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Handbuch der therapeutischen Utilisation (Leben Lernen, Bd. 239)

Vom Nutzen des Unnützen in Psychotherapie, Kinder- und Familientherapie, Heilkunde und Beratung

AutorStefan Hammel
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl285 Seiten
ISBN9783608102055
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Nutze alles! Das ist der Grundsatz der Herangehensweise. Nutze das, was der Klient gut kennt, was er sagt, wahrnimmt und ablehnt. Nutze vor allem seine Symptome und Probleme. Wie diese überraschenden Interventionen genau funktionieren und gelingen, macht der Autor an vielen Fall- und Anwendungsbeispielen aus der Praxis deutlich. - Großer Anwendungsbereich bei nahezu allen Symptomen und Störungen - Stefan Hammels »Handbuch des therapeutischen Erzählens« hat sich bereits gut bewährt. ZIELGRUPPE: - Psychotherapeuten aller Schulen - systemische Familientherapeuten - Hypnotherapeuten

Stefan Hammel ist ausgebildet als Systemischer Therapeut und Hypnotherapeut; er ist Leiter des »Instituts für Hypnosystemische Beratung« in Kaiserslautern (Pfalz) sowie Referent von hypno- und systemtherapeutischen Ausbildungsinstituten in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Er ist zudem Autor des hypnosystemischen Blogs »HYPS« und Autor therapeutischer Medien (DVDs, CDs, Postkarten, Paartherapeutisches Spiel). Interviews mit Stefan Hammel über »Wenn Geschichten heilen« und »Vom Nutzen des Unnützen - was ist Utilisation?« finden Sie unter: www.stefanhammel.de

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Leseprobe
Vorwort Kampot in Kambodscha. Wir sitzen vor einer Bambushütte. »Au!« »Moskito oder Ameise?« »Ameise.« Die Insekten sind das einzig Unangenehme an diesem Ort. Wir betrachten die Muscheln und Schnecken, die wir am Strand gesammelt haben. »Wenn wir die mitnehmen, stinken sie uns die Koffer voll, auf der ganzen Reise bis nach Hause.« Um eine geruchsfreie Nacht zu verleben, lassen wir die Überreste der Schalentiere vor der Tür. Als wir am anderen Morgen vor die Tür treten, sind die Schalen übersät von Ameisen. Als wir am übernächsten Morgen vor die Tür treten, sind keine Ameisen mehr da. Als wir am Morgen darauf aufbrechen, nehmen wir die Schalen mit. Kein Hauch eines Geruchs geht von ihnen aus. Phnom Penh, Kambodscha. Wir gehen durch eine Einkaufsstraße. »Wick-wack, wick-wack.« Eine Hupe, die wie eine Gummi-Badeente klingt, kündigt eine Müllsammlerin an, die mit ihrem Handwagen durch die Straße zieht. Manche dieser Sammlerinnen sind auf Glas- und Plasikflaschen spezialisiert, manche nehmen jede Art von Müll, einige suchen Reis- und Baustoffsäcke oder Dosen. Glasflaschen werden an Moped-Tankstellen verkauft, in die Benzin abgefüllt wird, Plastikflaschen können als Wasserbehälter dienen oder verfeuert werden, Baustoffsäcke können mit Beton gefüllt als formbare Mauersteine Verwendung finden, und Nahrungsmittelsäcke mit schönen Motiven können in Taschen für Touristen verwandelt werden. Aus Blechdosen kann man Spielzeug machen, das ebenfalls von Touristen gekauft wird. Phnom Penh hat keine geregelte Müllabfuhr. Die Straßen sind weitgehend abfallfrei. Zurück in Kaiserslautern. Wir besprechen das Titelbild des Buches. »Im Kern handelt doch dein Buch von Recycling.« »Man merkt deine Erfahrung als Umweltingenieurin.« »Doch! ?Nutzen des Unnützen? bedeutet ?Recycling?.« »Ja, wir recyceln Leben. Symptome, Erinnerungen, Werte, Worte.