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E-Book

Hamid Rahimi

Die Geschichte eines Kämpfers. Biografie

AutorHamid Rahimi, Mariam Noori
VerlagOsburg Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783955100322
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Kabul 1992. Hamid ist acht Jahre alt, er hat sich gerade mit seinem besten Freund Khalil ein Eis geholt, als die Bombe explodiert. Tote und Verletzte, wohin man schaut. Danach flüchtet er mit seiner Familie nach Deutschland. In seiner neuen Heimat fühlt er sich ausgestoßen. Als drei Jungen ihm absichtlich einen Fußball ins Gesicht schießen, schlägt er zu. Viele Jahre dauert es, bis er den schwierigsten Kampf seines Lebens - den Kampf gegen sich selbst - antritt. Vom Kriegsopfer zum Verbrecher, vom Drogenabhängigen zum Profisportler, vom Flüchtling zum gefragten Gesprächspartner. Hamid Rahimis Leben ist gezeichnet von scheinbar unvereinbaren Gegensätzen. Zwanzig Jahre nach seiner Flucht kehrt er als gefeierter Profiboxer in sein geschundenes Heimatland zurück und wird einer der Hauptakteure der Friedensbewegung in Afghanistan.

HAMID RAHIMI wurde 1983 in Kabul als Sohn einer Schulleiterin und eines Agraringenieurs geboren. 1992 flüchtet er mit seiner Familie über Moskau nach Hamburg, wo er zunächst in ärmlichen Verhältnissen aufwächst. Er wird straffällig, drogenabhängig, landet im Gefängnis und wird schließlich Profiboxer. 2012 wird er WBU-Weltmeister und gewinnt den WBO Inter-Continental-Titel im Mittelgewicht. MARIAM NOORI wurde 1987 in Afghanistan geboren. 1992 flüchtet ihre Familie vor dem Bürgerkrieg nach Hamburg. Dort studiert sie heute Rechtswissenschaften. 2012 schreibt sie mit Wasiem `Massiv´ Taha die Biografie `Solange mein Herz schlägt´, die es auf Anhieb in die Top Ten der Spiegel-Bestsellerliste schafft. Seit Jahren unterhält sie eine innige Freundschaft zu Hamid Rahimis Familie.

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Leseprobe

Kapitel 1


Der Reissack

 

An einem wunderschönen Tag im Spätsommer 1983 bin ich zur Welt gekommen. Schon die Umstände meiner Geburt waren so außergewöhnlich, wie mein Leben es werden sollte. Die Sonne ging gerade über dem Hindukusch auf und färbte den Himmel flammend rot, von den Minaretten brüllten die Muezzins den frühmorgendlichen adhan, den Aufruf zum Gebet. Das Zimmer meiner Mutter war feuchtwarm, sie wälzte sich im Bett und nässte das Baumwolllaken mit ihrem Schweiß ein.

Kurz darauf, als wären die Schmerzen nie gewesen, knöpfte sie ihr mintgrünes Kleid zu, steckte die Haare zum Dutt und machte sich auf den Weg. Der Bauch wog schwer und mit annähernd dreißig fühlte sie sich fast schon zu alt zum Kinderkriegen. Doch bevor sie dieses Kind auf diese Welt bringen würde, gab es da noch etwas zu erledigen, vorher würde sie nicht entbinden – so hat sie es mir jedenfalls später erzählt. Dank ihrer außerordentlichen Fähigkeit, bis zum Vergessen zu verdrängen, hatten die Krämpfe sie zunächst auch nicht aus der Ruhe bringen können. Doch nach den ersten Schritten unter der Kabuler Mittagssonne fühlte sie erneut diesen entsetzlichen Druck im Unterleib. Die Wehen. Zweifel begannen in ihr aufzukeimen. Was, wenn sie es nicht mehr rechtzeitig schaffte? Was, wenn sie in Ohnmacht fiel? In Zeiten wie diesen konnte niemand auf helfende Hände hoffen.

Am 25. Dezember 1979 war die Rote Armee ins Land einmarschiert. Sowjetische Fallschirmspringer waren im Kabuler Flughafen Tapa-i-Maranjan gelandet, Militärflugzeuge am Himmel erschienen, Panzer über die staubige Erde gerollt. Eine Ära des Krieges war eingeläutet worden, das Problemkind Afghanistan war geboren, nun war ihr eigenes auf dem Weg. Seitdem hatten sich die Menschen verändert. Die Gesetzlosigkeit, die sie tun ließ, was ihnen gefiel, und die Tatsache, dass, was ihnen gefiel, über den Grad ihrer Menschlichkeit entschied, spalteten die Bevölkerung in Engel und Ungeheuer. Und Engel waren in diesen Tagen eine ungeheuerliche Seltenheit.

