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'Gut zu leben bedeutet gut zu sterben.' Die Todesthematik in den Werken von Lev Nikolaevi? Tolstoj und Anton Pavlovi? ?echov

AutorElena Hartmann
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl70 Seiten
ISBN9783656827955
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Masterarbeit aus dem Jahr 2013 im Fachbereich Russistik / Slavistik, Note: 1,3, Universität Potsdam (Slavistik), Sprache: Deutsch, Abstract: Die Todesthematik umfasst eine Vielzahl physischer und psychischer Zustandsänderungen: zuallererst das Sterben als das Versiegen aller körperlicher Vitalfunktionen, die innere Gewissheit, den Endpunkt des irdischen Daseins erreicht zu haben, aber auch die Verleugnung der nicht zu verleugnenden Existenz des Todes, schließlich Todessehnsucht, Selbstmord oder sein Versuch, dann das Resümee des gelebten Lebens mit allen Niederlagen und Erfolgen, zuletzt die Hinnahme des Unausweichlichen. Der Tod ist ein der zentralen Themen der russischen Geistesgeschichte. Das russische Verständnis der Opposition von Leben und Tod unterscheidet sich stark von dem westlichen. Dies resultiert aus der besonderen Identität der russischen Kultur, die aus westlichen, östlichen, vor allem aber byzantinischen Einflüssen amalgiert wurde. In der vorliegenden Arbeit werden ausgewählte Texte Tolstojs und ?echovs unter der zentralen Fragestellung untersucht, wie der Tod als existenzielles Phänomen literarisch ganz ausgestaltet werden kann. Im Verlauf der Untersuchung sollen mehrere erkenntnisleitende Fragen beantwortet werden: •Wie spiegeln sich die persönlichen Erfahrungen der Autoren mit der Todesthematik in ihren Texten wider? Diese Frage legt einen autointentionales Interpretationskonzept zugrunde und zielt auf eine an der Autorenbiographie interessierten Hermeneutik, die Einfluss persönlichen Erlebens in zweifellos fiktionalen Texten von Autoren sichtbar machen will. •Welche Funktion hat der Tod in den unterschiedlichen Erzählkonzepten Tolstojs und ?echov'? Im 19. Jahrhundert hatte der Tod im viel größeren Maße als heute eine metaphysische Funktion. Dies hing vor allem mit der starken religiösen Rückbindung zusammen, die noch nicht von der wissenschaftlich-technologischen Expansion des modernen Industriezeitalters erschüttert war. Dass es bei beiden Autoren dennoch gravierende Unterschiede gab, soll an dieser Stelle als Arbeitshypothese postuliert werden. •Gibt es aus Sicht der Autoren ein Leben nach dem Tod? Alle metaphysischen Erklärungsmuster des Todes stellen letztlich auf einen höheren Sinn, eine entkörperlichte, geistige Bedeutungsebene des menschlichen Lebensendes ab. Auch hier darf vermutet werden, dass ?echov ein Leben nach dem Tode eher negiert und Tolstoj den Tod eher transzendental als Heimkehr- und Versöhnungspunkt im Sinne seiner christlichen Glaubensauffassung denkt.

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Leseprobe

2. Hauptteil


 

2.1 Der Tod in Tolstojs Frühwerk


 

2.1.1 Der mitleidende Gutsherr


 

Lev Nikolaevič Tolstoj wurde am 9. September 1828 (nach dem Gregorianischen Kalender) auf dem Bauerngut und Landsitz Jasnaja Poljana im Gouvernement Tula, etwa 200 km südlich von Moskau geboren. Er starb am 20. November 1910. Der russische Graf ist in erster Linie als ein Romancier von Weltrang aus dem 19. Jahrhundert bekannt. Seine Romane Vojna i mir (Krieg und Frieden) (1865-69), Anna Karenina (1875-90) oder Voskresenie (Auferstehung) (1889-99) sowie Erzählungen wie die Krejcerova sonata (Kreuzersonate) (1888-90) gehören zum Kanon der Weltliteratur.