« »Hat denn das Titelbild etwas mit Recycling zu tun?« »Der Apfel, die Vorhänge, der Himmel: Ich glaube, das ist alles nützlich in seinem ursprünglichen Zusammenhang. Von seinem Ursprung getrennt betrachtet ist alles unnütz.« »Sind die Sachen auf dem Bild also unnütz?« »Sie sind in einem Zwischenzustand. Sie sind auf dem Weg zur Wiederverwertung.« Auch die Gedanken dieses Buches sind in einem Zwischenzustand. Sie sind auf einer Reise. Im Buch sind sie nichts als Tintenkleckse. Und weder im Autor noch im Leser werden sie jemals dieselben sein wie die, als die sie aufgeschrieben wurden. So danke ich euch, die ihr das Bestehende aus dem Bestehenden erneuern wollt, und allen, die das scheinbar Nutzlose in den Kreislauf des Lebens zurückführen. Dass das Vorhandene im Leben von Menschen als kostbar behandelt wird, auch inmitten von Unerreichtem und Unerfülltem, ist das Anliegen dieses Buches. EINLEITUNG Das Problem vor dem Karren der Lösung Nutze alles! Das ist der Grundsatz dieses Buches. Nutze die Botschafter des Problems als Wegbereiter der Lösung! Nutze das, was der Klient gut kennt, nutze alles, was ihm vertraut und plausibel ist! Nutze, was ihm unbestreitbar ist, nutze, was er mag und was er hasst! Nutze, was er denkt und was er sagt, was er wahrnimmt, tut und erlebt! Nutze seine Symptome! Nutze das Problem für die Lösung des Problems! Nutze die Krankheit für die Gesundheit und den Schmerz für das Wohlbefinden! Alles ist für eine Lösung nützlich, vor allem alles, was das Problem ausmacht, was mit ihm in Verbindung steht, was mit ihm in Verbindung gebracht wird oder zeitgleich mit ihm auftritt. Im Alltag sind wir oft bemüht, Probleme mit Lösungen zu bekämpfen. Dabei übersehen wir womöglich, dass diese Probleme sich gerade deswegen im Leben eines Menschen so zäh zu halten vermögen, weil sie werthaltig sind. Wenn wir die Werte nutzen, die den Symptomen und ihrem Kontext innewohnen, kann es gelingen, das Problem vor den Karren der Lösung zu spannen. In Übereinstimmung mit der positiven Intention der Symptome und des Umfelds, das sie hervorgebracht hat, sind therapeutische Veränderungen zu erreichen. Trotz der Bedeutung des Utilisationsgedankens in der Psychotherapie gibt es bisher kein Konzept, um Utilisation systematisch zugänglich zu machen. Überhaupt ist wenig spezifische Literatur zu diesem Thema verfasst worden. Das mag zum einen daran liegen, dass beim systematischen »Nutzen des Unnützen« eine solche Vielfalt an möglichen Ausgangsproblemen und Zielsetzungen, an utilisierbaren Inhalten und an therapeutischen Interventionen zu berücksichtigen ist, dass eine umfassende Darstellung des Themas ausgeschlossen scheint. Zum anderen geht es beim Konzept der Utilisation darum, die Therapie so individuell zu gestalten, wie es die Klienten und ihre Anliegen sind. Wie kann man eine möglichst individuelle Beratung so allgemein beschreiben, dass das Dargestellte in neue Situationen übertragbar ist, ohne seinen Anspruch auf Individualität zu verlieren? Sicher wäre es lohnend, den Ansatz der Utilisation einer wissenschaftlichen Überprüfung zu unterziehen. Eben dies dürfte sich aus den genannten Gründen allerdings schwierig gestalten: Statistische Aussagen benötigen als Grundlage eine möglichst große Zahl von Einzelereignissen, die unter einem bestimmten, definierten Gesichtspunkt vergleichbar sind. Diese Anforderung steht in Spannung zum Ansatz der Utilisation, die Therapie so weit als möglich zu individualisieren. Damit soll die Therapie