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E-Book

Gute Ganztagsschulen entwickeln

Zwischenbilanz und Perspektiven

VerlagVerlag Bertelsmann Stiftung
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl260 Seiten
ISBN9783867938686
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis3,99 EUR
Wenn Kinder und Jugendliche regelmäßig an guten Ganztagsangeboten teilnehmen, erzielen sie bessere Lernerfolge - das belegt die Forschung. Doch wie entwickelt sich der Ausbau der Ganztagsschulen? Welche Erfahrungen sammeln Eltern, Lehrkräfte und Schulleiter? Wo kommt ganztägiges Lernen derzeit noch an seine Grenzen? Was benötigen Ganztagsschulen in Deutschland, um ihr Potenzial für gutes Lernen entfalten zu können, und woran lässt sich Qualität im Ganztag festmachen? Der Band 'Gute Ganztagsschulen entwickeln' beantwortet diese Fragen anhand aktueller Forschungsergebnisse und liefert aussagekräftiges Zahlenmaterial. Kurze Porträts ausgesuchter Schulen illustrieren Entwicklungspfade und Meilensteine hin zur guten Ganztagsschule.

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Leseprobe

Grundschule Pfälzer Weg: »Wir sind auch Lernende.«

Wer weiß, wozu es gut ist? Besieht man sich die Geschichte der Grundschule am Pfälzer Weg in Bremen auf ihrem Weg zur Ganztagsschule, kommt einem unweigerlich dieser Spruch in den Sinn. Denn es waren gerade äußere, nicht unbedingt angenehme Ereignisse und Umstände, die letzten Endes die Schulentwicklung angeschoben und im Schuljahr 2014/2015 auf das erfolgreiche Gleis Richtung gebundene Ganztagsschule gesetzt haben.

Die Grundschule liegt im Stadtteil Tenever, der mit dem Etikett »sozialer Brennpunkt« versehen ist. In den 1970er-Jahren wurden hier Hochhäuser mit bis zu 21 Etagen und über 2.500 Wohnungen gebaut. Doch in dem als »beispielhafter Siedlungsbau« intendierten Komplex ließen sich die Wohnungen nur schwer vermieten. Zeitweise standen über 50 Prozent leer; in die anderen zogen hauptsächlich Migranten und Aussiedler. Inzwischen leben Menschen aus bis zu 90 Kulturen in Tenever. 2004 bis 2009 wurde ein Drittel der Wohnblocks im Rahmen des Förderprogramms »Stadtumbau West« abgerissen. In diesem sozial schwierigen Stadtteil wurde der Wunsch des Quartiersmanagements an die Schule herangetragen, Ganztagsschule zu werden, da die Versorgung mit Ganztagsplätzen durch die Nachbargrundschule bei Weitem nicht mehr ausreichte. Nun musste sich die 1991 gegründete Grundschule an der Pfälzer Straße positionieren: Konnte man sich vorstellen, Ganztagsschule zu werden?

Die Diskussionen begannen 2010. Laut der damaligen Schulleiterin Maresi Lassek war sie sich mit dem Kollegium einig, diesen Schritt gehen zu wollen. Denn dass etwas passieren musste, war Schulleitung und Kollegium klar. »Wir hatten schon zuvor bei so vielen Kindern gemerkt, dass sie eine Nachmittagsbetreuung benötigten, einen Ort, wo sie ihre Hausaufgaben erledigen und an Freizeitaktivitäten teilnehmen konnten. Wir kannten die Familien und wussten, dass dort eine weniger günstige Ausgangsbasis für die Kinder herrschte. Aber gerade die, die es am nötigsten hatten, fanden keinen Platz in den Horten oder konnten es sich finanziell nicht leisten«, erinnert sich die Rektorin. Auf dem Weg Richtung Ganztag gab es jedoch einen emotionalen Bremsklotz. Nachdem im Stadtteil eine Kita abgebrannt war und die Einrichtung als Ersatzgebäude das damalige Horthaus zugesprochen bekam, war der Hort – nun heimatlos – in die untere Etage des Schulgebäudes eingezogen. Schon immer hatte sich die Grundschule mit dem Hort, der etwa 60 ihrer Schülerinnen und Schüler am Nachmittag betreute, pädagogisch abgestimmt und auch gemeinsame Fortbildungen organisiert. Nun arbeitete man durch die räumliche Nähe noch enger und koordinierter zusammen, begegnete sich täglich buchstäblich auf dem Flur. Man begann schon zum damaligen Zeitpunkt, Fragen zu diskutieren, die sich sonst erst bei einer Ganztagsschule mit außerschulischen pädagogischen Partnern stellen, etwa nach der Art und Durchführung der Hausaufgaben. Auch die Nutzung von Funktionsräumen (Musik, Sport, Leseclub, Werkraum) galt es abzustimmen.