 

Der Tod tritt früh in das Leben des Schriftstellers: Tolstoj ist bereits mit neun Jahren Vollwaise und erbt den Familienbesitz Jasnaja Poljana. Während seiner Militärzeit erst im Kaukasus (Čečenien) und später auf der Krym 1851 bis 1855 entstehen erste literarische Werke, die ihn sofort bekannt machen. Die früheste Veröffentlichung, der erste Teil seiner autobiografischen Triologie Detstvo, Otrochestvo, Junost’ (Kindheit, Knabenalter, Jugendzeit) erscheint 1852 in der Literaturzeitschrift Sovremenik. Es folgen Sevastopol’skie rasskazy, drei Sevastopoler Erzählungen, die Motive aus seiner Armeezeit verarbeiten. Tolstoj entwickelt sich zu einem Fürsprecher des einfachen Volkes, dessen Lage er verbessern will. Sein Landsitz Jasnaja Poljana wird seit den 1880er Jahren zum Zentrum der Tolstojaner, aus denen sich eine Friedensbewegung formiert.

 

Gegen Ende des 19. Jahrhundert wird Tolstoj weltweit zu einem der populärsten Sozialkritiker. Zu seiner vielfach imitierten Lebensethik zählen strikte Gewaltlosigkeit, Vegetarismus und bedingungslose Nächstenliebe. In seinen literarischen Spätwerken wie z. B. den Roman Voskresenie schildert er die Zerrissenheit und Sinnsuche des orientierungslosen Menschen in der Moderne. Von seinem moralisierenden Pazifismus zeigt seine „Rede gegen den Krieg“ (1909), die er auf dem Friedenskongress in Stockholm halten wollte, vorab jedoch abgesagt werden musste.[38]

 

Der frühe Verlust seiner Eltern, seines Bruders Nikolaj und der Anblick des Todes während einer Hinrichtung in Paris 1857 hinterlassen bei Tolstoj einen prägenden Eindruck, der ihn zu einer lebenslangen Auseinandersetzung mit den Grenzen menschlicher Existenz zwang.[39] So notierte er am 1. Januar 1883 in sein Tagebuch: „Хорошо жить, значит, хорошо умирать. Новый год! Желаю себе и всем, хорошо умереть.“[40] Seine autobiographischen Erfahrungen verarbeitete in seinem gesamten Werkschaffen in einem Maße, daß sein Schriftstellerkollege Dmitrij Sergeevič Merežkovskij (1865-1941) urteilte: „Die künstlerischen Werke L. Tolstois sind im Grunde nichts anderes, als ein mächtiges, durch 50 Lebensjahre hindurch geführtes Tagebuch, eine endlose, ausführliche Beichte.“[41]

 

Als aktiver Kriegsteilnehmer muss Tolstoj mit ansehen, wie Menschen massenhaft sterben. Diese Erlebnisse verarbeitet er in den Sevastopol‘skie rasskazy, drei narrative Berichte über seine eigene Teilnahme am Krymkrieg. Nur der freilich stets subjektiven Wahrheit verpflichtet, begründete er mitten des 19. Jahrhunderts eine neue, beinahe journalistische Darstellungsform: die Kriegsberichterstattung. „In Sewastopol wurde aus dem Fähnrich der Secondelieutenant [Tolstoj] und zugleich ein großer Schriftsteller; denn alles, was er sah, woran er teilnahm, zwang ihn als Schriftsteller, nachzudenken, Gedanken zu zerstören, um den neuen Helden in der Literatur, die Wahrheit, mitten darin zu entdecken. Hinter den provisorischen Befestigungen von Sewastopol, hinter den spärlich auf die Kanonade der Alliierten antwortenden russischen Kanonen, unter Sternen und Bomben wurde eine neue künstlerische Methode geboren.“[42]

 

Weitaus größere Bedeutung für die Beschäftigung Tolstojs mit dem Tod hat die Begegnung mit seinem todkranken Bruder Nikolaj. So schreibt er im Oktober 1860 an seinen Dichterkollegen Afanasij Afanas‘evič Fet: „Правду он говаривал, что хуже смерти ничего нет. А как хорошенько подумать, что она все-таки конец всего, так и хуже жизни ничего нет.“[43] In seinem Briefwechsel mit der entfernt verwandten Gräfin Aleksandra Andreevna Tolstaja bekennt er: „А все-таки единственное убеждение, которое я вынес из этого, то, что лучше его я не сумею прожить и еще менее умереть; а ему было тяжело страшно и жить и умереть. И более ничего не знаю.“[44]

 

