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Hallo Deutschland

Auf der Suche nach Heimat

AutorImaani Brown
VerlagHeyne
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641203887
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Wie fühlt es sich an, in einem Kriegsgebiet aufzuwachsen? Inmitten von Trümmern, Bomben und Tod. Was macht es aus einem Menschen, wenn man als Kind in die Fremde geschickt wird? Wo man allein ist und niemanden versteht. Findet man jemals wieder einen Ort, den man Heimat nennt?

Imaani Brown erzählt von Flucht und Entwurzelung. Von Schmerzen, Angst und Enttäuschung. Aber auch von Zuversicht, Liebe und Glück. Und den Lichtblicken, die das Leben im tiefsten Dunkel bereithält.

Imaani Brown wurde 1980 in Ahvaz, Iran, geboren. Nachdem sein Cousin 1986 aus dem Schulunterricht zum Militär eingezogen wurde, beschloss Imaani Browns Vater, seinen Sohn mit einem Schleuser nach Frankfurt zu schicken. Imaani war damals sechs Jahre alt. Er lebt heute in Berlin, ist Autor, Musikproduzent und Comedian und arbeitet nebenher als Remixer und DJ.

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Leseprobe

1

Ich muss fünf gewesen sein, als ich meine erste Leiche sah. Ein Jahr, bevor ich das Land verließ. Es war ein Mann mittleren Alters. Er lag zwischen Steinen und Schutt, zwischen den Ruinen seines Hauses in Abadan im Iran. Als Kind suchte ich nach den Bombardements immer nach Bombensplittern. An jenem Tag fand ich aber nur diesen Mann. Sein Gesicht war staubig weiß vom Schutt, vermischt mit Blut. Ich konnte nur einen Teil seines Oberkörpers sehen. Der Großteil seiner Leiche war verschüttet. Nur sein Kopf ragte vollständig aus den Trümmern hervor. Seine Augen standen offen. Ich war wie versteinert. Hatte aber keine Angst. Er sah so friedlich aus. Ich hielt meinen kleinen Ball ganz fest in den Händen und stand stumm vor ihm, bis mich ein Mann wegschubste: »Na los, Kleiner, geh nach Hause!« Ich rannte mit meinem Ball in den Händen davon. Zu Hause erzählte ich es meiner Tante. Sie nahm mich in den Arm und weinte. Es war ein jüdischer Stoffhändler gewesen, bei dem sie oft einkaufen gegangen war.

Der Großteil meiner Familie lebte in Ahvaz, einige wenige Verwandte, unter anderem meine Tante, in Abadan. Als Saddam Hussein 1980 einen Überraschungsangriff startete, rückten seine Truppen auf Abadan vor. Die irakischen Soldaten belagerten die Stadt. Viele Menschen starben oder mussten fliehen, auch Mitglieder meiner Familie. Abadan war für Saddam von besonderem Interesse, wegen des Erdöls. Der Iran verfügt über das drittgrößte Erdölvorkommen weltweit, und die Stadt am Persischen Golf war das Zentrum der iranischen Erdölindustrie. Unter der Erde Abadans brodelte das schwarze Gold. Später wurden auch Chorramschahr und Ahvaz Kriegsschauplätze. Es war ein territorialer Krieg um die Provinz Chuzestan, deren Hauptstadt Ahvaz ist, die Stadt, in der ich geboren wurde.