Weiß Gott, was ihr die dogmatischen Mullahs unterstellen würden, wenn sie es nicht rechtzeitig ins Krankenhaus schaffte und sich mit gespreizten Beinen auf den Bürgersteig legen musste. Verlassen durfte sie sich nur auf sich selbst. Irgendwie würde sie die Geburt hinauszögern können. Irgendwie würde sie das schon schaffen. Irgendwie schaffte sie es doch immer.

Die Straßen waren menschenleer, eine beklemmende Stimmung lag in der Luft. In der Nacht hatten Widerstandskämpfer, die Mudschaheddin oder »Gotteskrieger«, mithilfe ihrer Bazookas einen Panzer abgeschossen. Nun musste der Feind Vergeltung üben und seinerseits etwas in die Luft sprengen, was den Afghanen gehörte, und da die Afghanen nicht viel besaßen, wurden stattdessen ihre Heimat in Schutt und ihre Körper in Asche gelegt. Seit die Gotteskrieger vom US-amerikanischen Geheimdienst finanziert und mit Waffen versorgt wurden, war der Krieg brutaler geworden. Die Menschen flohen in Scharen aus dem Land. Warum war sie noch hier? Warum?

Die bedrohliche Atmosphäre bereitete ihr Unwohlsein. Sie mied die Hauptstraße. Der Weg führte über eine Gasse, wo es nach allem stank, was Menschen und Köter ausscheiden konnten. Die Sonne stand im Zenit, die Luft war zum Schneiden dick, es wehte nicht einmal das leiseste Lüftchen. Mit flauem Magen und weichen Knien stützte sie sich gegen eine Lehmwand. Sie atmete schwer, ihre Wangen glühten und das Herz hämmerte in ihrer Brust. Doch wäre sie wohl kaum meine Mutter gewesen, wenn diese Strapazen sie zum Umkehren bewogen hätten. Aufzugeben, ohne getan zu haben, was sie tun zu müssen glaubte, kam für sie nicht infrage.

Sie dachte an den Sack Reis, den Grund ihres irrsinnigen Ausflugs. Ein Sack Reis, glaubte sie, könne bei sparsamer Rationierung ein Kind mehrere Jahre am Leben erhalten. Am Abend zuvor hatte sie in der Vorratskammer drei Reissäcke zählen können. Drei Reissäcke für drei hungrige Kindermägen. Jedes ihrer Kinder hatte den Anspruch auf einen eigenen Sack Reis – wer will auch nur ein einziges Reiskorn mit anderen teilen, wenn der Magen vor Hunger an der Wirbelsäule klebt? Nun würde aber ein viertes Kind dazukommen. Ein Baby wächst rasch zum Kleinkind, es hat ständig Hunger und fühlt sich schnell benachteiligt. Es zermürbte sie, nicht eher daran gedacht zu haben. Kriege beginnen mit Raketen und Bomben und enden in Hunger und Armut. Mit Gottes Hilfe würden sie und ihre Kinder vielleicht den Beginn überleben. Doch nur mit ihrer Selbsthilfe würden sie auch das Ende des Krieges erleben.

Es war nicht der richtige Zeitpunkt zum Einkaufen. Die Menschen hatten sich in ihren Häusern verbarrikadiert und die wenigen verkaufsbereiten Händler schliefen oder beteten das Mittagsgebet. Sie machte einen Bogen um einen offenen Gully. Die Straßen waren uneben und löchrig, tiefe Krater hatten das Gelände in eine Mondlandschaft verwandelt. Mit schweren Schritten trug sie ihren birnenförmigen Leib durch die schmalen Gänge, bis sie endlich einen geöffneten Verkaufsstand erreichte.

So schwer die Zeiten auch waren – später sollte sie sich mit Wehmut an diese Jahre zurückerinnern. Was für ein Privileg es damals doch war, sich als Frau unverschleiert und ohne Begleitung aus dem Haus wagen zu dürfen! Bevor die selbsternannten Sittenwächter das Land einnahmen, Freiheit priesen und Sklaverei verschrieben, bevor sie Frauen Burkas wie Leichensäcke über die Köpfe stülpten, bevor sie Menschen ihr Menschsein verboten.