Schon im Oktober 1852 hat Tolstoj in seinem Tagebuch anvertraut: „Все умираетъ, скажутъ мнԋ. Нԋтъ: все измԋняется, и это измԋненiе мы называемъ смертью, но ничего не изчезаетъ.“[45] Auf bemerkenswert gleichgültige Weise, wie die Literaturwissenschaftlerin Käte Hamburger richtig feststellt, beschreibt er in Otrochestvo sein Gefühl beim Anblick der Leiche der Großmutter: „Все время, покуда тело бабушки стоит в доме, я испытываю тяжелое чувство страха смерти, то есть мертвое тело живо и неприятно напоминает мне то, что и я должен умереть когда-нибудь, чувство, которое почему-то привыкли смешивать с печалью.“[46] Der Slavist Wolfgang Kasack charakterisierte diesen Bericht zutreffend als Gestaltung der „Schockwirkung der Begegnung mit dem toten Körper“.[47]

 

Maxim Gorki (1868-1936) berichtet in seiner Erinnerungen von einem Gespräch zwischen ihm, dem jungen, proletarischen Revolutionär und dem adligen, alten, abgeklärten Tolstoj. Dieser habe den Tod nicht nur als Lebensbegrenzung, sondern auch als Begrenzung menschlicher Wahrheit betrachtet: „Hat der Mensch einmal gelernt zu denken, so mag er denken, was er will, er denkt nur an den Tod. Was gibt es für Wahrheiten, wenn doch der Tod sein muss?“[48], äußerte Tolstoj ihm gegenüber.

 

Das Thema Tod war ein treuer Begleiter Tolstojs, es gelang ihm nicht, die tiefe ursprüngliche Feindschaft von Leben und Tod auszulösen und die Angst vor dem Tod zu überwinden.[49]

 

Die tiefe Religiosität Tolstojs hat die Auseinandersetzung mit dem Tod geradezu bedingt. Der Erziehungswissenschaftler Ulrich Klemm hat herausgearbeitet, dass es Tolstoj nicht primär um das christliche Religion geht, sondern vielmehr um die Universalität des „Gesetzes der Liebe“. Tolstoj arbeitet die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Weltreligionen heraus und beschäftigt sich intensiv mit der asiatischen Geisteswelt.

 

Entschieden stellt sich Tolstoj zentralen Dogmen christlichen Glaubens, etwa dem Messianismus der Gestalt Jesu Christi und der ihm zugeteilten Erlöserfunktion, entgegen. Erlösung ist für Tolstoj kein Vorgang des Glaubens. Allein die Erkenntnis, also das Streben nach dem Glauben, das heißt, das Einswerden des persönlichen Ichs mit dem Göttlichen, führt zum Ziel, dem Weg der Liebe. Tolstoj negiert zudem die Trinitätslehre, verneint den Jenseitsbezug und die Eschatologie des christlichen Glaubens.

 

Sein Glaube, der der „Gesinnungsethik“ (Max Weber) der Bergpredigt verabsolutiert, wird als christlicher Anarchismus bezeichnet. Er definiert sich einerseits durch eine religiöse Motivation, anderseits äußert er sich in einer pazifistischen Haltung und ist seit dem 19. Jahrhundert den Erscheinungsformen der anarchistischen Bewegung zuzuschreiben.[50]

 

Die Erzählungen aus den Jahren 1855/56 basieren auf Tolstojs Erlebnisse im Krymkrieg und zerstäuben in ihrem gnadenlosen Realismus die pathetischen Illusionen von Krieg, Heldenmythen sowie Tapferkeit. Tolstoj versucht mit seiner direkten Ansprache des Lesers die Blutigkeit und Sinnlosigkeit des Krieges darzustellen. Schon im ersten Teil des Erzählzyklus Sevastopol‘ v dekabre mesjace (Sevastopol‘ im Dezember) offenbart sich die von grausame, tödliche Seite des Krieges. So heißt es hier, wir sehen „den Krieg nicht im üblichen, schönen und glänzenden Gewande, mit Musik und Trommelklang, mit wehenden Fahnen und Generalen hoch zu Roß, wir sehen den Krieg in seiner wahren Gestalt – in Blut, in Leid, in Tod“.[51]

 

Der Autor versucht die Kriegsatmosphäre gleichsam fotorealistisch einzufangen. Die Erzählung gleicht einem Reisebericht und ist als Stadtbesichtigung eines interessierten, kürzlich erst angereisten Mannes angelegt. Der Erzähler führt durch die erzählte Geschichte. Die Konfrontation des Krieges mit dem Alltagsleben der Stadt, dem friedlichen Dasein in der Garnison und den friedlichen Interessen der Menschen zieht sich durch die gesamte Erzählung.[52]

 

Die...

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