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Handbuch Psychomotorik

Theorie und Praxis der psychomotorischen Förderung von Kindern

AutorRenate Zimmer
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783451819100
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Körper- und Bewegungserfahrungen bilden bei Kindern die Basis für den Aufbau von Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl. In diesem Handbuch stellt Renate Zimmer ihren Ansatz der Psychomotorik vor. Sie erläutert die theoretischen Grundlagen und gibt Hinweise auf eine psychomotorische Entwicklungsdiagnostik. Die Erfahrung von Selbstwirksamkeit wird als einer der wichtigsten Wirkfaktoren psychomotorischer Förderung beschrieben. Anhand vieler Beispiele wird die Umsetzung in die Praxis verdeutlicht.

Dr. Renate Zimmer ist Erziehungswissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt frühe Kindheit und Professorin für Sportwissenschaft an der Universität Osnabrück. Auf dem Gebiet der Bewegungserziehung ist sie die bekannteste und erfolgreichste Expertin im deutschsprachigen Raum. Ihre Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt worden. Für ihr bildungspolitisches Engagement wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. 

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Leseprobe

2. Konzeptionelle Ansätze
in der Psychomotorik


Nicht nur die Einsatzbereiche der Psychomotorik haben sich erweitert. Mit der Verbreitung psychomotorischen Gedankengutes differenzierten sich auch unterschiedliche konzeptionelle Ansätze heraus, die sich zwar alle einer ganzheitlichen Förderung von Kindern – meist mit Entwicklungsbeeinträchtigungen und speziellen Bedürfnissen – verschreiben, aber doch ganz verschiedenen handlungsleitenden Konzepten folgen.

Im Folgenden sollen unterschiedliche Richtungen der Psychomotorik vorgestellt und ihre Konsequenzen für die Praxis diskutiert werden.

2.1 Von der »psychomotorischen Übungsbehandlung« zur ganzheitlichen Entwicklungsförderung


Wie bereits in Kapitel 1 dargestellt, liegt der Ursprung der deutschen Psychomotorik in der von Kiphard begründeten »psychomotorischen Übungsbehandlung«. Diesem Ansatz fühlen sich die meisten heute auszumachenden psychomotorischen Ansätze verpflichtet, auch wenn der Begriff »Übungsbehandlung« mit der Zeit ersetzt wurde durch »psychomotorische Erziehung«, »Motopädagogik«, »psychomotorische Förderung« oder auch »psychomotorische Entwicklungsförderung«.

Das Hauptanliegen der psychomotorischen Förderung wird in der Unterstützung der Gesamtpersönlichkeitsentwicklung des Kindes gesehen. Hier geht es in erster Linie um Hilfen zur Entfaltung der individuellen Handlungsmöglichkeiten einerseits und um die Befähigung zur Lösung sozialer Aufgaben andererseits (Kiphard 1980).

Die ersten Veröffentlichungen Kiphards zur psychomotorischen Übungsbehandlung und zur Motopädagogik erweckten noch den Eindruck einer starken Übungszentriertheit. So benötige das Kind – um erfolgreich handlungsfähig zu sein – Übungsanregungen aus drei großen Bereichen, dem

  • Wahrnehmungsbereich,
  • Bewegungsbereich,
  • emotional-sozialen Bereich.

Hierzu bietet Kiphard dann eine Fülle von Übungen an, die dem Lehrenden einen Überblick verschaffen wollen, wie er schwerpunktmäßig arbeiten kann: »So wird er beispielsweise einmal mehr die Wahrnehmungsprozesse, ein andermal die Bewegungskoordination und motorische Handlungsfähigkeit, dann wieder die expressiv-motorische und sozio-motorische Seite betonen. Die Lernbereiche stellen also keine Hierar­chie dar. Der Motopädagoge wählt für jede Stunde die Inhalte aus allen drei Lernbereichen, lediglich mit unterschiedlicher Betonung« (Kiphard 1980, S. 73 f.).

