2.1 Modusarbeit mit der Bibel
Die Modusarbeit ist das Herzstück der Schematherapie. Sie stellt die Grundlage dar für ein vertieftes Verständnis von auftretenden Konflikten, Emotionen und Bewältigungsstrategien und ist auch Ausgangslage für die emotionsaktivierenden Übungen. Für Christen, die mit der Schematherapie arbeiten, ergeben sich oft sogleich einige interessante Parallelen zum biblischen Verständnis. Vielen verhilft das Modusmodell sogar dazu, die Beziehung zu Gott und biblische Wahrheiten nochmals vertieft zu verstehen und zu erleben.
Im Folgenden erläutere ich deshalb, wie biblische Inhalte in das schematherapeutische Modus-Modell einfließen können. Zur Erinnerung: In dem Modus-Modell gehen wir von den Kind-Modi (verletzbar, wütend, undiszipliniert und glücklich), den Bewältigungs-Modi (Erdulden, Vermeiden oder Kämpfen), den inneren Kritikern (strafend oder fordernd) und dem gesunden Erwachsenen-Modus aus.
Es geht darum, den gesunden Erwachsenen zu stärken, die Kind-Modi zu trösten und in ihren Grundbedürfnissen zu versorgen, die inneren Kritiker zu begrenzen und zu entkräften, wodurch die Bewältigungs-Modi insgesamt weniger »nötig« und schwächer werden.
Mit dem biblischen Verständnis können wir aber nicht nur die beschriebenen Modi mit ihren Interaktionen untereinander nachvollziehen, sondern haben darüber hinaus eine wichtige Dimension mehr – die Beziehung zu Gott. Ich glaube, dass die Bibel uns für jeden Modus zeigt, wie Gott auf heilsame Weise mit uns in Beziehung treten möchte und uns damit zu mehr Beziehungsfähigkeit und Freiheit verhilft. Gott befähigt den gesunden Erwachsenen, tröstet und versorgt die Kind-Modi, begrenzt und entmachtet die inneren Kritiker und hilft uns die Bewältigungsstrategien als nicht hilfreiche Selbstschutzmechanismen zu identifizieren.
Die weiteren Ausführungen, auch in Teil 3 dieses Buches, beziehen sich immer wieder auf dieses um die göttliche Dimension erweiterte Modusmodell, welches in der folgenden Grafik abgebildet ist.
Kind-Modi – Werdet wie die Kinder
Mehr als alles andere behüte dein Herz; denn von ihm geht das Leben aus. (Spr 4,23 SCHL)
Jesus sagt: »Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solchen gehört das Reich Gottes« (Lk 18,16 LUT) und »ich sage Euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Reich der Himmel kommen!« (Mt 18,3 SCHL).
In der Therapie geht es darum, Zugang zu dem kindlich-bedürftigen Teil zu erlangen, die Gefühle wahrzunehmen, anzuerkennen und die Bedürfnisse mit der Haltung der Nachbeelterung nach Möglichkeit zu stillen.
Die Bibel zeigt uns Gott immer wieder als Vater – manchmal auch als Mutter –, der uns bedingungslos liebt und annimmt. Auch das Lehren der Nachfolge wird oft als geistliche Elternschaft beschrieben. Paulus schreibt in seinen Briefen immer wieder an seine »Kinder im Glauben«, um die er so sehr ringt. Gott ist der beste Vater, den es gibt und er wünscht sich nichts mehr, als dass wir als seine Kinder zu ihm kommen und uns von ihm lieben, versorgen und trösten lassen. Er stillt alle unsere Grundbedürfnisse, er tröstet uns und er kann auch mit all unseren unangenehmen Emotionen umgehen. So sehen wir in der Bibel viele Beispiele, z. B. in den Psalmen, wo Menschen mit ihrem Schmerz, ihren Enttäuschungen, mit Wut, Trauer und ihren ungelösten Fragen direkt und echt zum Vater kommen. So bringt David in der Bibel immer wieder seine Klagen ganz authentisch vor Gott.
Wie lange, o Herr, willst Du mich ganz verlassen, wie lange verbirgst Du Dein Angesicht vor mir? (Ps 13,2 SCHL)
Der himmlische Vater hält diese unangenehmen Emotionen aus, ja, oft lässt sich in den Psalmen nach dem Ausdruck dieser Gefühle eine Veränderung der Stimmung sehen. Manchmal steht am Schluss etwas Dankbares oder Tröstliches, zum Beispiel »Halleluja, gepriesen sei der Herr«. Es gibt aber auch Psalmen, wo die Klage bis zum Schluss bestehen bleibt. Es gibt keine allgemeingültige Regel. Doch es zeigt uns, dass wir in der Beziehung zum Vater echt, ehrlich, verletzlich und angenommen sein dürfen.
Wenn wir als Therapeuten, Seelsorger, Begleiter oder Freunde mit dem Kind-Modus unseres Gegenübers in Kontakt kommen können und die Vaterliebe Gottes weitergeben dürfen, kann Heilung geschehen, können Schemata geschwächt und die Kind-Modi versorgt werden. Die Bewältigungsstrategien, die Masken werden weniger wichtig, wenn man auch dann angenommen ist, wenn man seine unangenehmen Gefühle authentisch zeigt. Echt zu sein bedeutet in dem Zusammenhang, dass wir als Erwachsene im Kontakt sind mit unseren verletzlichen Anteilen, mit unseren Gefühlen und Bedürfnissen und diese zulassen und äußern dürfen. Mit anderen Worten: Wenn die verletzten und wütenden Kind-Modi vom gesunden Erwachsenen-Modus orchestriert und nach außen verbalisiert werden können. Wir können uns nur dann echt angenommen fühlen, wenn wir echt sind. Solange wir uns hinter Bewältigungsstrategien verstecken, wird diese Annahme nicht erlebbar. Deshalb fordert uns Jesus auf, so zu werden wie die Kinder. Denn dadurch erleben wir die Herrlichkeit des Himmelreichs, die Schönheit der Geschwisterliebe.