nicht der Beliebigkeit der Methoden und Inhalte unterworfen werden, sondern es soll auf der Grundlage einer Vielfalt von beschreibbaren therapeutischen Grundsätzen möglichst angemessen auf die Einzigartigkeit jedes Klienten und jeder therapeutischen Situation eingegangen werden. Leser des Manuskripts haben die Frage aufgeworfen, ob die Skizzenhaftigkeit der dargestellten Fälle nicht den Eindruck hinterlassen könnte, als ob wenige Interventionen genügten, um weitreichende Veränderungen zu erreichen. In einigen der beschriebenen Therapiesituationen ist dies tatsächlich der Fall gewesen, so etwa bei den dargestellten Phobietherapien. In anderen Fällen wurden um der Übersichtlichkeit der Darstellung willen nur die Interventionen beschrieben, die offenbar zum Ziel geführt haben. Gerade bei kurzen Therapien, die mit relativ wenigen Interventionen auskommen, ist ein guter Überblick über die möglichen Risiken und Nebenwirkungen der therapeutischen Arbeit nötig. Es entspräche dem Gegenteil eines Utilisationskonzeptes, wenn Leser dieses Buch als »Kochbuch« zur genauen Nachahmung verwendeten. In vielen Bereichen, wie bei somatischen Erkrankungen, bei der Arbeit mit traumatischem Erleben, bei Persönlichkeitsstörungen und wahnhaftem Denken, ist es zudem wichtig, dass Spezialisten verschiedener Fachrichtungen zusammenarbeiten und jeder Berater sich bewusst macht, wo die Grenzen seiner Arbeitsmöglichkeiten liegen. Ein Beweis, welche Interventionen nun genau zum Erfolg geführt haben, wird selten möglich sein; fast immer werden in einer Therapiestunde verschiedene Ansätze miteinander kombiniert. So ist die Einschätzung, was in einer Therapie wirksam war, immer subjektiv. Dies gilt natürlich auch für die Auswahl der in diesem Buch gebotenen Information. In der Praxis gewinnen Therapeuten Sicherheit in dieser Frage, indem sie in strukturell vergleichbaren Therapiesituationen wiederholt ähnliche Kommunikationsstrukturen anwenden und die Ergebnisse über einen längeren Zeitraum hinweg vergleichen. Daraus entstehen Hypothesen über die Regeln, die zum therapeutischen Erfolg führen, und über Verfahren, die sich daraus ableiten lassen. Viele Aspekte sind bei der Entwicklung von Utilisationstechniken gleichzeitig im Blick zu halten; das Arbeitsfeld, das beschrieben werden soll, ist komplex. So kann sich die Darstellung auch nicht allein auf die Utilisation einzelner Aspekte in den jeweiligen Fallgeschichten beschränken. Mit beschrieben werden muss, wie Assoziationsnetze, die ein symptomatisches Erleben hervorrufen, sich selbst aufrechterhalten und wie sie verändert werden können. Dieses Buch stellt meines Wissens den ersten Versuch dar, therapeutische Utilisation regelhaft beschreibbar, lehrbar und lernbar zu machen. Es soll aus der Praxis heraus eine Diskussion anstoßen, die dazu führt, genauer zu verstehen, was therapeutisch wirkt, und wie Therapeuten das für ihre Klienten Hilfreiche möglichst zuverlässig finden können. Die therapeutische Ausrichtung dieses Buches kann als hypnosystemisch bezeichnet werden, also als eine Verschmelzung von Verfahren der Systemischen Therapie mit hypnotherapeutischen Vorgehensweisen in der Tradition Milton Ericksons. Charakteristisch für diesen Ansatz ist es, hypnotherapeutisch fundierte Methoden in »wachen« Beratungskontexten einzusetzen. Die Arbeit beruht auf der Erfahrung, dass in Hypnose vorkommende Therapieeffekte auch dann eintreten können, wenn keine formale Tranceinduktion stattfindet. Gelegentlich