Zwar erwecken die einzelnen Übungen den Eindruck, als würden die Kinder vor allem angeleitet und zu bestimmten Bewegungsaufgaben aufgefordert werden (»Wir üben das Prellen des Balles gegen den Boden … Welcher Ball fliegt am höchsten … Wer kann den Luftballon mehrmals hochstoßen?« etc.), im Rahmen seiner Hinweise auf die methodisch-didaktischen Prinzipien einer psychomotorischen Lehrweise stellt er jedoch Selbsttätigkeit, Kreativität und Selbststeuerung als wesentliche Prinzipien jeder psychomotorischen Förderung heraus. Kiphard wendet sich ausdrücklich gegen ein Funktionstraining, das er als nicht kindgemäß und nicht vereinbar mit der ganzheitlichen Auffassung der psychomotorischen Arbeitsweise hält.

Die Vielfalt der Anregungen Kiphards reichen von Wahrnehmungsübungen über Beispiele zur Haltungserziehung bis hin zu Zirkus­aktivi­täten, Akrobatik und Clownspielen. So sind in der Tradition Kiphards und als Weiterentwicklung der »psychomotorischen Übungsbehandlung« heute eine Reihe von Veröffentlichungen zu finden, die Anregungen für eine vielfältige Bewegungsförderung (insbesondere) von Kindern geben und sich durch spielerische, fantasievolle Beispiele auszeichnen (Beins 2007; Beudels u. a. 2011; Beudels, Kleinz & Delker 2013; Eggert 2008; Gerber 2012; Passolt & Pinter-Theis 2003; Zimmer 2015a, 2018; Zimmer & Cicurs 1999; Zimmer & Hunger 2017).

2.2 Der handlungsorientierte Ansatz


Parallel zu der stärker intuitiven Förderpraxis von Kiphard entwickelte sich eine Richtung der Psychomotorik, deren Ausgangspunkt in der Annahme lag, dass vielseitige Bewegungs- und Wahrnehmungsmuster eine wichtige Grundlage menschlicher Handlungsfähigkeit darstellen. Ausgehend von Regelkreismodellen, nach denen Wahrnehmen und Sich-Bewegen in Zusammenhang mit den Umweltbedingungen als eine sich selbst regulierende biologische Einheit verstanden werden, beschreibt Schilling (1978) Bewegungsentwicklung als Adaptationsprozess des menschlichen Organismus an die Bedingungen der Umwelt. Entwicklungsfortschritte werden durch Reifungsvorgänge, Lernprozesse und exogene Einflüsse bestimmt.

»Ziel des Organismus ist eine totale Ortsungebundenheit (räumliche Unabhängigkeit) und eine optimale Nutzung und Beherrschung der Umweltbedingungen. Der Verlauf des Adaptationsprozesses richtet sich in hohem Maße nach den Anforderungen der Umwelt. Bewegungsentwicklung braucht ein hohes Maß an differenzierten Bewegungsreizen, die bei der bisherigen Klein­kind­erziehung nicht genügend Beachtung fanden« (Schilling 1978, S. 23).

Das Ziel jeder Bewegungsadaptation sieht Schilling (ebd.) darin, »… durch ständiges Wiederholen der Bewegungen (Lernen – Üben) die Anpassungen an die Umweltbedingungen zunehmend zu verbessern. Auf diesem Weg kommt es zu der Ausbildung von Fertigkeiten«.

Schilling weist darauf hin, dass die Beschäftigung mit den damals so bezeichneten »bewegungsbehinderten« Kindern, insbesondere die Folgezustände nach »frühkindlichen Hirnschäden«, zu der Einsicht führten, dass die Wahrnehmungs- und Bewegungsentwicklung in den Vordergrund jeder Persönlichkeitsentwicklung zu stellen sei. Verhaltens­probleme werden demnach auch als Folge von Bewegungsstörungen und als mangelnde Anpassungsfähigkeit des Kindes an die Anforderungen der Umwelt interpretiert:

»Empirische Untersuchungen zeigten deutlich, dass diese Kinder unzureichend über Bewegungserfahrungen verfügten, dass sie infolge dieser Unzulänglichkeiten aufgrund bestehender Forderungen der sozialen Umwelt vielfältige Kompensationsmechanismen entwickeln und dadurch verhaltensauffällig werden oder doch zumindest Schwierigkeiten mit sich selbst und ihrer sozialen Umwelt zeigen« (Schilling 1986, S. 59).

