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E-Book

Handbuch der Kinderstimmbildung

AutorAndreas Mohr
VerlagSchott Music
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl246 Seiten
ISBN9783795786069
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Das 'Handbuch der Kinderstimmbildung' wendet sich an alle, die mit Kindern singen. Der methodische Teil spricht in erster Linie Stimmbildner und Chorleiter sowie Studierende an, aber auch Schulmusiker, Kirchenmusiker und Lehrer für Elementare Musikpädagogik. Der ausführliche Übungsteil mit zahlreichen Notenbeispielen gibt Anregungen und Hilfen für die praktische Stimmbildungsarbeit mit Kindern. In jedem Kapitel findet man neben technischen Übungen auch Vorschläge, wie Stimmbildung in Spielhandlungen verpackt werden kann. Einen neuen Weg beschreitet der Autor mit Liedern und Liedausschnitten für die stimmliche Arbeit, bis zu speziell für dieses Buch komponierten 'Stimmbildungsliedern'. Auch nebenberufliche Chorleiter oder Pädagogen, die nicht über die entsprechende Ausbildung verfügen, erhalten hier wertvolle Ratschläge für das richtige Umgehen mit der Kinderstimme.

Seit über 3 Jahrzehnten beschäftigt sich Andreas Mohr beruflich mit der stimmlichen Ausbildung von Kindern. Nach dem Studium der Germanistik und Musikwissenschaft in Tübingen und Freiburg sowie dem Gesangstudium in Freiburg war er Stimmbildner an der Domsingschule Freiburg i. Br. und Rottenburg/Neckar sowie Dozent für Gesang, Chorische Stimmbildung und Sprecherziehung an der Hochschule für Kirchenmusik Rottenburg und Lehrbeauftragter für Gesang und Methodik der Kinderstimmbildung an der Musikhochschule Trossingen. Am Institut für Musik der Fachhochschule Osnabrück betreut Andreas Mohr seit 2006 im Studienprofil 'Vokalpädagogik' einen Lehrauftrag für Kinderstimmbildung und Didaktik der Gesangspädagogik, seit 2007 als Professor für Kinderstimmbildung. Ein besonderer Schwerpunkt in diesem Studienprofil ist die Thematik 'Singen mit Kindern', was sich auch in dem Forschungsprojekt 'Die Vokalklasse. Vokale Hinführung zur Musik im Musikunterricht der Grundschule' zeigt. Hier werden ab dem Wintersemester 2007/08 in einer mehrjährigen Kooperation mit einer Osnabrücker Grundschule didaktische Modelle und pädagogische Konzepte entwickelt, wie eine stärker auf das Singen begründete Hinführung zum Musizieren und zur Musik künstlerische, musikalische und allgemein musische Kompetenzen fördern kann. Als Resultat der Forschungsperiode sollen Materialien, Handreichungen und Curricula für die vokalorientierte Hinführung zur Musik entstehen.

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Leseprobe

2.Fähigkeiten der Kinderstimme

Um als Stimmbildner effektive Arbeit zur Gesunderhaltung und Formung der Kinderstimme leisten zu können, ist es notwendig, darüber Bescheid zu wissen, was Kinder stimmlich leisten können und worin die Ursachen für Defizite zu sehen sind – Defizite, die allerorten beklagt werden, wenn von kindlichem Singen die Rede ist.

2.1Veranlagung

Bei der Entwicklung stimmlicher Fähigkeiten muß unterschieden werden, zu welchem Zweck die Stimme benutzt wird. In den ersten zwei bis drei Lebensjahren erprobt der Säugling zwei verschiedene Klangformen sowie eine unendliche Reihe von Zwischenformen. Aus dem Artikulationslallen, dem Glucksen und Schnarren des Säuglings wird sich die Sprache entwickeln; aus dem Schreien, Jauchzen und Jubilieren entsteht die Singstimme. Dieses Experimentieren stimmlicher Äußerungen geschieht sowohl exspiratorisch als auch inspiratorisch. Auch später noch erleben wir häufig, daß Kinder, wenn sie etwas sehr Aufregendes erzählen wollen, sich nicht immer Zeit zum Einatmen gönnen und daher während des Einatmungsvorgangs weitersprechen.

Stimmliche Erprobungsphasen des Säuglings und Kleinkindes zeugen von einer erstaunlichen Vitalität des Instruments Stimme.

