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Heimat

Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden

AutorSimone Egger
VerlagRiemann
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783641123697
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Was ist Heimat?
Ist Heimat ein Ort? Ist es der Ort, an dem wir geboren sind? Oder der Ort, an dem wir gerade leben? Ist Heimat ein Geruch, eine Sprache oder eine bestimmte Person? Lebt sie in der bloßen Erinnerung oder formen wir sie im täglichen Leben ständig neu? Und wann wird das Fremde zur Heimat? Simone Egger geht all diesen Fragen nach, Fragen, die sich jeder bereits gestellt hat und die sich im Laufe des Lebens immer wieder stellen. Sie berichtet von den Anfängen eines Begriffs, von der Entstehung und Verbreitung von Heimat-Bildern und -Gefühlen und nicht zuletzt davon, wie sie gewinnbringend vermarktet werden. Ein äußerst facettenreiches Buch über Lieblingsspeisen und andere Herzensangelegenheiten, über persische Karnevalsprinzen und afrikanische Dirndl-Schneiderinnen, den Kampf um bezahlbaren Wohnraum, die Erfolgsgeschichte des Regionalkrimis - und vieles mehr.

Simone Egger, geboren 1979, ist Kulturwissenschaftlerin am Institut für Volkskunde und Europäische Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihr erstes Buch war 'Phänomen Wiesntracht' (2008). Seitdem ist sie immer dann gefragt, wenn es um Erklärungen für den sich in ganz Deutschland ausbreitenden Lederhosen- und Dirndltrend geht. Ihre neueste Publikation ist 'München wird moderner. Stadt und Atmosphäre in den langen 1960er Jahren' (2013).

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Leseprobe

Begriffsgeschichten – Vom Heimatrecht zur romantischen Idee

»Es gibt Wörter, bei denen die jahrhundertelange Benützung nicht dazu geführt hat, daß die alten Bedeutungen abgeschliffen wurden und die jetzige Substanz glatt und klar zutage tritt, die vielmehr die Nuancen früheren Gebrauchs mit sich tragen und deshalb von jeder Seite wieder etwas anders aussehen«,1 schreibt Bausinger.

Heimat, was meint das überhaupt? Nur wenige Wörter fassen so viele unterschiedliche Themen zusammen. Nur wenige Wörter stehen gleichzeitig für so viele verschiedene Bereiche. Nur wenige Wörter transportieren eine derart wechselvolle Geschichte und lassen sich doch immer wieder neu finden – und erfinden. Dabei kann man gar nicht mit einem Wort sagen, was Heimat eigentlich alles meint. Ist Heimat nun eher ein Ort, ein Gefühl oder vielleicht doch ein Ding, eine Sache? Oder ergibt sich Heimat vor allem aus der Beziehung zu anderen Menschen, aus der Liebe zu einer Partnerin oder einem Partner, aus dem Zusammenhalt von Freundeskreis und Familie? Während für die einen diese und jene Thematik im Vordergrund steht, legt ein anderer die Frage nach der Heimat vielleicht auch ganz anders aus. Manche sagen: »Die Heimat, klar, das ist der Ort, aus dem ich stamme.« Und manche meinen mit der gleichen Selbstverständlichkeit: »Heimat ist für mich die Verbindung zu den Leuten, die sich – ob Autotuning, Gartenarbeit oder Schachspielen – für das gleiche Hobby interessieren, die gleiche Musik hören oder in der gleichen Szene vernetzt sind.« Der Nächste will sich lieber in seiner Wohnung verkriechen, und Heimat bedeutet Ruhe und Frieden. Heimat ist die Phase, in der niemand stört. Für die einen mag ein einziger Aspekt zentral sein, für andere gilt genau das Gegenteil. Das gemütliche Wohnzimmer befindet sich dann gleich neben dem Musikantenstadl, die Nähe zu den eigenen Kindern trifft auf eine Sammelleidenschaft für Gartenzwerge. So unterschiedlich die Menschen sind, so unterschiedlich sind auch ihre Heimatbilder.