werden Fälle besprochen, bei denen Hypnose im engeren Sinn angewendet wird. Ziel dieser Falldarstellungen ist es, die Dynamik des therapeutischen Geschehens pointiert herauszuarbeiten, um Erkenntnisse zu vermitteln, die für die Psychotherapie und Beratung von allgemeinem Interesse sind. Ziel ist es nicht, Hypnosetechniken im engeren Sinn zu vermitteln. Daher wird auf die Beschreibung und Erklärung von Tranceinduktionen weitgehend verzichtet. Gelegentlich werde ich auf den Umgang mit geschlechtsspezifischen Sprachformen angesprochen. Diese Frage nach dem Dominieren männlicher Formen ist in den hier behandelten Arbeitsfeldern besonders pikant, da bei den Beratenden wie auch bei den Beratenen die Frauen in der Überzahl sind. Ich habe bisher keine für mich zufriedenstellende Lösung gefunden. In den meisten Abschnitten wäre vom »Therapeuten oder der Therapeutin und seinem oder ihrem Klienten bzw. seiner oder ihrer Klientin« zu sprechen. Das dient nicht der Verständlichkeit, doch auch Lösungen wie das große »I«, ein Querstrich oder Partizipialkonstruktionen (»die Beratenden«) scheinen mir das Lesen und gegebenenfalls Vorlesen von Texten zu erschweren. Neben verschiedenen Einzelfalllösungen sehe ich momentan nur die Möglichkeit hervorzuheben, dass in jedem Fall, wo nichts anderes ausdrücklich vermerkt ist, beide Geschlechter gemeint sind. 1.1 Das Unnütze nützen Utilisation bedeutet, das scheinbar Unnütze oder Schädliche nützlich zu machen. Natürlich ist nichts in sich selbst nutzlos oder schädlich. Etwas ist nutzlos oder schädlich in Bezug auf ein bestimmtes Ziel. Wenn alles mit Blick auf das Problem anscheinend Nutzlose und Schädliche neu betrachtet auch nützlich sein kann, dann ist es von Interesse, gerade diese Dinge in den Dienst des erstrebten Nutzens zu stellen. Ebenso können wir auf Werthaltungen und offensichtliche Ressourcen zurückgreifen, die bisher keine Verbindung zu einer Lösung hatten. Der Begriff der therapeutischen Utilisation kann unterschiedlich weit gefasst werden. Im engeren Sinn bedeutet er, das Problem und seine Botschafter vor den Karren der Problemlösung zu spannen. Mühselig kann es sein, wenn der Therapeut oder die Therapeutin den Karren aus dem Dreck ziehen soll, mühsam aber auch, den Klienten dazu zu bewegen, dies in bewusster Anstrengung selbst zu tun. Leichter geht es, wenn das Problem selbst oder ein Element davon dafür eintritt, das Problem zu lösen. Dazu ist es hilfreich, dem Problem Interesse, Wertschätzung und Vertrauen entgegenzubringen - manchmal auch Humor. Im weiteren Sinn bezieht sich der Begriff der therapeutischen Utilisation auf alles, was vom Klienten mit dem Problem assoziiert wird: die auslösenden und die erhaltenden Faktoren des Problems, die Menschen, die auf das Problem reagieren, die Ratgeber und behandelnden Personen, die Therapiesituation und alles, was sich beim Auftreten des Problems oder in der Therapie ereignet. Gerade solche Aspekte im Erleben des Klienten zu nutzen, die für die Problemlösung zunächst schädlich oder belanglos erscheinen, kann für die Klienten und für die therapeutische Arbeit viele Vorteile haben. Utilisationstechniken ... -sind wertschätzend gegenüber dem Symptom und gegenüber Personen oder Persönlichkeitsanteilen, die es hervorbringen, -führen zu neuen Ideen, wo die bisherigen Ansätze die gewünschte Veränderung nicht erbracht haben, - sind geeignet, unmotivierte Klienten für eine aktive Teilnahme am Gespräch zu gewinnen, - sind