Dieses nicht selten stundenlang währende Training beweist eine kräftige und stabile Naturanlage, die schon längst das irrtümlich bestehende und für die Entwicklung des Organs nachteilige Vorurteil von der »zarten und empfindlichen Stimme« hätte beseitigen sollen.16

In der Tat sind die Leistungen, die das Kleinkind mit der Stimme vollbringt, erstaunlich.

Kein anderes Organ des Säuglings und Kleinkindes erträgt schon eine solch hohe Beanspruchung und verfügt über eine derartig hohe Leistungsfähigkeit wie die zum Schreien verwendete Stimme.17

Dies hat mit der Entwicklungsgeschichte des Menschen zu tun. Lange bevor die Organe des Kehlkopfs zur Stimmerzeugung benutzt wurden, schützten Verschlußmechanismen die Lungen vor dem Eindringen von Fremdkörpern (vor allem von Wasser). R. Schilling erklärt diese Tatsache und schreibt weiter:

Außer der Schutzfunktion des Kehlkopfs für die Lunge hat sich später im Laufe der Entwicklung noch eine zweite Funktion herausgebildet, die der Stimmfunktion vorausging oder wenigstens unabhängig von ihr entstand. Das ist die Stemmfunktion. Daß der Kehlkopf einen Verschluß bildet, ist nämlich nicht nur von Bedeutung dafür, daß von außen nichts hereinkommt, sondern u. U. auch dafür, daß die eingeschlossene Luft nicht herauskann.18

Benutzt der menschliche Fötus in der Gebärmutter diesen Kehlkopfverschluß, um die Lungen vor dem Eindringen von Fruchtwasser zu schützen? Im Geburtsschrei löst sich dieser Verschluß, und die Sauerstoffversorgung wird auf Lungenatmung umgestellt. Das Neugeborene kommt also mit einem bereits muskulär bestens trainierten Organ auf die Welt. Das könnte erklären, warum das Stimmorgan diese erstaunliche Kraft schon vom Tag der Geburt an besitzt.

Allerdings beziehen sich die stimmlichen Fähigkeiten des Neugeborenen auf nichtfrequenzfixierte Muskelspannungen und -dehnungen. Mit dem Beginn des Singens wird eine neue Anforderung an das Stimmorgan gestellt: die zeitliche Fixierung von Muskelspannungen. Daß dies zuerst in einem viel eingeschränkteren Tonraum geschieht, leuchtet ein, darf aber nicht dazu führen, daß der gesamte bereits vorhandene Stimmumfang nun plötzlich nicht mehr benutzt wird und sich das Training des Organs auf die bescheidene Distanz von einer Oktave oder gar noch weniger beschränkt, wie es ja in den meisten Kinderliedern der Fall ist.

Die natürliche Singfähigkeit entwickelt sich durch das kindliche Tun selbstverständlich und ohne Probleme. Beim vorsprachlichen Erproben des Instruments wird das Kind nicht gehindert – im Gegenteil, Erwachsene bestärken die Säuglinge und Kleinkinder weitgehend in der Produktion solcher Lautäußerungen. Bei den ersten Singversuchen sollte nun ebenfalls eine große Bereitschaft vorhanden sein, das kindliche Experimentieren zu dulden, ja zu fördern. Dazu gehört auch und gerade das Singendürfen in höherer Lage, da höhere Stimmbereiche sich nur durch kontinuierliches Training entwickeln, durch Nichtbenützen jedoch verkümmern.

Ein in Familie, Kindergarten und Grundschule nicht an natürlicher Singübung gehindertes Kind kann im Lebensalter zwischen drei und sechs Jahren bereits den gesamten Tonraum der eigenen Stimme entdeckt und singend erprobt haben – freilich anfänglich mit allerlei Unsicherheiten in Intonation, Resonanzausnützung und Linienführung, aber gesund und ohne künstliche, d. h. von außen an das Kind herangebrachte sogenannte »Förderung«. Das Stimmorgan entwickelt sich natürlich und gewinnt an Kraft, Ausdauer und Klangschönheit allein durch das selbstverständliche Experimentieren.

