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E-Book

Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben

Erinnerungen

AutorMarianne Birthler
VerlagCarl Hanser Verlag München
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl432 Seiten
ISBN9783446244139
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Marianne Birthlers Geschichte ist durch die doppelte Erfahrung des Lebens in der DDR und im wiedervereinten Deutschland gekennzeichnet. Aufgewachsen in Ost-Berlin, setzte sie sich schon als junge Frau für mehr Selbstbestimmung unter den Bedingungen der Diktatur ein. Ihre Haltung führte sie Mitte der achtziger Jahre in die Opposition gegen den SED-Staat und schließlich in das Zentrum der revolutionären Ereignisse von 1989. Als erste Kultusministerin im neuen Bundesland Brandenburg, erste Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen und als Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen bewies sie große Unabhängigkeit. Die Autobiographie einer Frau, die die jüngere deutsche Geschichte maßgeblich mitgeprägt hat.

Marianne Birthler, 1948 in Berlin geboren, war von 2000 bis 2011 als Nachfolgerin von Joachim Gauck die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Sie war eine der Akteurinnen der Freiheitsrevolution von 1989, Ministerin in Brandenburg und Vorsitzende der Partei Bündnis 90 / Die Grünen.

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Leseprobe

 

 

1

 

Stumme Zeugen: Rundgang durch ein Archiv

 

Die Erinn’rung ist eine mysteriöse

Macht und bildet die Menschen um.

Wer das, was schön war, vergißt, wird böse.

Wer das, was schlimm war, vergißt, wird dumm.

                                                       Erich Kästner

 

Die Blumensträuße sehen noch ganz frisch aus. Überall stehen Vasen – auf dem Schreibtisch, auf dem Fußboden, vor dem Fenster. Vor wenigen Tagen habe ich mein neues Amt angetreten. Die ersten Tage verliefen geschäftig, aber unaufgeregt: Begrüßungen, Terminabsprachen, erste Sitzungen, Entscheidungen und Unterschriften. Einladungen. Stapel von Briefen. Mein künftiger Alltag wurde sichtbar, der Alltag der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, korrekt: für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik.

An diesem 17. Oktober 2000 ist es anders, und ich bin etwas beklommen, als mich der behördliche Fahrer am Morgen abholt. Wir fahren nicht in die Glinkastraße in mein Büro, sondern nach Lichtenberg. Heute werde ich das Archiv, das Herzstück der Behörde, besuchen. Meine Beklommenheit rührt von der Befürchtung her, nun mit jener Seite meines neuen Amtes in Berührung zu kommen, die für mich immer noch düster und bedrohlich ist.

Der Weg ins Archiv führt über das Gelände des früheren Stasi-Hauptquartiers. Die »Magdalenenstraße« – der Name war auch schon zu DDR-Zeiten ein Synonym für Staatssicherheit – war ein riesiger Gebäudekomplex, furchteinflößend und hermetisch abgeriegelt, von außen nicht einsehbar. In den achtziger Jahren arbeiteten hier bis zu 7000 Hauptamtliche. Ich war im Herbst 1988 schon einmal unter ganz anderen Bedingungen hier, nach einer Festnahme. Wir hatten im Zentrum Ost-Berlins gegen die Zensur kirchlicher Zeitungen demonstriert, das heißt, wir wollten demonstrieren, aber wir kamen nicht weit. Die Lastwagen, auf die wir verladen wurden, standen schon bereit und brachten uns in die Magdalenenstraße – in die zum Gelände gehörende Untersuchungshaftanstalt. Die Sache ging glimpflich aus. Ein paar Stunden Warten, ein Verhör, die Unterschrift unter ein Vernehmungsprotokoll, das keines war, weil ich nichts gesagt hatte, dann spät am Abend die Entlassung.