geeignet, Hoffnungslosigkeit zu überwinden und Visionen von einem gelingenden Leben zu eröffnen, - knüpfen an Vertrautes an, was für den Klienten oder einen Anteil von ihm werthaltig ist, - kooperieren mit den Persönlichkeitsanteilen, die (wahrscheinlich mit einer positiven Absicht) eine Veränderung bisher nicht zugelassen haben, anstatt gegen diese Anteile zu arbeiten, - bewahren den Therapeuten vor Langeweile und fördern seine Kreativität, - bewahren den Therapeuten vor Lähmung durch Identifikation mit dem Leiden und mindern langfristig sein Burnout-Risiko. Das Konzept der Utilisation kann dabei helfen, ein stabilisiertes Problemerleben (Leiden, Stress) in ein stabiles Lösungserleben zu überführen. Dazu werden einzelne zentrale Elemente der Ausgangslage wertschätzend aufgegriffen und plausibel mit Elementen einer Zielsituation verknüpft, also mit Aspekten körperlichen, seelischen und sozialen Erlebens, die mit dem erlebten Problem schwer vereinbar sind. Erstaunlich zuverlässig bewährt sich der Grundsatz der Zirkularität: Was als Folge eines Problems beschrieben wird, ist fast immer auch eine Ursache seiner Aufrechterhaltung. Die Ergebnisse von Stress wirken in einem kausalen Gewebe selbst stressauslösend. 1.2 Das Erickson'sche Utilisationskonzept Der Begriff und die Praxis der therapeutischen Utilisation gehen zurück auf die Arbeit des amerikanischen Psychiaters Milton Erickson. Erickson hat zahlreiche Fallberichte zur Praxis der Utilisation unter den Gesichtspunkten der unterschiedlichen Störungen, Problemstellungen, Zielsetzungen und Methoden veröffentlicht und kommentiert, jedoch nie eine Theorie oder Methodenlehre zur Utilisation verfasst. Es finden sich Ansätze zu einer Definition des Begriffes, ohne dass jedoch eine umfassende systematische Beschreibung des Konzeptes versucht wird. Milton Erickson spricht von der »Nutzung der eigenen Reaktionsmuster und Fähigkeiten des Probanden anstelle des Versuchs, ihm durch Suggestion das begrenzte Verständnis des Hypnotiseurs [resp. des Therapeuten, Anm. d. Autors] aufzunötigen, wie er sich verhalten und was er tun sollte«. Ernest Rossi hebt das Erleben von Übereinstimmung (Rapport) zwischen Therapeut und Klient hervor: »Die Nutzbarmachung der eigenen Haltungen des Patienten wird zum grundlegenden Ansatz für die Vermeidung dessen, was die meisten anderen Therapeuten ?Widerstand? nennen.« 2 In diesem Sinne beschreibt er Utilisation als »die ständige Einbeziehung des ganz individuellen Repertoires von Fähigkeiten und Potenzialen jedes einzelnen Patienten« 3 . Rossi spricht zwar von einer »Utilisationstheorie«, gesteht aber wiederum ein: »Obwohl Erickson das Konzept der Utilisation zur Hypnoseinduktion einführte ..., hielt er meine Bemühungen, es zu einer Theorie hypnotischer Phänomene zu verallgemeinern, wohl für ein wenig prätentiös und vielleicht sogar lächerlich.« 4 Anders als Rossi beschreibt Milton Erickson Utilisation nicht als eine bestimmte »Methode«, »Technik« oder »Theorie«; eher geht es ihm um eine Haltung, die sich mit einer Vielfalt von Techniken assoziieren lässt. Die Aufgabe des Therapeuten sieht Erickson darin, »die vom Patienten gezeigten Verhaltensweisen zu akzeptieren und ihnen zu folgen, wie ungünstig diese in der klinischen Situation auch erscheinen mögen«. Seine klinischen Untersuchungen zur Arbeit mit Utilisationstechniken fasst Erickson wie folgt zusammen: »Diese Methoden beruhen darauf, die eigenen Einstellungen, Empfindungen, Denk- und Verhaltensweisen der Versuchsperson zu nutzen; des Weiteren wurden Aspekte der realen Situation ... in verschiedenster Weise verwendet.