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Hakenkreuz und Rotes Kreuz

Eine humanitäre Organisation zwischen Holocaust und Flüchtlingsproblematik

AutorGerald Steinacher
VerlagStudienverlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl212 Seiten
ISBN9783706557221
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Mit seiner 150-jährigen Geschichte gehört das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) besonders in Kriegszeiten zu den ältesten und aktivsten Hilfsorganisationen. Die wertvolle Hilfeleistung des IKRK für Millionen Verwundete und Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg steht außer Zweifel, das Schweigen zum Holocaust wird dem Roten Kreuz aber bis heute zum Vorwurf gemacht. Nicht zuletzt diese Kritik führte in den ersten Nachkriegsjahren zu einer schweren institutionellen Krise der traditionsreichen Genfer Organisation. Mitten in dieser tiefen Imagekrise verhalf das IKRK gleichzeitig Kriegsverbrechern zur Flucht. So konnten sich Adolf Eichmann und viele andere Täter mit neuer oder alter Identität und Papieren des Roten Kreuzes der Justiz entziehen. Gerald Steinacher legt in diesem Buch die Haltung der Hilfsorganisation zum Nazi-Regime, die Hintergründe des Schweigens und die Gründe der späten Hilfsmaßnahmen dar, beschreibt die institutionelle Krise und ihre Überwindung und stellt mit seinen Forschungsergebnissen erstmals die Nazi-Fluchthilfe nach 1945 und das Handeln des IKRK während des Holocaust in einen größeren Kontext.

Gerald Steinacher studierte Geschichte und Politikwissenschaft in Innsbruck, Trient und New Orleans. Er war von 2000 bis 2011 Historiker am Südtiroler Landesarchiv in Bozen sowie Angehöriger des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck und unterrichtete auch an den Universitäten München und Luzern. Im Jahr 2006 war er als Research Fellow am United States Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. und arbeitete in den letzten Jahren wiederholt als unabhängiger Forscher für das Oral History Department des Museums. 2009 war er Visiting Scholar am Center for European Studies der Harvard University und arbeitete 2010-2011 als Forschungsprofessor (Joseph A. Schumpeter Research Fellow) in Harvard. Seit Sommer 2011 ist er Assistant Professor of History und Hymen Rosenberg Professor of Judaic Studies an der University of Nebraska-Lincoln. Dr. Steinacher ist Autor zahlreicher Publikationen zur Geschichte Österreichs, Deutschlands und Italiens. Sein bislang letztes Buch ist 2008 unter dem Titel 'Nazis auf der Flucht' im StudienVerlag und in englischer Übersetzung 2011 bei Oxford University Press erschienen.