Bei jedem Versuch, die eine oder die andere Heimat zu beschreiben, scheint es aber immer um einzelne Momente zu gehen, die Teil eines größeren Ganzen sind. Bei jeder Definition von Heimat klingen im Hintergrund auch all die Facetten des Begriffs an, die gerade nicht zur Sprache kommen. Gängige Vorstellungen und typische Debatten sind selbst dann präsent, wenn es um ein individuelles Verständnis von Zugehörigkeit geht. Gerade diese Überlagerungen machen die besondere Vielfalt des Heimatbegriffs aus.

Vielleicht ist es letzten Endes aber auch gar nicht so wichtig, ob Heimat nun etwas Materielles oder etwas Ideelles, eine bestimmte Speise, einen Landstrich oder einen ganz besonderen Geruch meint, ob Heimat nun eher für Zugehörigkeit, für Freundschaft oder für Sicherheit steht. Wichtig ist, was Menschen in unterschiedlichen Zusammenhängen empfinden und was das Wort »Heimat« sein kann. Das Spannende daran sind ja gerade die verschiedenen Zuschreibungen, die den Begriff so schillernd erscheinen lassen. Einerseits wird die Frage nach Heimat von allen Menschen im Laufe ihres Lebens immer und immer wieder neu diskutiert. Andererseits hat Heimat auch eine historische Dimension, aus der sich die Tiefe des Wortes ableiten lässt. Die vielen Versatzstücke kommen eben auch von der langen Verwendung des Begriffs, sagt Bausinger. Die Biografie des Wortes hat viel mit seiner Verwendung zu tun und verspricht Auskunft darüber, wie die Rede von der Heimat über die Jahrhunderte zu einem derart komplexen Thema geworden ist.

Nach Kluges etymologischem Lexikon war das Wort »Heimat« im Mittelhochdeutschen bereits vor dem 11. Jahrhundert bekannt und meinte in seiner ursprünglichen Bedeutung etwa so viel wie »Stammsitz«. Ebenfalls nahe liegt hier die Auslegung im Sinne von »Erbbesitz«, andere Zuschreibungen müssen jedoch Spekulation bleiben.2

Bis ins 19. Jahrhundert hinein sollte die Koppelung einer rechtlichen Ordnung mit der Bindung an einen konkreten Ort das Verständnis von Heimat im deutschsprachigen Raum bestimmen. Vor allem in Bayern, in Österreich und in der Schweiz ist der Bezug zwischen räumlichen Strukturen und dem Begriff noch über diese Zeit hinaus bekannt und macht ein wesentliches Merkmal von Heimat aus: die Bezogenheit auf eine Gegend oder Region.

Die Kulturanthropologin Ina-Maria Greverus hat sich eingehend mit der Verknüpfung von Menschen und Orten auseinandergesetzt: »Bei ›Heimat‹«, erklärt die Wissenschaftlerin zur historischen Bedeutung des Begriffs, »handelt es sich entweder um die Gemeinde oder das nächstgrößere Territorium, die Grundherrschaft oder den Kanton (in der Schweiz) … [Gleichzeitig ist die] Heimat der Raum der Zuständigkeit, der Raum, der dem ›Heimatangehörigen‹, selbst wenn er verarmt ist, Schutz und Recht gewähren muß. Durch Heimatangehörigkeit erwarb man – durch Geburt, Heirat oder Einkauf – Heimatrecht.«3

Auf der gleichen Grundlage war es im Gegenzug aber auch möglich, die Heimat oder vielmehr das Heimatrecht zu verwirken, etwa wenn man sich zu lange Zeit an einem anderen Ort befunden hat. Das Absprechen jeglicher Unterstützung führt in diesem Zusammenhang zur Ausgrenzung aus einem bestimmten Areal, einem Dorf oder einer Stadt und damit immer auch aus einer Gemeinschaft. Der räumliche Bezug geht also mit sozialen Bindungen einher.

Gemäß der Redensart »Der Älteste kriegt die Heimat!«, in anderen Gegenden war es der jüngste Sohn, hatte auch im erbrechtlichen Sinne vielerorts nur einer aus der Familie einen Anspruch auf den elterlichen Hof. Die jüngeren oder älteren Geschwister hatten das angestammte Heim dagegen mittels Heirat oder als Gesinde zu verlassen und galten als Mägde oder Knechte ohne eigenen Grund, rechtlich gesehen, als heimatlos.4 Wurde das Erbe zu gleichen Teilen an die Geschwister vergeben, reichte der Ertrag auf Dauer auch nicht für alle. Im Laufe des Lebens blieb vielen Menschen also schon in früheren Zeiten nichts anderes übrig, als sich aufzumachen, um eine neue Heimat und damit ihr Glück zu finden.