« 5 Folgt man diesem Ansatz, dann kann man sagen: Utilisation ist die Haltung, jeder Eigenart des Klienten und seiner Lebenssituation mit Wertschätzung zu begegnen und das jeweils Einzigartige daran für die therapeutischen Ziele zu nutzen. Milton Erickson hat seinen Utilisationsansatz mit unzähligen Beispielen aus verschiedenen Lebens- und Arbeitsbereichen illustriert. Ein Junge [wurde] in Ericksons Praxis gezerrt und in der Mitte der Praxis stehen gelassen. Er schrie wie am Spieß. Erickson wartete geduldig, bis das Kind für einen Moment innehielt, um Luft zu holen . Erickson nutzte die Pause, um seinerseits einen lauten Schrei herauszulassen. Der Junge war fassungslos. Erickson sagte: »Du hattest als Erster deinen Schrei. Dann hatte ich meinen Schrei. Jetzt bist du wieder an der Reihe.« Die beiden schrien noch ein paar Runden im Wechsel, dann entschlossen sie sich, ihre Runden lieber zum Sprechen zu nutzen 6 . Deutlich wird, dass das Konzept der Utilisation eng verknüpft ist mit dem Konzept von Pacing und Leading aus der Hypnotherapie, also vom Mitgehen und Führen als zwei stetig miteinander verbundenen und aufeinander bezogenen Haltungen in der Therapie. Der Therapeut drückt zunächst verbal oder nonverbal Übereinstimmung mit dem Verhalten des Klienten aus, sodass dieser von einem gemeinsamen Erleben ausgeht. Dann verändert der Therapeut sein eigenes Verhalten kleinschrittig in Richtung auf das Ziel in der Geschwindigkeit, in der der Klient mit der Verhaltensänderung des Therapeuten mitgehen kann. Wie kommt man nun per Utilisation von einem problembehafteten Ausgangserleben zu einem Erleben, das der Klient als Lösung oder Auflösung seines Problems empfindet? Das Erickson'sche Vorgehen beschreibt Jeff Zeig in folgenden Schritten 7 : 1. Finde heraus, wo der Patient über Ressourcen [...] verfügt. 2. Erkenne das Wertsystem des Patienten, d. h., erkenne, was er mag und was er überhaupt nicht schätzt (diese Werte können auch Ressourcen sein). 3. Entfalte die Ressource, indem du die Werte des Patienten nutzt. [...] 4. Verbinde die entfaltete Ressource mit dem Problem, entweder direkt oder indirekt. 5. Schritt 4 lässt sich am besten ausführen, wenn man in kleinen Schritten vorgeht, und zwar, indem man Vertrauen schafft, eine Beziehung herstellt, Motivation aufbaut und [...] die Reaktionsbereitschaft steuert. [Lass den] Patienten [...] etwas tun. Therapeutische Handlungen müssen für den Patienten und dessen Werte von Bedeutung sein. 6. Jedes Verhalten, selbst Widerstand, kann akzeptiert und therapeutisch genutzt werden. Und jeder Aspekt des Kontextes kann akzeptiert und therapeutisch nutzbar gemacht werden. 7. Dramatische Inszenierungen können helfen, die Reaktionsbereitschaft auf Anweisungen zu steigern. 8. Wenn man Ideen sät, bevor man sie direkt präsentiert, werden sie eher akzeptiert und umgesetzt. 9. Das Timing ist von zentraler Wichtigkeit. Zum Therapieprozess gehören Pacing, Musterunterbrechung und das Aufbauen von Mustern. Widerstand entsteht oft dann, wenn man auf diese Prozesse nicht genügend Sorgfalt verwendet. 10. Der Therapeut (und der Patient) muss eine Erwartungshaltung haben. [...] 