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«Hab ich vergessen, ich hab nämlich Alzheimer!»

Beobachtungen einer Ethnologin in Demenzwohngruppen

AutorUlrike Krasberg
VerlagHogrefe AG
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl291 Seiten
ISBN9783456752785
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR

Über ein Jahr lang arbeitete die Ethnologin als Aushilfskraft in vier Demenzwohngruppen. Ihre positiven Beziehungen zu den Bewohnern veranlassten sie dazu, die medizinische Diagnose «Alzheimer» zu hinterfragen und über die kulturelle Bedeutung des Alters nachzudenken. Auf welchem Menschenbild beruht die biomedizinische Forschung und der Umgang der Öffentlichkeit mit Alter und Demenz? Ließe sich dieses Bild nicht ändern, um die Integration und gesellschaftliche Teilhabe alter und dementer Menschen zu verbessern? Das Buch beschreibt das Leben in den Wohngruppen aus Sicht der «Dementen» und der Pflegenden. Es bewertet den Verlust kognitiver Fähigkeiten und die damit einhergehenden, keineswegs nur negativen Persönlichkeitsveränderungen letztlich als ein Handicap wie andere auch. Wir lernen allmählich, Menschen mit Down-Syndrom oder Querschnittslähmung zu integrieren; ebenso müsste eine lebenswerte Gesellschaft alte und demente Menschen mit ihren typischen Verhaltensweisen im Alltag akzeptieren, anstatt sie abzuschieben.

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Leseprobe

1 Leben ohne Arbeit?


Rente und Arbeit im Alter


Soziologen, die zum Thema «Alter» forschen, sind sich einig, dass die Trennung zwischen «jung» und «alt» wesentlich für die moderne Gesellschaft ist: zwischen Menschen, die arbeiten, um Geld zum Leben zu verdienen, und denen, die am Ende ihrer gesellschaftlichen Arbeitszeit angekommen sind und Rente bekommen. Diese Trennung ist deshalb so scharf, weil nur diejenigen angesehen sind, die Geld verdienen. Das ist etwas Besonderes im Vergleich zu vielen Gesellschaften weltweit, in denen Menschen im Alter große Anerkennung bekommen. Weil unsere Gesellschaft ein Sozialstaat ist, der für die alten Menschen sorgt, gibt es allgemein eine Rente für Menschen, die älter als 65 sind. Dabei wird sich durchaus auch Mühe gegeben, das Verteilungssystem den Bedürfnissen und Lebensweisen der Rentner anzupassen. So konnten bis vor kurzem Frauen schon mit 60 die Rente beantragen, allerdings bekamen sie dann weniger. In den 1940er-Jahren fiel auf, dass, wenn die Männer mit 65 Jahren in Rente gingen, ihre in der Regel jüngeren Ehefrauen (das wurde anhand des mittleren Altersunterschieds zwischen Ehemann und Ehefrau errechnet) noch arbeiten mussten. Da die Männer nicht gelernt hatten zu kochen oder die in einem Haushalt anfallenden Arbeiten zu erledigen und sich außerdem ohne ihre Frau langweilten, durften Frauen schon früher ihre Rente beantragen (Kohli 1992: 253).

Als dann aber ab den 1980er-Jahren immer weniger Menschen Arbeit hatten, hat man sich überlegt, dass man die Älteren ja auch schon ab 50 in Rente schicken könnte. Das ging aber nicht lange gut, weil in die Rentenkasse nicht genug Geld eingezahlt wurde, um all die zusätzlichen Frührentner zu versorgen. Also wurden die Beiträge erhöht, die alle Arbeitenden in die Rentenkasse zahlen müssen, und das Geld, das die Rentner zum Leben bekamen, gekürzt. Das ging schließlich soweit, dass heute ein großer Teil der Rentner von ihrer Rente nicht mehr leben können. Aber es gibt ja heute viele Arbeiten, die – obwohl die auch jemand machen muss – so schlecht bezahlt werden, dass man davon auch nicht leben kann. Dazu gehören Putzen in Büros, im Supermarkt die Regale auffüllen, in der Altenpflege helfen und vieles mehr. Eine Rente, von der man nicht leben kann und ein so genannter Minijob, von dem man auch nicht leben kann, ergeben zusammengenommen aber dann wieder soviel, dass man davon leben kann. Damit diesen Rentnern die Minijobs nicht ausgehen, haben viele Betriebe ihre Arbeit so organisiert, dass nur noch für wenige Arbeitsplätze genug Geld zum Leben gezahlt wird und viele kleine Minijobs entstanden. Das ist auch wirtschaftlich günstiger für die Betriebe.

