Vorbemerkung
Der folgenden Unterrichtsbeschreibung liegt die Annahme zugrunde, dass die SchülerInnen die Novelle zu Hause gelesen haben und das Thema Industrialisierung bereits Gegenstand des Unterrichts war. Wegen des geringen Textumfangs der Novelle und der guten Verständlichkeit der äußeren Handlung kann die Vorbereitungszeit kurz sein.
Vor Beginn der Unterrichtseinheit sollte eine SchülerInnengruppe gebeten werden, sich im Internet über die Berufe „Bahnwärter“ und „Schrankenwärter“ kundig zu machen, in die Recherche Begriffe wie „Bahnwärterhaus“ und „Schrankenwärterhäuschen“ einzubeziehen, möglicherweise in der näheren Umgebung ihres Heimatortes aufgelassene bzw. umgewidmete Bahnwärterhäuser zu fotografieren und eine Präsentation vorzubereiten, die im Rahmen der 1. Sequenz eingesetzt wird.
1 Unterrichtszusammenhang
LeserInnen erleben Thiel anfangs als gutmütigen, rechtschaffenen, friedvollen und pflichtbewussten Menschen, der zwar in ärmlichen, aber geordneten Verhältnissen lebt, am Schluss jedoch als einen Mann, der dem Wahnsinn verfällt und eine schreckliche Tat begeht. Die Gegenüberstellung macht die gravierende Veränderung sichtbar und wirft die Frage auf, wie es zu einem solchen Niedergang kommen konnte. Bei der Beantwortung dieser Frage soll es zunächst nicht so sehr um die psychische Entwicklung Thiels als vielmehr um die sozialen Rahmenbedingungen seiner Existenz gehen. Anknüpfungspunkt ist der Titel der Novelle. Indem Hauptmann auf einen Vornamen verzichtet, stattdessen die Berufsbezeichnung „Bahnwärter“ aufnimmt, signalisiert er, dass die Arbeitswelt einfacher armer Menschen und das Milieu sogenannter kleiner Leute eine besondere Rolle spielen. Ziel dieser Sequenz ist es, die sozialen Verhältnisse, die Thiels Leben bestimmen, zu beschreiben. Relevant in diesem Zusammenhang sind alle Aussagen des Textes, durch die LeserInnen Hinweise auf die Arbeitswelt des Bahnwärters, auf seine Einstellung zu seinem Beruf und auf seine Beziehung zur dörflichen Gemeinschaft erhalten.
Auf den ersten Blick kann der Eindruck entstehen, als spielte die Berufswelt Thiels im Vergleich etwa zu seinen privaten Konflikten und den psychischen Implikationen eine untergeordnete Rolle. Auf den zweiten Blick aber wird deutlich, dass Hauptmann die soziale Dimension der Thielschen Existenz nicht vernachlässigt und das „Versprechen“ des Titels einlöst. Zwischen dem Bahnwärter und seiner Arbeit existiert eine Art Nicht-Verhältnis. Thiel erscheint wie ein blind funktionierendes Teilchen einer großen Maschinerie; zum Ganzen seiner Tätigkeit gewinnt er keine Beziehung; sie ist gleichförmig, bedeutet Auflösung gemeinsamen familiären Wirtschaftens, wie es in vorindustrieller Zeit die Regel war, trennt ihn, obwohl er in dörflicher Umgebung lebt, von anderen Menschen. Sein Beruf verlangt nicht Identifikation und auch nicht Einsicht in größere Zusammenhänge. Der Sinn der Arbeit, die ihm durchaus eine bescheidene, wenn auch sichere materielle Existenz garantiert, ist Thiel fremd, nicht fassbar, ja, die Arbeit flößt ihm Angst ein und bedeutet Gefahr.
Die Pose des Helden, der die moderne Technik beherrscht, der stolz darauf ist, Teil einer neuen Entwicklung zu sein, ist diesem Mann völlig fremd. Hauptmann gestaltet seine Hauptfigur im Beruf als einen abhängigen Menschen ohne Begeisterungsfähigkeit und ohne Entscheidungsmöglichkeiten, der zudem in seinen kommunikativen Fähigkeiten eingeschränkt ist. Er spricht kaum mit den Bewohnern der Kolonie, einem künstlichen Gebilde ohne die tradierten Strukturen eines Dorfes. Man spricht über ihn; er wird zum Gegenstand verächtlicher oder mitleidiger Kommentare.
Die Sequenz I beschränkt sich auf ein weitgehend deskriptives Verfahren. Die Frage nach dem Zusammenhängen zwischen der sozialen Existenz Thiels und seinem individuellen Verhalten wird in Sequenz VIII thematisiert, in der es um eine zusammenfassende und abschließende Bewertung der Hauptfigur geht.