11. [...] Führe die Intervention konsequent durch und kontrolliere den Erfolg 8 . Ernest Rossi hat, anders als Zeig, den Erickson'schen Ansatz der therapeutischen Utilisation als einen Prozess in mehreren Phasen verstanden und ihn idealtypisch folgendermaßen beschrieben: »(1) Der Therapeut entwickelt neue Ideen und Situationen, um die einschränkenden vorgefassten Meinungen des Patienten zu durchbrechen, die seine eigenen Fähigkeiten blockieren. [...] Damit evoziert er (2) unbewusste Such- und Lösungsprozesse. [...], die den Patienten veranlassen, (3) seine eigenen Probleme auf seine eigene Art und Weise zu lösen.« 9 Erickson drückt sich zurückhaltender aus: Ziel einer Therapie sei nicht das verstandesmäßige Bearbeiten von Einsichten des Klienten oder Therapeuten, sondern die Verwirklichung der Ziele des Patienten. Also muss »das, was man mitteilt, auf die persönlichen und subjektiven Bedürfnisse, Erkenntnisse und Erfahrungen des Patienten abgestimmt sein - gleichgültig ob vernünftig oder unvernünftig, anerkannt oder nicht anerkannt -, damit es zu einer Akzeptanz und einer Reaktion bzw. einem Gefühl der persönlichen Befriedigung kommen kann« 10 . Den Weg von der Problemwahrnehmung zur Entwicklung einer Lösungsstrategie beschreibt Sidney Rosen, indem er ein Zitat Milton Ericksons interpretiert: »?Wenn du mit einem schwierigen Problem zu tun hast, mach daraus ein interessantes Muster. Dann kannst du dich auf das interessante Muster konzentrieren und die mörderische Arbeit dabei außer Acht lassen.? Zuerst entdeckt man ein interessantes Muster in den Reaktionen und Symptomen des Patienten. Als Nächstes wählt man eine Geschichte oder mehrere aus, die zunächst eine Analogie zu den Mustern des Patienten darstellen, und dann ein verbessertes Muster. Oder - wie Erickson seiner Schwiegertochter ?Cookie? sagte: ?Als Erstes machst du ein Modell von der Welt des Patienten. Dann machst du ein Rollenmodell von der Welt des Patienten.?« 11 Das heißt, der Therapeut erkundet zunächst, woran das Problem des Patienten oder Klienten zu erkennen ist und was alles sonst für die Ausgangssituation kennzeichnend ist. Dann sucht er nach Analogien für das Geschehen in anderen Bereichen. Der Therapeut kann überlegen, wo in der Welt strukturell ähnliche Phänomene miteinander in Interaktion stehen. Vielleicht fallen ihm politische Konflikte als Modell für eine Ambivalenz des Klienten ein. Vielleicht denkt er an das Verhalten eines anderen Menschen, der ein ähnliches Problem gelöst hat, oder ihm fällt auf, dass der Klient schon einmal eine vergleichbare Aufgabe gelöst hat. Vielleicht sieht der Therapeut unvereinbare Bedürfnisse eines Menschen als streitende Partner oder eine organische Störung als vergleichbar mit zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen. Dem Therapeuten könnten Probleme bei der Kompatibilität von Computerprogrammen in den Sinn kommen, oder er findet eine Überlebensstrategie aus der Tierwelt, die dem Erleben des Klienten ähnelt. Der Therapeut überlegt nun, welche Lösungsansätze diese inneren Bilder enthalten. Die Analogie der Problemstruktur kann bedeuten, dass es für das aktuell bearbeitete Problem analoge Lösungsmöglichkeiten gibt. Wenn wir Lösungen auf der bildhaften Ebene in die Situation des Klienten zurückübertragen, welche Strategien können sich daraus ergeben? Die Arbeit des Therapeuten besteht also darin, zunächst ein Modell davon zu entwickeln, an welchen Werten und Glaubenssätzen sich der Klient orientiert, wie er seine Welt zu interpretieren gewohnt ist und wie er dabei reagiert. Innerhalb der Welt des Klienten, also auf der Basis dessen, was diesem vertraut ist und was er akzeptiert, führt