Das erste Haus, das bei der Fahrt auf das Gelände in den Blick kommt, ist das Haus 1, einst Sitz von Erich Mielke, mehr als drei Jahrzehnte lang Minister für Staatssicherheit. Seine letzte Rede vor der Volkskammer am 13. November 1989 war erbärmlich: »Ich liebe doch alle, alle Menschen.« Er wurde ausgelacht. Eine lächerliche Figur war aus ihm geworden, dem mächtigen und zu Recht gefürchteten Mann. Der hässliche Vorbau aus Betonformsteinen lässt auf notorisches Misstrauen schließen: Er sollte den Minister, seine Begleiter und Gäste vor neugierigen oder feindlichen Blicken schützen, wenn sie ihren Limousinen entstiegen und das Haus betraten oder wieder verließen.

Wir fahren rechts vorbei und halten direkt vor Haus 7 am Haupteingang. Ich werde von Birgit Salamon und Jochen Hecht begrüßt – die beiden leiten gemeinsam die Archiv-Abteilung. Zusammen mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern haben sie den heutigen Rundgang sorgfältig vorbereitet. Die neue Bundesbeauftragte soll einen möglichst umfassenden Eindruck vom Archiv und von der Arbeit, die dort geleistet wird, bekommen. Ich werde durch zahlreiche Gänge geleitet, die für mich alle gleich aussehen und in denen ich mich auch zehn Jahre später noch verlaufen werde, von Magazin zu Magazin, durch Karteisäle und Arbeitsräume. Ich gehe an den alten Hebelschubregalen und den Karteipaternostern entlang, in der Nase den etwas muffigen und säuerlichen Geruch alter Akten, vermischt mit den unverwechselbaren Ausdünstungen von DDR-Fußbodenbelag. Ich besichtige Kilometer von Regalen voller Aktenordner mit ihren typischen blassen Farben und endlose Reihen ordentlich beschrifteter Kartons, in denen nach allen Regeln der archivischen Kunst erschlossene Unterlagen sorgfältig verpackt sind. Ein Stück weiter ein ganz anderer Anblick: unzählige Bündel von Ordnern, Schnellheftern, Broschüren und losen Blättern, mit Bindfaden zusammengeschnürt – alles vor mehr als einem Jahrzehnt in den Büros der Stasi-Offiziere sichergestellt. Dann Papiersäcke mit zerrissenen Akten. Eigentlich hätten sie gänzlich vernichtet werden sollen: verbrannt, geschreddert oder verkollert, also zerkleinert und mit Wasser in Papierbrei verwandelt. Aus später aufgefundenen Befehlen vom Oktober 1989 ging hervor, was vorrangig zu beseitigen sei. Als dann aber das für die Obristen Unvorstellbare geschah und sie ihre Macht über das Land und ihre gutbezahlten Posten verloren, da herrschten Hektik und Angst, da wurde in den Schredder gesteckt, was griffbereit war, was im Schreibtisch und im Handregal lag oder was ihnen später womöglich zum Verhängnis werden konnte. Tage- und nächtelang wurden unzählige Unterlagen per Hand zerrissen und in Müllsäcke gestopft, um sie später endgültig zu vernichten. Dazu ist es glücklicherweise nicht mehr gekommen, und noch heute warten, verteilt auf Berlin und die Außenstellen, in mehr als 15.000 Säcken Berge von Fetzen und Schnipseln (die angesichts dieser Vorgeschichte in der ordentlichen Sprache der Archivare »vorvernichtete Unterlagen« heißen) darauf, dass aus ihnen wieder Akten werden – in mühseliger Puzzlearbeit von Hand oder später vielleicht mit Hilfe eines raffinierten Computerprogramms, das eigens für diesen Zweck geschaffen werden soll.

Überall erwarten mich kluge Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, manche etwas aufgeregt, erklären mir, was ich sehe, und beantworten alle meine Fragen. Auf beiden Seiten herrscht Neugier: Meine Gastgeber haben sich noch nicht daran gewöhnt, dass Joachim Gauck, der die Stasi-Unterlagen-Behörde aufgebaut und sie zehn Jahre lang geleitet und geprägt hat, nicht mehr da ist. Geht das überhaupt, die Gauck-Behörde ohne Gauck? Das fragen sich in diesen Wochen viele, auch manche Journalisten machen aus ihrem Zweifel keinen Hehl: Sind die Schuhe, die Gauck hinterlassen hat, nicht vielleicht doch etwas zu groß für die Neue? Ehrlich gesagt habe auch ich in stillen Stunden meine Zweifel, aber das wissen nur wenige.

