischenmenschlicher Interaktion. Man geht davon aus, dass eine Gruppe gut funktioniert, wenn ihre Mitglieder sich nicht streiten, sondern sie vielmehr stark kooperativ und durch hohen soziometrischen Zusammenhalt geprägt ist.

Denken wir nur an die vorherrschenden Überzeugungen zur Arbeit mit Kindergruppen, insbesondere mit Schulklassen: Noch immer gehen wir mehr oder weniger bewusst davon aus, dass Konflikte auf ein Minimum reduziert werden sollten, da sie den Gruppenzusammenhalt stören. Es liegt auf der Hand, dass Gruppen einen Weg finden müssen, mit Streitigkeiten umzugehen. Doch wenn eine Gruppe nicht streitet, dann ist das nicht unbedingt ein positives Zeichen und heißt nicht, dass sie gesund ist und gut funktioniert. Im Gegenteil. Die Analyse von Phänomenen wie Mobbing lässt deutlich eine andere Dynamik erkennen: Täter können sich besonders gut in Gruppen verbergen, die eng, aber auf falsche Weise zusammenhalten und Konfliktpotenzial ausblenden. Kommt es hingegen häufiger zu Konflikten und werden sie offen ausgetragen, dann haben solche Phänomene es viel schwerer (siehe Novara und Regoliosi 2007).

Mir fallen dazu auch die ersten Schritte der Friedenserziehung in den 1980er-Jahren ein, als einige damals weit verbreitete Bücher zur Kindheitspädagogik eine sehr naive Vorstellung von Frieden vertraten. „Wir mögen uns und helfen uns, wir streiten nicht und tanzen schön Ringelreihen auf der Wiese:

Das ist Frieden“, so schrieben die Kinder unter Zustimmung der Lehrkräfte, eine Vorstellung also, die in jedem Fall mit Harmonie und nicht mit Konflikten verbunden ist. Bei der Arbeit ging es dann vor allem um Prävention und darum, Kompetenzen zur sofortigen Lösung potenziell schwieriger und konfliktbeladener Situationen zu entwickeln (siehe dazu z. B. Sanziel 1984, S. 207 ff.). Das Idealbild vom Frieden als harmonischem Zustand ohne Spannungen, aber daher auch ohne Auseinandersetzungen und komplizierte Interaktionen hält sich hartnäckig. Wir alle, die einen mehr, die anderen weniger, sind mit dieser impliziten Zukunftsvision aufgewachsen. Dabei ist dieses Friedensideal mit seinen Vorgaben unmöglich umsetzbar und schafft letzten Endes nur Unverständnis und Frustration. Es versetzt uns nicht wirklich in die Lage, eine andere Welt aufzubauen.

2.3 Die Geschichte der Kindheit und der Mythos des braven Kindes


Unsere Probleme mit Kinderstreit hängen noch mit einer anderen grundlegenden Veränderung auf gesellschaftlicher und kultureller Ebene zusammen. Mit einer Entwicklung, die wir nicht immer im Blick haben, gerade, da sie zur jüngsten Vergangenheit gehört. Das 20. Jahrhundert war ohne Zweifel sehr ereignisreich – aus pädagogischer Sicht könnten wir es „das Jahrhundert des Kindes“ nennen, in Anlehnung an eines der damals meistverkauften Bücher (Key 2000). In Deutschland erschien das Buch im Jahr 1902, mit riesigem Erfolg: Ellen Key entwirft darin bereits die Idee einer Kindern gewidmeten Sozialpolitik, die neue Formen menschlichen Zusammenlebens vorstellbar macht.