Nun konnte das System des Heimatrechts in bestimmten Landstrichen, Städten und Gemeinden nur unter der Voraussetzung funktionieren, dass sich der größte Teil der Bevölkerung eher wenig bewegte, sondern dauerhaft an einem Ort verweilte. Im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung und mit dem steten Anwachsen der Bevölkerungszahlen aber verlangten bald gravierende Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft die zunehmende Mobilität von Arbeitssuchenden in ganz Europa. Arbeiterinnen und Arbeiter wurden vor allem dort gebraucht, wo es Arbeitsplätze gab. In dieser Epoche des Umbruchs und des Wandels war eine Rückkehr im Falle der Bedürftigkeit aber meist nicht mehr möglich. Besonders in den Randgebieten der großen Städte, doch auch auf dem Land stieg mit der Zeit auch die Zahl der Heimatlosen, für die niemand mehr zuständig war. Die veränderte Situation verlangte nach einer angepassten Regelung. Nachdem die Probleme von den herrschenden Mächten in Europa lange ignoriert worden waren, wurde das Heimatrecht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schließlich vom »Prinzip des Unterstützungswohnrechts« abgelöst. Dieses Recht sollte allen unter der Bedingung, dass sie mindestens zwei Jahre in der gleichen Stadt oder im gleichen Bezirk gemeldet waren, in einer Notlage unter die Arme greifen. Das ursprüngliche Heimatrecht begann sich nach und nach vom Ort der Herkunft abzukoppeln und zum späteren Staatsbürgerrecht zu entwickeln.5

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts löste sich der Begriff also zusehends aus einem eindeutigen Zusammenhang. Heimat wurde in dieser Zeit nicht nur zu einem Recht, sondern auch zu einer idealen Welt, die ohne konkreten Rückbezug funktionierte. Ganz im Sinne der Romantik wurden Sehnsuchtsorte geschaffen, die Heimat meinten, aber nicht mehr exakt bezeichneten, was und wo diese Heimat war. Bilder von Bergen, von rauschenden Bächen und blühenden Wiesen, von Frauen und Männern in Tracht, Jagdszenen mit Hirschen und Kühe auf der Weide wurden zu beliebten Sujets der Landschafts- und der Genremalerei, die in jenen Jahren zu den wichtigsten und vor allem meistverkauften Gattungen im Kunstbereich zählten.

Von zentraler Bedeutung ist hier die Verbindung zu einer neuen Gesellschaftsschicht, die sich ebenfalls in dieser Epoche zu etablieren begann: dem Bürgertum. In großer Zahl erwarben Bürgerinnen und Bürger beispielsweise die Gemälde der Münchner Schule und anderer Landschaftsmaler, die weit über die jeweiligen Stadtgrenzen hinaus für ihre pittoresken Darstellungen bekannt waren. Die damit verbundenen Vorstellungen vom Landleben konnten sich gerade in einer Zeit durchsetzen, in der so manches in Bewegung geriet. Mit der Industrialisierung begann sich der Alltag der Menschen in Europa und in anderen Teilen der Welt radikal zu verändern. In den Städten wurden nicht nur Fabriken gebaut. Für die industrielle Fertigung von Gütern wie zum Beispiel Lederwaren, Papier oder Automobilen bedurfte es zahlreicher Arbeitskräfte. Viele fühlten sich dadurch angezogen, verließen ihr Heimatdorf und zogen in die Stadt.

Zusehends wurde die Unterbringung zum Problem. Für Hunderttausende Menschen wurden Mietskasernen errichtet. Im städtischen Umfeld wohnten die meisten nicht mehr in einem einzelnen Haus oder auf einem eigenen Grundstück, sondern in einer Wohnung oder in einem Zimmer zur Untermiete. Gegenwelten zum oftmals rauen Alltag waren gefragt. Die Heimatbilder, die auch in vielen Gedichten und Romanen beschworen wurden,...

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