Aufmerksame Blicke verfolgen mich, und natürlich werden die, die mit mir gesprochen haben, hinterher von ihren Kollegen gefragt werden: »Und, wie ist sie nun, die neue Chefin?« Ich bin ebenfalls neugierig – und auch etwas angespannt. Ich weiß, wie viel von dieser ersten Begegnung abhängt, und versuche gar nicht erst so zu tun, als wüsste ich über alles Bescheid. Vertrauen wird nicht entstehen, indem ich hier die Oberexpertin gebe, sondern wenn die Experten spüren, dass ich sie und ihre Arbeit respektiere und ihnen zuhöre.

Von Station zu Station wächst meine Faszination – obwohl das Thema Staatssicherheit nichts Neues für mich ist: Ich habe mich als Abgeordnete der Volkskammer für die Aktenöffnung und die Gründung einer Stasi-Unterlagen-Behörde eingesetzt. Ich habe als Ministerin die Überprüfung von 27.000 Brandenburger Lehrerinnen und Lehrern auf frühere Tätigkeit für die Staatssicherheit geleitet. Ich habe mit einigen meiner Freundinnen und Freunde immer wieder über das gesprochen, was sie in ihren Akten lesen konnten und lesen mussten. Immer wieder erreichten uns Nachrichten darüber, wer uns verraten und heimlich mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet hatte. Und ich war enttäuscht, als ich nach meinem Antrag auf Akteneinsicht die Auskunft bekam, der zu mir angelegte Vorgang sei laut Karteikarte am 19. Dezember 1989 vernichtet worden. Im Laufe der nächsten Jahre fanden sich dann doch noch etliche mich betreffende Unterlagen – die Stasi hatte viele Informationen doppelt und dreifach aufbewahrt.

Die Akten – und die Menschen, um die es in ihnen geht – sind für mich von nun an allerdings nicht mehr nur eines von vielen Themen. Sie werden im Mittelpunkt meiner Arbeit stehen. Hier in diesen Regalen liegen in Kartons, Ordnern und Bündeln die Zeugnisse jahrzehntelanger Überwachung und Repression. Hier lässt sich nachlesen, wie die Staatssicherheit Menschen das Leben zur Hölle gemacht hat. Hier findet die unmittelbare Begegnung mit dem statt, was Menschen anderen Menschen angetan haben – und antun können.

Auf einer der Stationen meines Rundgangs komme ich mit Sylvia Kegel ins Gespräch. Ihre Aufgabe ist es, Tondokumente zu sichern und zu registrieren. Die Staatssicherheit hat nicht nur Akten hinterlassen, sondern auch Videos, Fotos und unzählige Tonbänder: Mitschnitte von Verhören, von Gesprächen zwischen Führungsoffizier und IM, von Telefonaten. Dann die Reden von Erich Mielke und schließlich Tondokumente von Gerichtsverhandlungen, manche davon fast ein halbes Jahrhundert alt. Frau Kegel bietet mir einen Platz an und schaltet ein Abspielgerät ein: Ich höre nicht zum ersten Mal Erich Mielke in vertrautem Kreis aggressiv und in unsäglichem Deutsch räsonieren, dass man seiner Ansicht nach heutzutage viel zu milde mit Verrätern in den eigenen Reihen umgehe. Wenn man dagegen auf ihn hörte – kurzen Prozess würde man da machen …

 

Wir sind nicht gefeit, leider, dass auch mal ein Schuft noch unter uns sein kann, wir sind nicht gefeit dagegen, leider. Wenn ich das schon jetzt wüsste, dann würde er ab morgen schon nicht mehr leben. Ganz kurz – Prozess. Aber weil ich Humanist bin, deshalb habe ich solche Auffassungen … All das Geschwafel von wegen nicht hinrichten und nicht Todesurteil – alles Käse is’ Genossen. Hinrichten den Menschen ohne [… unverständlich …], ohne Gerichtsbarkeit und so...

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