Nun aber war klar: Wenn die Grundschule am Pfälzer Weg gebundene Ganztagsschule werden sollte – und nur dies stand laut Maresi Lassek zur Debatte –, dann würde der Hort überflüssig und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wären arbeitslos. Das wollte das Kollegium keinesfalls. Die Alternative war, auf die Trägerin des Horts, die St. Petri Kinder- und Jugendstiftung, zuzugehen und anzufragen, ob sich die Hortmitarbeiterinnen und -mitarbeiter eine Weiterarbeit unter dem Dach der Ganztagsschule vorstellen könnten. Maresi Lassek und ihre Konrektorin wurden in eine Dienstbesprechung des Horts eingeladen und konnten dort die Ausgangslage und erste konzeptionelle Überlegungen darstellen. Diese trafen »nicht auf Widerstand, sondern auf Mitüberlegungen und Zustimmung«, so Lassek.

Jetzt galt es zu überlegen: Wie konnten die Erzieherinnen und Erzieher, die bis dahin eigenverantwortlich freizeit- und gruppenpädagogisch im Hort arbeiteten, im System Ganztagsschule ihren Platz finden? Wie konnte man ihren großen Ängsten vor mangelnder Akzeptanz durch die Lehrkräfte und den Sorgen wegen unscharfer Arbeits- und Kompetenzzuschreibungen entgegenwirken? Dazu kam die Sorge um die Sicherheit der Arbeitsplätze, denn die Zustimmung der Bildungsbehörde zur Zusammenarbeit mit einem Träger und nicht mit über die Behörde eingestelltem Personal ließ lange auf sich warten und die Hortmitarbeiter blieben entsprechend im Ungewissen.

Doch die Schulleitung strahlte Optimismus aus und entschied, trotz fehlender Senatszusage bereits 2011 die ersten Fragen zum Ganztag auf einer Impulsfortbildung zu klären, die ein Mitarbeiter des Landesinstituts für Schule moderierte. Eineinhalb Tage tauschten sich dabei alle Beteiligten – einschließlich Eltern – aus: über organisatorische Fragen zu den Räumen, zur Rhythmisierung des Tagesablaufs, zu zusätzlichen Angeboten für die Kinder, zur Kooperation und zum Mittagessen. Die Impulsfortbildung war eine wichtige Wegmarke, denn die Gespräche fanden in gutem Einvernehmen statt. Die außerschulischen Pädagoginnen und Pädagogen erkannten, dass die Lehrkräfte sie anerkennen, sodass eine gute Basis für die weitere Zusammenarbeit gelegt wurde.