Ahvaz ist eine der heißesten Städte der Welt. Es kommt nicht selten vor, dass Temperaturen über fünfundfünfzig Grad herrschen. Gepaart mit heftigen Sandstürmen, die die ganze Stadt gelblich weiß erscheinen lassen. Ich kann mich erinnern, dass es mitunter so heiß war, dass ich manchmal, wenn ich kurz ohne Schuhe rausging, auf den Fersen laufen musste, um mir die Fußsohlen nicht zu verbrennen. An manchen Tagen, wenn es heftige Bombenangriffe auf die Stadt gab, die Krankenwagen mit ihren schrillen Sirenen durch die Straßen fuhren, die Menschen schrien und weinten, man das Beben der Detonationen spürte und gleichzeitig ein Sandsturm wütete, stand ich einfach nur in der flimmernden Hitze auf der Straße vor unserer Wohnung und betrachtete das, was vor mir lag. Die Häuser und Trümmer, die in Flammen standen, die Toten und Verletzten, Menschen, die qualvoll schrien oder wegrannten, wenn sie noch konnten. Es war die Hölle auf Erden. Aber als Kind kannte ich es nicht anders. Es war die Welt, in die ich hineingeboren wurde, in der ich aufwuchs. Und ich glaubte, es wäre überall wie hier, im Iran. In meiner Vorstellung existierte kein Ort, an dem Menschen in Frieden lebten. Und mir war schon damals bewusst, dass ich irgendwann sterben würde. Vielleicht durch eine Bombe, vielleicht aus einem anderen Grund. Vielleicht würde ich Glück haben und so alt wie Vater und Mutter werden. Aber dass es so kommen würde, war keineswegs selbstverständlich. Im Gegenteil: Der Tod war allgegenwärtig. Man konnte seinen Atem im Nacken spüren.

Die größte Sorge meiner Mutter war, dass es sie und meinen Vater irgendwann treffen könnte und meine jüngere Schwester, mein neugeborener Bruder und ich als Waisenkinder aufwachsen würden. Jedes Mal, wenn die Sirenen des Fliegeralarms ertönten und wir die Jets über unseren Köpfen hören konnten, verkroch sich meine Mutter mit meiner Schwester, später auch meinem Bruder und mir in einer Ecke der Wohnung. Sie legte sich über uns drei Kinder, als ob sie uns so vor den Bomben beschützen könnte, und murmelte leise und gefasst die ganze Zeit: »Lieber Gott, wenn es dich gibt, lass meine Kinder nicht zu Waisen werden – wenn es uns trifft, dann nimm uns alle mit.« Die arme Frau, was muss sie damals verspürt haben. Sie war zu jener Zeit erst Mitte zwanzig.

Das Schlimmste für uns war jedoch der Moment nach dem abrupten Ende der Angriffe. Dann herrschte plötzlich diese Stille. Eine merkwürdige Stille, beängstigend, nicht erleichternd. Es war der Moment, in dem einem das ganze Ausmaß erst bewusst wurde. Wenn man auf den Straßen in die paralysierten Gesichter der Menschen blickte, die umherirrten und nach Angehörigen suchten. Wenn sich weinende Mütter und Väter auf den Boden warfen, ihr totes Kind in den Armen. Wenn sich die Alten einfach an Ort und Stelle auf den Boden setzten, zu schwach, um weiterzugehen. Und dann dieser entsetzliche Gestank in der Luft. Der Geruch, der nach den Bombenangriffen über der Stadt hing, erinnerte mich an abgebrannte Streichholzköpfe. Doch du konntest dich dem Ganzen auch nicht entziehen und einfach sagen: »Ich bleibe zu Hause, in meinen vier Wänden.« Du wolltest raus aus dem Drecksloch, in das du dich verkrochen hattest. Auf die Straßen. Nach einem solchen Angriff wolltest du nur noch nach draußen und fliehen.

Auch meine Mutter ging nach den Anschlägen immer mit hinaus. Um zu atmen, tief ein- und auszuatmen. Wir standen auf der Straße vor unserem Haus, genauso paralysiert wie die anderen Menschen. Wenn wir schließlich realisierten, was gerade passiert war, löste sich unsere Erstarrung, und wir weinten. Nicht vor Glück, dass wir überlebt hatten, sondern weil all das, was gerade geschehen war, so unvorstellbar blieb.

Manchmal, wenn die Angriffe heimtückisch in der Nacht geflogen wurden und die Stadt den Strom abgeschaltet hatte, damit sich die Piloten nicht an den Lichtern orientieren konnten, mussten meine Eltern laut nach uns rufen, wenn alles vorbei war, weil auch unsere Wohnung in völliger Dunkelheit lag. Meine Schwester weinte und rief nach meiner Mutter, mein Vater rief nach mir, um zu hören, ob ich in Ordnung war. Wir tappten so lange durch die Dunkelheit, bis wir uns an den Händen fassen konnten. Vater versuchte dann, die Öllampe zu finden. Sobald er sie hatte, machte er sie an, und wir setzten uns im Kreis um sie herum, während draußen die Hölle tobte. Seitdem hasse ich Öllampen. Ich verbinde mit ihnen nur Trauer, Tod und Hilflosigkeit.