An eurer Liebe zueinander werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid. (Joh 13,35 NGÜ)
Wir dürfen untereinander Geschwister sein, die es ermöglichen, zulassen und suchen, dass unser Gegenüber echt sein darf und sich wirklich angenommen fühlen kann. So in Beziehung miteinander zu sein, ist etwas sehr Kostbares.
Wenn sich jemand verletzlich zeigt (wenn sein gesunder Erwachsener-Modus im Kontakt mit dem jeweiligen Kind-Modus ist und keine Bewältigungsstrategie anwenden muss), geht uns in der Regel das Herz auf und wir geben die Liebe Gottes, die wir selber erfahren haben, gerne und fast mühelos weiter. Gottes Liebe ist wie ein Strom. Das Erstaunliche daran ist (und diese Erfahrung bezeugen viele Christen), dass diese Liebe immer wieder erfrischend neu ist, wenn sie an andere weitergegeben wird.
Deshalb nehmt einander auf, wie auch der Christus euch aufgenommen hat, zu Gottes Herrlichkeit! (Röm 15,7 ELB)
Rachepsalmen – dem Ärger Luft machen
Die Bibel ist nicht immer leichte Kost. Es gibt viele Aussagen, die zusammen ein ganzes Bild ergeben, aber untereinander nicht immer so mühelos vereinbar sind.
Die Psalmen, insbesondere die Klage-, aber noch mehr die Rachepsalmen gehören aus meiner Sicht zu dieser Kategorie der teilweise schwer verdaulichen Sorte. Die Klagepsalmen können uns mit ihrem Beispiel vielleicht noch ermutigen, selbst auch unsere Fragen, unseren Ärger und unseren Frust zum Vater zu bringen und dabei manchmal auch eine Erleichterung, eine Begegnung mit Gott zu finden und neue Hoffnung zu schöpfen. Wenn wir aber die Rachepsalmen lesen, sehen wir uns mit teilweise sehr grausamen und gewalttätigen Bildern und Wünschen an die »Feinde« konfrontiert. Im neuen Testament lesen wir zwar, dass unser Kampf sich nicht gegen Fleisch und Blut richtet, aber beispielsweise aus dem Leben von David wissen wir sehr wohl, dass diese Feinde auch im richtigen Leben real existiert haben.
Aus der Schematherapie wissen wir, dass es für Kinder gut ist, ihrer Wut und ihrem Ärger Luft verschaffen zu dürfen. Man nennt dies auch »Ärger ventilieren«. Dabei lässt man den berechtigten Ärger zu und geht auf das zugrundeliegende Bedürfnis ein. Die Rachepsalmen scheinen damit große Ähnlichkeit zu haben. David darf mit seinen ganzen echten Emotionen zu Gott gehen, wo er angenommen ist und Beruhigung erfahren darf. Wenn David im Gespräch mit Gott seinen Feinden wünscht, dass ihre Kinder am Felsen zerschmettert werden (Ps 137,9), übt er diese Gewalttat nicht real aus, bringt aber sein Inneres zu Gott und drückt echt aus, zu was die Wut, die Angst und die Enttäuschung ihn innerlich führen.
Ob dieser Vergleich zulässig ist oder nicht, sei dahingestellt. Auf jeden Fall ist es sicherlich besser, auch im Kontakt mit Gott diesen sehr starken, unangenehmen Gefühlen Raum zu geben und sie zu ihm zu bringen. Wenn wir die Wut unterdrücken, das Gefühl haben, wir müssten gegenüber Gott immer nett und höflich sein und dürften nicht sagen, wie es uns wirklich geht, wird die Verletzung mehr Raum haben, sich auf destruktive Weise in unserem Leben zu entfalten. Durch das Ventilieren des Ärgers lässt man jedoch auf nicht schädliche Weise »Dampf ab« und kann wieder zur Ruhe kommen.
Kritiker-Modi – den Kritiker begrenzen
Unterstützung im Kampf – Gottes Wahrheit ist stärker
Mit einem Ausdruck im Gesicht, der eine Mischung aus Wut, Neugier und Verwunderung zeigte, schaute mich die junge Frau mit der kurz zuvor noch versteinerten Miene nun fragend an. Wir waren soeben am Kern dessen angelangt, was sie daran hinderte, von ihren schweren destruktiven Bewältigungsstrategien frei zu werden. Seit Jahren war sie gefangen in einer Sucht, die ihren Selbstwert stabilisieren sollte, ihn aber stattdessen immer weiter demontierte. Auf mein Nachfragen war es aus ihr herausgebrochen – in der hasserfüllten Stimme des inneren Kritikers beschimpfte sie das verletzte Kind: »Sie hat es nicht verdient, befreit zu werden. Sie ist es nicht wert!« Nach vielen Stunden Therapie hatte ich die Patientin, insbesondere aber diesen verletzlichen kindlich-bedürftigen Teil, in mein Herz geschlossen. Umso heftiger trafen auch mich ihre Worte, die sie so vehement gegen sich selber richtete. Dies teilte ich ihr in der Folge mit – so ehrlich, offen und konfrontativ, wie ich konnte. Ich wollte dieser destruktiven Stimme Grenzen setzen, ich wollte diesen zerstörerischen...