Gleich nach der Impulsfortbildung gründete die Schule eine Ganztagsarbeitsgruppe, der die beiden Leitungen sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Hort und Schule angehörten. Die Steuergruppe trug Informationen zusammen und gab diese an die beiden Kollegien weiter. Zudem holte die Schulleitung Impulse von außen ein. Das Beispiel der Nachbarschule an der Andernacher Straße vor Augen, die in den Anfangsjahren mit einem Halbtags- und einem Ganztagszug operierte, wusste die Ganztagsschule in spe bereits, was sie nicht wollte. Dieses System von zwei Schulen unter einem Dach mit den entsprechenden organisatorischen Herausforderungen und der von Schulleiterin Maresi Lassek befürchteten »Auslese« in einen Ganztagszug mit den Kindern, die einen eher hohen Zuwendungsbedarf mitbringen, war keine Option. Die Ganztagsarbeitsgruppe sowie weitere Hort- und Lehrkräfte schwärmten zu Hospitationen an Bremer und überregionale Schulen aus, unter anderem nach Wolfsburg, Rostock, Potsdam und Hamburg. Ziel war es, dort Ganztagsabläufe zu beobachten und Gespräche mit Schulleitungen und Mitarbeitern zu führen. Die Besucherinnen und Besucher stellten Fragen zu Stundenplänen, zum Einsatz der pädagogischen Kräfte sowie zu Arbeitsverträgen und nahmen Impulse für die Ganztagsschulentwicklung am Pfälzer Weg mit.

Der Beginn der Ganztagsschule war für das Schuljahr 2013/2014 mit den Lerngruppen 1/2 (jahrgangsübergreifende Organisation) geplant; inzwischen gab es dafür auch die Zusage der Behörde. Doch diese Zusage zog die Behörde im November 2012 aus finanziellen Gründen zurück, »was uns ziemlich getroffen hat«, wie sich Maresi Lassek erinnert. Gegen die Entscheidung regte sich jedoch Widerstand. Nicht nur in der Schule selbst, sondern im gesamten Stadtteil – »es gab einen ziemlichen Aufstand«, so die Schulleiterin. Dieser führte dazu, dass die Entscheidung halbwegs rückgängig gemacht wurde; nun war der Start des gebundenen Ganztags für das darauffolgende Jahr bestimmt. Diese Krise hatte zwei Nebeneffekte: »Letztlich hat es den Stadtteil weiter zusammengeschweißt und unser Bewusstsein für die Ganztagsschulentwicklung noch mal geschärft«, findet die Pädagogin. Und sie sorgte für eine Änderung der Pläne. Statt wie anfangs geplant mit lediglich den ersten beiden Jahrgängen als Ganztagsschule zu starten und diese dann hochwachsen zu lassen, sorgte das fehlende Jahr für die Entschlossenheit, die gesamte Schule 2014/2015 mit einem Schlag zur gebundenen Ganztagsschule umzubauen. »Im Nachhinein eine ganz wichtige und richtige Überlegung«, so Maresi Lassek, »mit der man auch vermied, sich zumindest für zwei Jahre eine ungeliebte Doppelstruktur aufzuhalsen.«

Bis zum Start leistete die Steuergruppe weiter wertvolle Arbeit, weil sie in ständigem Austausch mit den Hortmitarbeiterinnen und -mitarbeitern, den Lehrkräften und den Eltern Entscheidungen und Überlegungen transparent machte und alle relevanten Fragen ansprach. Mühsam war es, die Zeiten für gemeinsame Sitzungen zu finden. Oft ging es nur durch gegenseitige Vertretungsstunden am Vormittag oder erst nach 16:30 Uhr. Doch auch dies hatte etwas Gutes, wie die Schulleiterin sagt: »Die Kompromissbereitschaft hat ganz viel bewirkt in der Einstellung der Lehrerinnen und der Sozialpädagogen. Diese ganzen Diskussionen waren nicht vergebens.«

Die gebundene Ganztagsschule bietet nun an drei Tagen verbindlich für alle Kinder Unterricht bis 16 Uhr und an zwei Tagen (Montag und Freitag) bis 14 Uhr. Montags und freitags schließt sich eine Betreuungszeit bis 16 Uhr an, die etwa zwei Drittel der Kinder wahrnehmen. Die Unterrichtszeiten liegen für die Lehrkräfte im Ganztagsablauf teilweise am Nachmittag. Die Arbeitszeitaufteilung nimmt die ohnehin in Bremen verbindlichen Präsenzzeiten auf. Um Zeiten für Absprachen innerhalb der...

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