Aber auch Rentner mit Minijobs haben kein hohes Ansehen in der Gesellschaft. Denn angesehen sind nur Leute, die genug Geld haben, um ordentlich konsumieren zu können. Konsum ist wichtig für den Fortschritt in der Gesellschaft, und der wird am Konsumverhalten der Bürger gemessen. Wenn sie genug konsumieren, geht es der Wirtschaft gut. Deshalb werden am Jahresende über die Medien die Bürger davon unterrichtet, ob sie genug gekauft, das heißt konsumiert haben oder nicht. Rentner mit Minijob sind bei diesen kollektiven Anstrengungen keine große Hilfe.

Rentner mit Minijobs muss man sich nicht unbedingt als arm im Sinne von «nichts haben» vorstellen. Sie besitzen viele Dinge, aber sie geben weniger Geld dafür aus, die alten Gegenstände durch neue zu ersetzen. Allerdings hat sich das Konsumverhalten auch von denen verändert, die im Vergleich zu den Rentnern viel Geld verdienen. Wenn man alles schon hat, was es zu kaufen gibt, und nur noch das Alte durch Neues ersetzen kann, dann macht Shopping als Freizeitbeschäftigung nicht mehr soviel Spaß. Da das immer mehr Menschen so geht, ist in Sachen Konsum etwas Neues «auf den Markt gekommen»: Essen gehen und Kaffeetrinken als Lifestyle, Wellness-Wochenenden und Kreuzfahrten: Das ist Konsum als purer Genuss, hält die Wirtschaft in Schwung und man muss sich nicht um die irgendwann lästig werdenden Gegenstände zu Hause kümmern. Rein wirtschaftlich gesehen ist das fast so gut wie die Produktion und der Verkauf von Kriegsgerät, das ja auch ausschließlich für die Zerstörung hergestellt wird und immer wieder neu produziert werden kann. Ähnlich wie Sylvesterfeuerwerk.

Nicht alle Rentner müssen beim Konsumieren passen. Früher konnten die über 65-Jährigen von ihrer Rente gut leben, manche sogar sehr gut. Besonders die Beamten. Warum manche Berufsgruppen so hohe Renten bekommen und andere nicht, ist heute nicht mehr in allen Fällen einsichtig. Fest steht aber, dass viele heutige Rentner noch ein relativ hohes Einkommen und damit eine enorme Kaufkraft haben, die zum Wohle der Wirtschaft genutzt werden muss. Extra für sie werden altengerechte Gegenstände hergestellt. Zum Beispiel Telefone und Handys mit so großen Knöpfen und Zahlen, dass man sie ohne Lesebrille bedienen kann. Manche dieser Gegenstände – wie Koffer mit Rollen – haben sogar die Lebenswelt der Jüngeren erobert, nunmehr als schicke Konsumgüter.

Auch wenn die wohlhabenden Rentner aus volkswirtschaftlichen Gründen in den Konsum miteinbezogen werden, angesehen sind sie deshalb nicht. So versuchen viele mit allerlei kosmetischen und chirurgischen Maßnamen, mit sportlichen Aktivitäten und jugendlicher Kleidung Jung-Sein noch ein Weilchen vorzutäuschen. Aber spätestens dann, wenn in der vollbesetzten U-Bahn jemand aufsteht, um seinen Sitzplatz anzubieten, wird klar, dass da jemand Altes steht (den Sitzplatz in so einem Fall abzulehnen macht es auch nicht besser!). Kurzum: Die moderne Gesellschaft ist aufgeteilt in Jung und Alt, in die, die dazugehören und die, die aufgrund ihres Alters aussortiert wurden.