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Leseprobe

Idee und Praxis des Roten Kreuzes

Das Internationale Rote Kreuz wurde 1863 auf Initiative des Genfer Kaufmanns Henri Dunant gegründet. Die Motivation zu diesem Schritt kam von einem prägenden persönlichen Erlebnis. Als Dunant 1859 auf Geschäftsreise in Italien war, wurde er Zeuge der Schlacht bei Solferino, südlich des Gardasees. Nach dem Kampf zwischen den Truppen des österreichischen und des französischen Kaisers sowie deren Verbündeten kümmerte sich, wie damals üblich, kaum jemand um die Verwundeten und Sterbenden. Sie waren sich meist selbst überlassen, denn Feldärzte gab es wenige. In manchen Fällen halfen die anwohnende Bevölkerung und Kleriker. Als Zeuge dieses Elends auf einem Schlachtfeld half Dunant spontan so gut er konnte und bat auch die Frauen der umliegenden Orte um Hilfe. Im Verhältnis zum großen Leid konnte sein improvisierter Hilfsdienst wenig ausrichten, aber in Dunant wuchs eine Idee: die Schaffung einer dauerhaften Hilfsorganisation für verwundete Soldaten. Seine Erlebnisse an jenem Tage erschienen 1862 als „Erinnerung an Solferino“ und das Buch wurde sofort zum Bestseller. Eine Idee war geboren und fand Anhänger. So gelang es Dunant, andere Genfer Bürger für seine Vision zu gewinnen. Sie schlossen sich in ihrer Heimatstadt Genf zu einem privaten Verein zusammen und setzten Dunants Ideen in die Tat um. Die Idee zündete im Rahmen humanitärer Agenden des damaligen Zeitgeists – wie die Abschaffung der Sklaverei in den USA oder die Abschaffung der Folter und öffentlicher Hinrichtungen in Europa.5 Obwohl das Rote Kreuz gerne die universelle Gültigkeit seiner Grundideen des säkulären barmherzigen Samariters unterstreicht, basierten seine Ideale ursprünglich auf Wertvorstellungen der abendländischen, jüdisch-christlichen Kultur und vor allem dem christlichen Konzept der karitativen Nächstenliebe.6 Die Tätigkeit des Roten Kreuzes wurde von den Schweizern auch im Zweiten Weltkrieg oft noch als „Beweise christlicher Nächstenliebe“ angesehen.7 Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter zählt zu den bekanntesten Gleichnissen Jesu im Neuen Testament. Jesus wird gefragt, wie man gottgefällig handeln soll. Daraufhin berichtet er von einem Reisenden, der auf der Straße überfallen, verprügelt und ausgeraubt wird. Zwei Juden, ein Schriftgelehrter und ein Priester, kommen nacheinander an dem Mann vorbei, aber sie ignorieren das Opfer einfach. Schließlich kommt ein Reisender aus Samaria, hilft dem Überfallenen und sorgt und zahlt für seine Pflege. Der Samariter ist kein Jude, kümmert sich aber im Gegensatz zu den beiden Juden, die achtlos vorübergehen, um den Verletzten. Jesus lässt offen, ob der Überfallene Jude war oder nicht, sondern spricht nur von einem Menschen. In der Geschichte geht es daher um die Sorge eines Menschen für einen anderen Menschen, nicht um die Nächstenliebe für die „eigenen Leute“. Diese Beispielerzählung des Jesus aus Nazareth veranschaulicht, wie Christen handeln sollen. Nicht nur die Liebe zu Gott, sondern auch die Nächstenliebe für alle Mitmenschen ist Voraussetzung für eine christliche Lebensführung. Jesus verbindet diese Klarstellung auch mit einem Auftrag für Christen und Juden: „Geh hin und handle ebenso!“ Die IKRK-Prinzipien Barmherzigkeit und Unparteilichkeit wurzeln letztlich in der Tradition des barmherzigen Samariters. Henri Dunant war tief religiös und lebte nach strengen moralischen Prinzipien. Der langjährige IKRK-Präsident Max Huber sah sich gerne als ein Nachahmer des barmherzigen Samariters. Die unparteiische Hilfe für jeden Leidenden, egal ob Freund oder Feind, ist letztlich die fundamentale Idee des Roten Kreuzes.8 Die Statuten des Genfer Vereins von 1921 hielten diese grundsätzlichen Leitideen fest: „Unparteilichkeit, Hilfeleistungen unabhängig von irgendwelchen politischen, religiösen oder ökonomischen Überlegungen; die Universalität des Roten Kreuzes und die Gleichheit aller Mitglieder“.9 Edmond Boissier, ein Komiteemitglied des IKRK, schrieb 1920 über die Grundlagen des IKRK: „Das Prinzip, das immer und von allen Gesellschaften unter dem Banner des Roten Kreuzes anerkannt wurde, ist universelle Barmherzigkeit im Dienst der leidenden Menschheit, ohne Rücksicht auf Religion, Rasse oder Nationalität. Wohltätigkeit, Universalität, zusammen mit Unabhängigkeit und Unparteilichkeit sind die wesentlichen und distinktiven Merkmale des Roten Kreuzes.“10 Basierend auf seinem Vereinsstatut, kann das IKRK jede humanitäre Initiative ergreifen, die es im Sinne dieser Rotkreuz-Prinzipien für notwendig hält.11