Durch anregungsreiche, strukturierte Bewegungsangebote soll das Kind nach diesen Überlegungen zur Eigenaktivität angeregt werden. Ansatzpunkte sind weniger die Schwächen des Kindes, sondern seine Stärken und besonderen Interessen. Durch differenzierte Bewegungsangebote wird versucht, dem Kind Erfolgserlebnisse zu vermitteln. Es kann also da beginnen, wo es sich selbst als handlungsfähig erlebt. Beeinträchtigungen der Persönlichkeitsentwicklung werden hier jedoch vorwiegend als sekundäre Folge einer primären Bewegungsstörung angesehen, und über die Verbesserung im funktionell motorisch-physiologischen Bereich wird eine tiefergehende Förderung – auch auf psychischer Ebene – erwartet.

Schillings Definition der Motopädagogik als »das Konzept der Persönlichkeitsbildung über motorische Lernprozesse« (1981, S. 187) verkürzt psychomotorische Entwicklungsförderung allerdings auf das gezielte Aufbauen von Bewegungsmustern. Der Mensch wird als Anpassungsorganismus auf innere und äußere Reize gesehen – das wider­spricht eigentlich dem ganzheitlichen Anspruch, den die Psychomotorik erhebt.

Seewald (1997, S. 5) bezeichnet den Ansatz Schillings als »lern- und kompetenzorientierten Ansatz« und vermisst in ihm die Berücksichtigung subjektiv-sinnorientierter Dimensionen. Allerdings muss bedacht werden, dass durch die Arbeiten Schillings zur Diagnose und Therapie motorischer Störungen bei Kindern die empirische Forschung in der Psychomotorik angeregt wurde und die weitreichende Bedeutung von Bewegungsstörungen für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes ins Bewusstsein der Mediziner und Pädagogen rückte.

2.3 Die sensorische Integrationsbehandlung


Nicht weit von diesen Vorstellungen entfernt liegt der Ansatz der sensorischen Integrationsbehandlung. Auch hier geht es um die Voraussetzungen menschlicher Handlungsfähigkeit und um die Gefahren, die durch eine Beeinträchtigung der Wahrnehmungsleistungen für die Gesamt­entwicklung des Kindes entstehen.

Neurophysiologische Überlegungen zur Funktionsweise des Zen­tral­nervensystems und zur Bedeutung sinnlicher Wahrnehmung bei der Auseinandersetzung mit der Umwelt führen zu einer Theorie über die Entstehung und Behandlung von Lernstörungen und Verhaltensauffälligkeiten, bei der die Beziehung zwischen motorischen und sensorischen Systemen eine wichtige Rolle spielt.

Jean Ayres, eine der Hauptvertreterinnen der sensorischen Inte­gra­tionstherapie, sieht Verhaltensauffälligkeiten, Lernstörungen und Entwicklungsprobleme in erster Linie als Folge einer unzureichenden Verarbeitung von Sinneseindrücken im Gehirn (Ayres 2016). Es ist das Verdienst von Jean Ayres, auf die besondere Bedeutung der körper­nahen Sinne, des vestibulären Systems (Schwerkraft, Gleichgewicht, Bewegung), des propriozeptiven Systems (Muskeln und Gelenke) und des taktilen Systems (Tastsinn) für die Entwicklung des Kindes hingewiesen zu haben. Diese Sinnessysteme gelten als die drei Grundsinne.

»Das Gleichgewichtssystem spielt dabei eine zentrale, vereinende Rolle. Es ist grundlegend für unseren Bezug zur Schwerkraft und physikalischen Welt verantwortlich. Alle anderen Sinnesempfindungen werden in Bezug zu den vestibulären Informationen verarbeitet« (­Ayres 2016, S. 57)....

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