Mutter und Vater redeten oft mit mir über den Tod. Und ich bin ihnen bis heute dankbar dafür. Denn sie haben mir schon als Kind die Angst davor genommen. Sie wollten sichergehen, dass meine Geschwister und ich zurechtkämen, wenn ihnen etwas zustoßen würde. Also versuchten sie, mich über den Tod aufzuklären. Dass er zum Leben dazugehöre, wir im Krieg sterben könnten und all das. Den Tod als etwas Natürliches anzunehmen, fiel mir nicht schwer, waren wir doch tagtäglich von ihm umgeben. Es gab regelmäßig Beerdigungen in unserem Familien- und Bekanntenkreis – über achtzig Menschen aus meinem Umfeld starben in diesem sinnlosen Krieg. Vater entschloss sich irgendwann, nur bei engen Verwandten zur Beerdigung zu gehen, es wäre sonst zu viel für ihn geworden. Und jeder, der eine iranische Beerdigung erlebt hat, weiß, was wahre Hysterie ist. Frauen, die sich die Gesichter zerkratzen, an ihren Haaren ziehen, kreischend zusammenbrechen und sich auf dem Boden wälzen. Als Kind konnte ich das nicht verstehen. Einerseits betonten meine Eltern immer wieder, der Tod sei nichts Schlimmes, andererseits bekam ich bei den Beerdigungen ein anderes Bild davon, ein wahrlich grauenhaftes. Deshalb mieden meine Eltern die Begräbnisse fortan, sooft es ging.

Der Mensch gewöhnt sich an alles, selbst an das Schlimmste – und so gewöhnten wir uns immer mehr an den Krieg. Bei den ersten üblen Angriffen waren wir geschockt, bei den nächsten schon weniger, und später liefen wir ganz normal in der Wohnung herum, während draußen Menschen starben. Beim hundertsten Angriff feilschten meine Eltern auf dem Basar um ein Kilo Tomaten, während die Kampfjets über ihren Köpfen flogen.

Ganz einfach war das natürlich nicht, aber was blieb einem anderes übrig? Dieser beschissene Krieg dauerte acht Jahre lang. Und man hatte ja auch noch ein Leben zu führen. Eine Hochzeit, die man planen musste. Eine Scheidung, die organisiert werden wollte. Eine neue Wohnung, in die man einzog. Eine Familie, die man gründete. So surreal es klingt: Den Menschen war es nach Jahren im permanenten Ausnahmezustand egal, ob sie von einer Rakete getroffen wurden. Wenn es einen erwischt, dann ist das eben so, dachten sie sich. Und für viele wäre es sogar eine Erleichterung gewesen.

Ich weiß nicht, wie oft wir damals umgezogen sind. Wir hatten zwar jedes Mal viel Gepäck, aber keine Möbel – das hätte sich nicht gelohnt. Manchmal nahmen wir auch einfach irgendeine Behausung, Hauptsache vier Wände und genügend Platz, um darin zu schlafen. Die meiste Zeit lebten wir aber in einem Haus mit großem Hof, in dem außer uns noch eine alte Frau und eine weitere Familie wohnten. Wir hatten nur einen großen Raum mit einer kleinen Küche für uns – meinen Vater, meine Mutter, meine jüngere Schwester, mich und später auch meinen Bruder. Neben den Küchenutensilien gab es einige Kissen und Decken, sonst nicht viel. Und überall in den Wänden waren Termiten. Ihre Spuren zogen sich durch den gesamten Raum, und ich versuchte, sie beim Spielen nicht zu berühren. Nachts konnte ich nicht ruhig schlafen, weil ich ständig Angst vor ihnen hatte und glaubte, dass sie über mein Ohr in meinen Kopf krabbeln und dort mein Gehirn auffressen würden. Sobald ich im Dunkeln etwas an meinem Ohr verspürte, schrie ich laut und schüttelte den Kopf, um die Viecher herauszubekommen. Es war grauenhaft, aber immerhin hatten wir eine Bleibe.

Die Schwestern meiner Mutter waren mit...

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