Das singende Umfeld spielt dabei eine wichtige Rolle. Bleibt ein Kind mit seinen Singerfahrungen ständig allein, so bildet sich das Zusammenwirken von Gehör, Gehirn und Stimmfaltentätigkeit nur ungenügend aus. Defizite, die besonders die Intonation betreffen, sind die Folge.

2.2Defizite

Defizite in der Singfähigkeit von Kindern können sehr vielfältige Ursachen haben, die der Stimmbildner jeweils erkennen muß, um eventuell helfen zu können.

Angeborene Mißbildungen im Bereich des Stimmorgans und psychische Defekte, die sich auf die Stimmfunktion auswirken, sind selten, bedingen jedoch meistens nachhaltige Störungen in der Entwicklung der Singstimme. Inwieweit hier Korrekturen möglich sind, ist im jeweiligen Einzelfall medizinisch oder psychiatrisch zu entscheiden.

Chronische Erkrankungen der Atemwege, insbesondere Asthma und Pseudo-Krupp, aber auch schwerer Husten oder allergische Reaktionen der Atemwege-Schleimhäute, sind bei Kindern relativ häufig und haben deutlichen Einfluß auf die stimmliche Entwicklung und Fähigkeit. Auch hier kann der Stimmbildner nicht helfen; medizinische und gegebenenfalls psychologische Betreuung ist notwendig.

Jedoch ist der Stimmbildner – eventuell im Verein mit Logopäden, Psychologen und Pädagogen – angesprochen, wenn es um die vielfältigen Mißbräuche geht, die der kindlichen Stimme zugemutet werden.

2.2.1Mangelnde Übung

Erfuhr die Stimme bei der Erprobung von Sprachlauten noch reiche Förderung seitens der Erwachsenen, so wird die Entfaltung der Singstimme kaum mehr unterstützt, sondern allzuhäufig durch gesellschaftliche Zwänge und mangelnde Fähigkeiten der Erwachsenen nachhaltig gehindert.

Wenn dann weiter die Schule den »Schreiton« verbietet und die Übung der Singstimme in einen Umfang verweist (c1–c2), der weit unter der Leistung eines Säuglings liegt, so ist es kein Wunder, daß nach einigen Jahren die Stimmärzte und Stimmphysiologen […] fast bei der Hälfte der Kinder nur noch heiser klingende, kraftlose und in der Höhe versagende Stimmen vorfinden können […]. Die Tragödie der Jugendstimme beginnt in unserer Zivilisation bereits im Kreis der Familie. Niemand nimmt sich Zeit, um mit den Kleinen zu singen. Das volkstümliche Liedgut der Region und des Kirchenjahres geraten in Vergessenheit. Die Jugendstimme kann sich nicht musikalisch üben.19

Diese »Inaktivitätsatrophie«, wie P.-M. Fischer es nennt, ist u. a. Folge eines erschreckenden Phänomens in der Erziehung von Kindern und deren stimmlicher Entwicklung: mangelnde Übung. Es muß uns klar sein, daß die Kinderstimme nur in dem Bereich funktioniert, in dem sie erübt wird. Auch Bereiche, in denen die Kinderstimme naturhaft nicht ihre beste Entfaltung erfährt, können durch Benutzen notgedrungen zur klanglichen Heimat werden – mit verheerenden Folgen für die gesunde Entwicklung des Stimmorgans.

Wenn wir mit Kindern nicht oder nur sehr wenig singen, können sie keine Erfahrungen mit dem Organ sammeln. Ein Zusammenwirken von Klangwahrnehmung und Klangproduktion wird nicht entstehen. Wie wichtig der Zusammenhang zwischen Ohr, Gehirn und Stimme ist, führt P. Nitsche aus:

Je sicherer und selbstverständlicher das wache, bewußte und aufmerksame Hören gehandhabt wird, um so schneller und vollkommener wird die Stimme ihre eingeborenen Möglichkeiten entfalten. Die Summe »hörfähiger« Kinder aber produziert eines Tages mit Selbstverständlichkeit und ohne besondere Bemühung das Ergebnis eines makellosen Chorklanges. Darum allein schon lohnt die Mühe sorgfältiger Aussaat.20

Großen Einfluß auf das Funktionieren dieses Wechselspiels hat auch die Übung der Stimme in der Gruppe. Wer hier wenig Erfahrung mitbringt, wird u. U. schnell die Kontrolle über die eigene Stimme verlieren, da er...

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