Im 20. Jahrhundert entsteht in der westlichen Kultur jene pädagogische, soziale und politische Bewegung, die ihr Augenmerk auf die Kinder richtet und im Jahr 1989 schließlich in der UN-Kinderrechtskonvention mündet. Das Verhältnis von Groß und Klein, von Eltern und Kindern wird nun neu angelegt: Dienten familiäre Beziehungen bis ins 19. Jahrhundert zwar nicht besonders hehren, aber ohne Zweifel unmittelbaren und pragmatischen Zielen – etwa der wirtschaftlichen Absicherung oder dem Weiterleben der Familienlinie –, wird die Eltern-Kind-Beziehung im 20. Jahrhundert nach und nach zur Privatsache. Eine neue Kultur der Aufmerksamkeit gegenüber den Kindern entwickelt sich. Die Familie ist nun ein Lebensbereich, der sich um Gefühle dreht, um einen Austausch, der in erster Linie freiwillig und auf Vertrauensbasis erfolgt und nicht mehr im Rahmen eines Sozialvertrags. Die Geburt eines Kindes ist ein glücklicher Moment: Sie sorgt für Wohlergehen, für Gefühlsbindung, einen Beziehungsvertrag. Und die familiäre Harmonie, das Ideal eines „guten Miteinanders“, wird so von einem eher untergeordneten Ziel zu einer regelrechten Vorschrift. Konflikte in der Familie und der Erziehung werden folglich als negativ und störend wahrgenommen: Sie schaden dem Ideal und sind daher zu vermeiden. Der Mythos des „braven Kindes“ entsteht, das zu einem harmonischen Umfeld voll erwiderter Gefühle passt. Die Sache hat jedoch einen Haken: Kinder sind von Natur aus nie „brav“ – und wenn sie es doch sind, dann steckt meist tatsächlich ein Problem dahinter. Sie sind launisch, sie stören und schreien, sie machen Schmutz und weinen ohne Grund, sie verstehen nie, wann es genug ist, wann eine Grenze erreicht ist, wann es nicht passt.

Dieser Mythos, dieses Ideal eines Erziehungsidylls, entwickelt und verfestigt sich im Laufe des letzten Jahrhunderts. Es ist sehr wichtig, die Entstehung solcher Idealbilder nachzuverfolgen und nicht zu vergessen, dass am Ursprung in diesem Fall ein von Gewalt geprägtes Verhältnis steht. Die Geschichte der Kindheit ist voll davon: Jahrhundertelang verstand man unter Erziehung vor allem Gewalt. Kinder wurden gefügig und eben zu braven Kindern gemacht. Dazu gehörten Strafen, Methoden der Zügelung wie das extrem enge Wickeln beziehungsweise Festbinden der Kinder oder andere Formen purer Gewalt. Das Ammenwesen beispielsweise wurde lange Zeit zum großzügigen und fürsorglichen Akt stilisiert. Noch heute erfassen wir es nicht in seiner ganzen Unmenschlichkeit: Ein Kind wird von seiner Mutter getrennt, die ein anderes Kind stillt, das wiederum von seiner Mutter getrennt ist (siehe deMause 1989; Cambi und Ulivieri 1992; Polenghi 2003; Boswell 1998; Perco 1984).

Heute wird Gewalt gegen Kinder nicht mehr toleriert: Wir versuchen, ihre Rechte zu berücksichtigen, soweit es geht. Dieser Wandel ist jedoch über zwei oder drei Generationen hinweg eingetreten, ein historisch gesehen sehr kurzer Zeitraum, dem Jahrtausende der Gewalt und der Übergriffe gegenüberstehen. Und was geschieht nun? Die Gewalt taucht in anderer Gestalt wieder auf, Kinder werden gezügelt, ausgebremst und manipuliert. Sitzt ein Kind täglich vier Stunden vor einem Bildschirm, dann beeinträchtigt das bewiesenermaßen seine sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit und ist somit auch eine Form von Gewalt. Dasselbe gilt, wenn ein Kind sich nicht schmutzig machen darf, da es so weniger Möglichkeiten hat, seine natürliche Umgebung zu erkunden und mit ihr zu interagieren. Ich möchte damit sagen, dass der Mythos des „braven Kindes“ die Kindheit auf bestimmte Weise entmenschlicht. Im Laufe der Jahrhunderte wurden Millionen Kinder manipuliert und schikaniert und in gewisser Hinsicht lebt dieser Ansatz noch heute fort, wenn auch mit raffinierteren und...

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