Der Standverkäufer war ein ungebildeter Narr, ein besauod – das konnte sie ihm an der Nasenspitze ansehen. Er trug einen staubbedeckten Turban, einen fleckigen tumban – weite Hosen – und einen ungepflegten Schnauzer, an dessen buschigen Borsten gelbes Irgendwas klebte. Während er eine gellende Unterhaltung mit einem anderen Mann führte, popelte er in der Nase. Kreisende Bewegungen. Er pulte einen schleimigen Popel heraus und streifte ihn an seinem tumban wieder ab. Meine Mutter rümpfte die Nase. Sie musste ihn dreimal ansprechen, bis er sie überhaupt wahrzunehmen geruhte. Sein träger Opiumblick signalisierte Abscheu und Ekel. Seinen popeligen Zeigefinger auf sie gerichtet, bellte er: Halt den Mund, halt den Mund, wenn Männer Männergespräche führen. Der Schatten seines Turbans fiel auf ihren üppigen Bauch. Dumme Hazarafrau, plusterte er sich auf. Dumme Hazarafrau, wiederholte er grinsend und entblößte braune Kautabakzähne.

Meine Mutter blieb ungerührt. Hatte sie es doch längst aufgegeben, solche Menschen belehren zu wollen. Das wäre, als wolle man einen Waldbrand mit einem Wasserglas löschen. Sie erinnerte sich an ein Zitat ihres Lieblingsdichters Scheich Saadi: Ein Dummer ist wie eine Trommel – nach außen laut, von innen leer.

Erneut durchfuhr sie ein qualvoller Schmerz, sie fühlte sich wie aufgespießt und presste die Lippen aufeinander. Das Kind. Der Reis. Wortlos streckte sie dem Verkäufer den von ihrem Schweiß nass und klebrig gewordenen Geldschein entgegen. Der Mann warf einen gierigen Blick darauf und schürzte die Lippen. Dann holte er tief Luft: Zum Schuhputzen tauge sie, ein Schlitzauge sei sie – eine Hazarafrau mit einem Braten in der Röhre. Und so weiter. Er rotzte braungrünen Geifer auf den Boden.

Für gewöhnlich passierte ihr so etwas nicht mehr so häufig. Als stellvertretende Schulleiterin genoss sie in der Nachbarschaft Ansehen und Respekt. Dieser besauod musste ein besonders dummes Exemplar Mann sein. Sie ertappte sich beim Gedanken, ihn rügen zu wollen. Doch das Atmen fiel meiner Mutter immer schwerer, ihr stures Baby drängte unerbittlich darauf, zur Welt gebracht zu werden. Sie hatte keine Zeit mehr. Mit fester Stimme forderte sie ihren Reissack ein.

Hazarafrau, Hazarababy, schnaubte sie, die widerten ihn wohl an – aber Afghanengeld, das möge er doch. Also hier, nimm, nimm dein Afghanengeld! Nimm es und gib mir den Reis für mein Kind, keuchte sie und warf den Geldschein in die Luft. Er sank in gleitenden Bewegungen, wie eine Feder, zu Boden. Den Opiumblick geweitet, hob der Verkäufer den Schein auf und wischte mit seiner Handfläche sorgfältig darüber.

Dieser Geldschein, er hielt das blassgrüne Papier gegen das Sonnenlicht, ist wertvoller als du und dein Balg zusammen. Hazar Hazara, tausend Hazara, haben nicht den Wert eines einzigen echten afghanischen Geldscheins.

Wieder rotzte er braungrünen Geifer auf den Boden. Braungrüner Geifer verschmolz mit lichtgelber Erde. Braungrüner Geifer sickerte in den Boden. Womöglich wird an dieser Stelle bald eine Pflanze wachsen, überlegte meine Mutter. Eine hässliche, braungrüne Kautabakpflanze.

Dann warf er ihr den Sack Reis vor die Füße. Los, hau ab! Er wedelte mit der Hand, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen. Na, hau doch ab!

Müden Schrittes, den Reissack wie einen Säugling im Arm, machte sie sich auf den Heimweg. Sie wusste nun, dass sie es nicht mehr rechtzeitig nach Hause schaffen würde. Von Schmerz und Hitze übermannt, setzte sie sich auf eine steinerne Bank. Sie konnte nicht weiter. Es ging nicht mehr. Sie würde es hier zu Ende bringen müssen. Alleine.

Und dort, im Schatten eines blühenden Akazienbaums, sollte ich zur Welt kommen. Ihre milchweiße Haut war von der Sonne versengt, die Füße aufgebläht, das mintgrüne Sommerkleid raubte ihr die Luft wie eine Korsage, doch sie trug ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen. Denn den Reis hatte sie besorgt. Nun gab es nur noch eine letzte Pflicht gegenüber ihrem ungeborenen Kind zu erfüllen: Sie musste mich auf diese Welt vorbereiten. Also wandte sie sich an mich, wie sie mir später erzählte, und gab mir einige Worte mit auf den Weg. Entscheidende...

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