2 Unterrichtsziele
Die SchülerInnen
- vergleichen Thiels Situation zu Beginn der Novelle mit der am Ende,
- können beschreiben, wie sich die Welt der Ordnung in eine Welt des Chaos wandelt,
- erklären, welche Vorstellungen sie mit der Berufsbezeichnung „Bahnwärter“ verbinden,
- beschreiben ihre Erwartungen, die mit der Berufsbezeichnung „Bahnwärter“ im Titel der
Novelle geweckt worden sind,
- sammeln Textstellen, die Aufschluss über die Aufgaben eines Bahnwärters geben und die
das Milieu, in dem der Bahnwärter lebt, veranschaulichen,
- werden über die Berufsbilder „Bahnwärter“ und „Schrankenwärter“ und über Bedeutung,
Aussehen und Funktion von Bahnwärter- und Schrankenwärterhäusern informiert,
- erkennen, dass Thiel sich nicht mit Beruf und Arbeit identifizieren kann,
- erkennen, dass Thiel kaum Kontakte zu seinem sozialen Umfeld hat und einzelgän-
gerisch lebt,
- erkennen, dass vom Erzähler Zusammenhänge zwischen sozialer Absonderung,
Berufstätigkeit und individuellem Verhalten nahegelegt, aber keine direkten Hinweise gege
ben werden, die das Verhalten kommentieren oder interpretieren.
3 Unterrichtsverlauf
3.1 Vergleicht Thiels Situation und Verhalten am Anfang und am Schluss der Novelle.
3.2 Thiel wird im Titel der Novelle mit seiner Berufsbezeichnung „Bahnwärter“ angekündigt. Welche Erwartungen wurden bei euch geweckt? Wurden sie im Verlaufe der Lektüre erfüllt oder enttäuscht?
3.3 SchülerInnen präsentieren gegebenenfalls die Ergebnisse ihrer Recherche zum Beruf des Bahn-/ Schrankenwärters und zu Bahnwärterhäuschen.
3.4 Was erfährt man im Text über die Tätigkeiten und Aufgaben eines Bahnwärters?
3.5 Wie übt Thiel seinen Beruf aus? Welche Einstellung hat er ihm gegenüber? Wie wirken sich die Arbeitsbedingungen auf Thiel aus?
a Die SchülerInnen nennen aus der Erinnerung Textstellen, die Thiel im Umfeld seiner Arbeit
zeigen.
b Zwei Beispiele (s. unten) werden an die Tafel geschrieben.
c Die SchülerInnen sammeln in Stillarbeit weitere Textstellen.
d Sie tragen ihre Ergebnisse vor und prüfen, ob Zusammenhänge zwischen Arbeitssituation
und Persönlichkeitsstruktur Thiels bestehen.
Mögliche Ergebnisse zu a - d:
3.6 Bevor die familiären Schwierigkeiten Thiels thematisiert werden, soll knapp seine Stellung in der dörflichen Gemeinschaft angesprochen werden. Was erfahren LeserInnen über den Ort und über Thiels Einbindung?
Die SchülerInnen lesen den Text noch einmal kursorisch, sammeln in Partnerarbeit Textstellen und tragen ihre Ergebnisse vor.
Folgendes ist denkbar:
Schön-Schornstein: kleine Kolonie[15], acht Häuser, in denen 20 Fischer- und Waldarbeiterfamilien wohnen, abgeschiedene Lage im märkischen Kiefernforst.
Die Mitbewohner missbilligen Lenes Verhalten gegenüber Thiel, haben kein Verständnis für Thiels intensive Zuwendung zu den Kindern, wagen es nicht, Tobias gegen Lene in Schutz zu nehmen, geben Thiel wohlmeinende Hinweise. Keine Textbelege für tiefer gehende Kontakte, allerdings große Anteilnahme der Dorfbewohner an Thiels Unglück.
Thiels Rolle in der Dorfgemeinschaft: Er erfährt keinen Respekt, man verachtet ihn. Er selbst sucht auch keinen Anschluss, missachtet die Normen, wird zum Außenseiter. Er sucht Anerkennung bei den Kindern. Thiel lebt weitgehend isoliert von der dörflichen Gemeinschaft. An Kommunikation ist ihm nicht gelegen.
3.7 Beschreibt zusammenfassend Thiels Lebensverhältnisse.
4 Hausaufgabe
Übertragt die Tafelbilder ins Heft.
Beschreibt als Vorbereitung auf die nächste Stunde in Stichworten die...