In Anlehnung an die Schweizer Flagge wurde 1864 das rote Kreuz auf weißem Grund zum Symbol dieser humanitären Organisation gewählt. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz ist bis heute ein privater Schweizer Verein, der sich laut Statuten aus maximal 25 Schweizer Staatsbürgern, meist einflussreichen Politikern, Diplomaten und hochrangigen Beamten, rekrutiert. International ist also nur der Aktionsradius, nicht die Zusammensetzung des Komitees. Das Komitee trifft regelmäßig zu Sitzungen zusammen, wobei wichtige Agenden beschlossen werden. Die tägliche Arbeit des IKRK stützt sich vor allem auf einen Stab von vollamtlichen MitarbeiterInnen, die großteils am Sitz des IKRK in Genf oder als Delegierte in Krisengebieten tätig sind. Die MitarbeiterInnen waren in der Vergangenheit ebenfalls nahezu immer Schweizer Staatsbürger.12 Wie wir noch sehen werden, war die Beschränkung auf Schweizer Staatsbürger wiederholt umstritten. Doch diese enge Bindung an die Schweiz hatte Gründe. Nicht von ungefähr gab es zwischen dem IKRK und der Schweizer Regierung von Anfang an ein sichtbares Nahverhältnis. Im Prinzip bestand für das IKRK wie für die Schweizer Bundesregierung eine strenge Trennung der Institutionen, wie man sowohl in Bern als auch in Genf betonte. Schweizer Diplomaten wurden normalerweise keine Rotkreuz-Aufgaben übertragen, Rotkreuz-Delegierte hielten sich mit politischen Aussagen oder nationalem Überschwang eher zurück. IKRK-Mitglieder waren aber in nicht wenigen Fällen vor und nach ihrer Zeit beim Roten Kreuz im diplomatischen Dienst der Schweiz tätig. Die Tätigkeit im IKRK war zuweilen ein wichtiger Abschnitt in der Karriere eines Schweizer Diplomaten oder Akademikers. In der Praxis wurde das IKRK von der Bevölkerung daher nicht selten als Schweizer Einrichtung gesehen. Für das Ausland und nicht zuletzt die Eidgenossen selbst stellte die Schweizerische Neutralität eine wichtige Grundlage des Roten Kreuzes dar. Die humanitäre Tätigkeit des IKRK wurde als Hilfe der Schweiz für Konfliktopfer angesehen.13 Die Neutralität des Gastgeberlandes wurde als Voraussetzung für die Arbeit des IKRK angesehen. Hans Haug, der langjährige Präsident des Schweizerischen Roten Kreuzes, fasst dies so zusammen: „Wenn eine Institution kraft ihrer Unabhängigkeit und ihres schweizerischen Charakters für strikte Neutralität und vollkommene Unparteilichkeit einsteht und Gewähr bieten will, so ist es das internationale Komitee. Die dauernde Neutralität der Schweiz bestimmt aber nicht nur die geistige Einstellung und die Haltung des IKRK, sondern sie ist auch Voraussetzung ihrer praktisch-technischen Wirkungsmöglichkeiten.“14 Das IKRK und die Schweiz existierten in einer Art Symbiose. Ohne die Schweizer Neutralität schien die Arbeit des IKRK unmöglich. Das IKRK hatte daher alles Interesse daran, die Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz zu verteidigen, wo es konnte. Denn ohne das Domizil Schweiz war auch das IKRK nicht mehr arbeitsfähig. Das Verhältnis zwischen IKRK und der Schweizer Regierung war daher phasenweise recht eng; es gab personelle Überschneidungen, nicht zuletzt engste persönliche wie berufliche Kontakte zwischen Bern und den Humanitariern in Genf. Obwohl das IKRK immer seinen übernationalen Charakter betonte, war es „gegen die Sirenenklänge des Schweizer Nationalismus nicht immer immun.“15 Die Ziele und Interessen der Schweiz und des IKRK waren aber oft unterschiedlich. Was passiert etwa, wenn die Schweiz von der Neutralität abweicht? In diesem Fall muss das Rote Kreuz seine eigenen Prinzipien beugen oder sich gegen das Gastgeberland (und damit als Staatsbürger gegen das eigene Heimatland) stellen. Genau dieser Konfliktfall ist im Zweiten Weltkrieg eingetreten. Grundsätzlich vertreten Staaten egoistische Ziele, die angeblich der Nation oder einer Machtelite dienen. Das Rote Kreuz hingegen vertritt humanitäre Ziele, die auf unparteiischer, selbstloser Nächstenliebe beruhen. Konflikte zwischen dem IKRK und der Schweizer Regierung waren daher unvermeidlich.16

Grundlage für die Arbeit des Roten Kreuzes bilden neben den eigenen Vereinsstatuten vor allem die Genfer Konventionen. Das sind die rechtlichen Rahmenbedingungen, die für unser Thema zentral sind. Auf Anregung Dunants sah die erste Genfer Konvention von 1864 die Verbesserung des Loses der verwundeten Soldaten im Feld vor. Das Vertragswerk bestand aus zehn Artikeln und wurde von zwölf Staaten unterzeichnet, deren Regierungen sich zu dessen Einhaltung basierend auf dem Prinzip der...

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