der Therapeut dann neue Ideen ein. Der Klient kann dazu angeregt werden, zwischen verschiedenartigen Situationen zu differenzieren, auf die er bislang gleichartig reagiert hat. Er kann mit Fragen dazu bewegt werden, Handlungsalternativen zu entdecken und die Optionen zu bewerten. Er kann aufgefordert werden, das Ergebnis einer Übersteigerung seines Verhaltens zu überprüfen und daraus Folgerungen für sein normales Verhalten zu ziehen. Er könnte auch gebeten werden, sein bisheriges Verhalten in einen neuen Kontext zu verschieben, es also etwa gegenüber anderen Personen oder in anderen Situationen zu zeigen. Auch könnte der Klient aufgefordert werden, in einem Experiment sein bisheriges Verhalten oder eine neue Verhaltensweise als Ritual zu konzipieren. Solche real oder gedanklich durchzuführende Experimente können dazu beitragen, im Modell der eigenen Realität Unterschiede zu konstruieren, die zur Bewertung verschiedener Denk- und Handlungsmöglichkeiten hilfreich sind. Wie finden wir also vom Problembericht des Klienten zu einer Utilisation seiner Situation, die bisher unentdeckte Lösungen eröffnet? Zuerst werden wir bestrebt sein, die Welt des Klienten modellhaft möglichst genau beschreiben zu lernen, dabei alles anzunehmen und nach Lösungswegen zu suchen, die in seiner Werte-Welt plausibel sind. Dabei können wir die Weisheit aller uns bekannten Welten ausborgen und Lösungsideen aus dem Dialog der Welten entwickeln. Wir wissen aber, dass der Klient uns nur auf den Wegen folgen wird, die mit seiner Welt, mit seinen Überzeugungen und seinen Werten vereinbar sind. »Paradoxerweise kann Akzeptanz als bezwingende Kraft für die Veränderung genutzt werden.« 12 Um mit Mitteln der Utilisation den Weg vom Problem zur Lösung zu beschreiten, benötigen wir eine Haltung, die zwei Dinge berücksichtigt. Nötig ist, dass wir uns immer wieder in die innere und äußere Welt des Klienten begeben und zugleich immer wieder Unterschiede einführen, also Neudeutungen und Neuerfahrungen, die in seiner Welt akzeptabel und plausibel sind und die doch die Wirkungsweise dieser Welt verändern. Milton Erickson berichtet von einem Psychiatriepatienten, der sanft und ruhig war und der sich leicht lenken ließ. Wenn man ihn in die Kantine oder zu Bett brachte, war er folgsam. Wenn man ihm eine Frage stellte, blickte er einen schweigend und freundlich an. Er erwiderte jeden Gruß, aber außer »Hallo!« und »Auf Wiedersehen!« sagte er nichts. Den Versuch, diesen Patienten zu befragen, gab Erickson bald auf. Es schien, als lebte er in einer Welt ohne Brücken zu der unseren . Eines Tages ging Erickson auf den Patienten zu und sagte »Hallo!« Der Patient antwortete »Hallo!« Erickson zog seine eigene Jacke aus, stülpte die Innenseite nach außen und zog die Jacke verkehrt herum, mit der Vorderseite nach hinten, wieder an. Dann nahm er die Jacke des Patienten und tat mit dieser in Bezug auf den Patienten dasselbe. Erickson sagte: »Ich möchte gern, dass du mir deine Geschichte erzählst.« Der Patient erzählte ihm seine Geschichte 13 . »Schließe dich dem Patienten an«, sagte Milton Erickson als Kommentar zu dieser Anekdote. Wer in sich gekehrt ist, braucht womöglich eine »in sich gekehrte« Form der Ansprache. Um Veränderungsimpulse zu geben, die für die Klienten annehmbar und umsetzbar sind, ist es oft notwendig, zuerst das eigene Verhalten an die Klienten mit ihrer Weltsicht und ihren Bedürfnissen anzupassen.
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