Als Bismarck 1889 die Rente einführte, galt sie ab dem 70. Lebensjahr (hauptsächlich für Männer). Dieses Alter erreichte allerdings nur ein Viertel der Bevölkerung, die meisten starben vorher. Die Überlebenden hatten im Durchschnitt noch acht Jahre Lebenszeit. Laut Statistischem Bundesamt haben heute 60-jährige Männer durchschnittlich noch 22 Jahre und Frauen noch 25 Jahre zu leben. Das heißt, ein Rentnerleben ist keineswegs mehr die Restzeit vor dem Tod, sondern wird dadurch definiert, nicht mehr am Erwerbsleben teilzuhaben. Da Arbeit weitgehend das Selbstkonzept in unserer Gesellschaft bestimmt, ist es für nicht mehr Erwerbstätige schwierig, eine neue Identität zu finden. Der «Bruch der Verrentung» kann durchaus ein individuelles Trauma sein. Wenn ich sage: «Ich bin Lehrerin», gehöre ich dazu. Sage ich: «Ich war Lehrerin», gehöre ich nicht mehr dazu. Meine subjektiv gefühlte Identität, die wesentlich über den Beruf bestimmt wird, ist zwar immer noch die gleiche, führt aber nun ins Leere.

Eigentlich ist die Rente eine soziale gesellschaftliche Errungenschaft. Die Festsetzung der Altersgrenze, ab wann der Staat die Rente zahlt, hängt zwar einerseits von den finanziellen Möglichkeiten des Staates ab – wie viel Geld steht für die Renten zur Verfügung, wie viel Arbeitslose gibt es, wie viel Gewinn bringen ältere Arbeitnehmer der Wirtschaft usw.? – andererseits greift das Datum der Verrentung tiefgehend in die individuelle Lebensgestaltung seiner Bürger ein. Von kritischen Journalisten wird immer wieder berichtet von Menschen, deren Lebensarbeitszeit zu lang ist, weil sie äußerst anstrengende Berufe ausüben. Andere, die mit spätestens 65 in die Rente geschickt werden, möchten gerne weiterarbeiten, weil die Rente nicht zum Leben reicht oder weil die Arbeit sie erfüllt und sie sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen können. Es sieht so aus, als ob die Menschen, die keinen «sozialversicherungspflichtigen» Arbeitsplatz haben, die also selbständig arbeiten, am glücklichsten sein könnten, weil sie den Absprung in den Abgrund des Alters nicht machen müssen und einfach weiterarbeiten können. Wobei die meisten von ihnen aber weiterarbeiten müssen, weil sie keine Ersparnisse haben und die Höhe ihrer Rente nicht zum Leben reicht. Es gibt ein zahlenmäßig kleines Grüppchen von über 60-Jährigen, die eine Art Ausnahme bilden. Es sind die Künstler: bekannte Schauspieler, die immer wieder Rollen bekommen, bekannte Schriftsteller und Maler, Reiche – wobei «reich» hier auch diejenigen meint, deren Rente über dem Durchschnittseinkommen liegt – und auch die, die als Selbständige einen Betrieb aufgebaut haben, mit dem sie viel Geld verdienen. Sie sind frei, bis zu ihrem Tod Arbeit und Leben nach ihren eigenen Wünschen und Maßstäben miteinander zu verbinden. Sie sind die Gruppe von Menschen, deren Leben ohne den, von außen aus gesellschaftlichen Zwängen aufgezwungenen Bruch der Verrentung verläuft. Die Rente bringt materielle Sicherheit – aber zu welchem soziokulturellen Preis?

Mittlerweile knirscht das Rentensystem: Weil nicht genug Geld in den Rentenkassen ist, weil man von der Rente oft nicht mehr leben kann, weil Menschen während ihres Berufslebens so wenig verdienen, dass sie davon keine private Altersversorgung ansparen können. Die, die Geld fürs Alter zurücklegen können, geraten vielleicht an betrügerische Finanzberater – wer kennt sich schon in Anlage- und Finanzgeschäften aus? Oder ihr der Bank anvertrautes Geld wird von der nächsten Bankenkrise vernichtet. Das Rentensystem knirscht aber auch, weil Menschen, die sich durch die allgemein gestiegene Lebenserwartung als mitten im Leben stehend empfinden, an einem von außen gesetzten Zeitpunkt, ihre Identität genommen wird, die eng mit ihrem Beruf verbunden ist. Dabei haben sie noch viele Jahre Leben vor sich, das sie aktiv gestalten könnten, bevor die Lebensphase des ganz hohen Alters biologisch tatsächlich so etwas wie «Ruhestand» erzwingt.

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