I Tot oder lebendig?
Kleists Steckbrief und wie man ihn abreißt
Imaginäre Reisen. Dieses Gesellschaftsspiel liebt man um 1800. Vor allem Frauen lieben es, die, wenn sie tatsächlich reisen, nur in Begleitung von Männern reisen dürfen oder als Männer verkleidet, wie Kleists Schwester Ulrike. Mit verbundenen Augen sitzt man um einen Tisch herum, streicht mit der Hand über eine Landkarte, um dann mit einem Fingerzeig Halt zu machen, an einem Zufallsort, und Weg und Ziel sich in der Phantasie auszumalen. Ungestört, also anders als in der Wirklichkeit. Da kann das Reisen von der schönen Kunst zum Rechenkunststück werden. So jedenfalls der französische Aufklärer Denis Diderot in seiner Physiologie (1774–1780). Er warnt davor, seinem natürlichen Instinkt zu folgen, wenn man in einer Kutsche sitzt, die Pferde plötzlich durchgehen, hin zu einem Abgrund oder einem Fluss. Jeder will da sofort aus der Kutsche springen, aber wohin? In die Richtung des Vorderrads, das mit der Kutsche fortläuft, oder in die Richtung des Hinterrads, das auf den Springenden zuzukommen droht? Der Augenschein, so Diderot, rät zum Sprung nach vorn. Ein fataler Irrtum. Wer nicht von einem der beiden schweren und großen Räder zermalmt werden will, muss in die Richtung des Hinterrads springen, während ihn die Bewegung des Wagens zugleich nach vorne reißt. Nur so gerät er in eine Diagonale, die im sicheren Zwischenraum zwischen beiden Rädern verläuft. Die Rettung ist ein Vektorspiel aus den Kräften der Sprungbewegung und der Bewegung des Wagens.1
Im Sommer 1801 ist Kleist mit seiner Schwester Ulrike unterwegs von Straßburg nach Paris. Acht Tage brauchen sie und 120 Fahrstunden mit der Kutsche und haben Glück dabei, wie Kleist in einem Brief vom 18. Juli 1801 an seine Freundin Karoline von Schlieben eingesteht. In Butzbach, bei Frankfurt am Main, machen sie eine kurze Rast vor einem Wirtshaus, bleiben in der Kutsche sitzen, als plötzlich ein Esel mit abscheulichem Geschrei die Pferde erschreckt, so dass sie im vollen Tempo durchgehen. Was macht Kleist?
»Ich grif nach dem Zügel, aber die hiengen ihnen, aufgelöset, über der Brust, u ehe ich Zeit hatte, an die Größe der Gefahr zu denken, schlug schon der Wagen mit uns um, u wir stürzten – Und an einem Eselsgeschrei hieng ein Menschenleben? Und wenn es nun in dieser Minute geschlossen gewesen wäre, darum also hätte ich gelebt? Darum? Das hätte der Himmel mit diesem dunkeln, räthselhaften, irrdischen Leben gewollt, und weiter nichts –? Doch für diesmal war es noch nicht geschlossen, – wofür er uns das Leben gefristet hat, wer kann es wissen? Kurz, wir standen beide ganz frisch u gesund von dem Steinpflaster auf u umarmten uns. Der Wagen lag ganz umgestürzt, daß die Räder zu oberst standen, ein Rad war ganz zerschmettert, die Deichsel zerbrochen, die Geschirre zerrissen, das Alles kostete uns 3 Louis d’or u 24 Stunden, am andern Morgen gieng es weiter – Wann wird der letzte sein?«2
Diderots Ratschlag hat Kleist offenbar nicht im Kopf. Er springt nicht aus dem Wagen und er rechnet in seinem Rettungsversuch nicht mit einem Kräfteparallelogramm in einem Bewegungsbild von Kutsche– Pferden–Mensch wie Diderot, sondern nur mit den eigenen Kräften. Die Zügel will er in die Hand nehmen, um das plötzliche und schwer aufhaltbare Geschehen nach eigenem Willen zu lenken, und dabei scheitert er. Dass er überlebt, ist nur ein Glücksfall. Fortuna regiert, aber Kleist denkt sofort ans Fatum, an die Notwendigkeit eines Lebens, das durch den Zufall eines Eselgeschreis hätte enden können. Kleists Bilanz fällt ernüchternd aus: 23 Jahre alt ist er im Sommer 1801, ein im Grunde ziellos Reisender ohne festen Wohnsitz, ohne Beruf, ohne finanziellen Rückhalt, ein Projektemacher, der gerade im Aufbruch nach Paris ist, um das in seiner Geburtsstadt Frankfurt/Oder abgebrochene Studium der Naturwissenschaft fortzusetzen. Es ist eines von vielen Projekten in seinem Leben, von denen sich bisher keines nach Plan erfüllt hat. Eigentlich weiß er nicht, wie es weitergehen wird, so verrät es ein Brief an die Verlobte Wilhelmine von Zenge, auf der Reise nach Paris im Juni 1801 geschrieben. »Alles liegt in mir verworren, wie die Werchfasern im Spinnerocken, durcheinander«, heißt es hier, und weiter: »selbst meine Wünsche wechseln, und bald trit der eine, bald der andere ins Dunkle, wie die Gegenstände einer Landschaft, wenn die Wolken drüber hinziehn.«3 Das ist schlecht auszuhalten für einen, der von Jugend an von Figuren der Steuerung fasziniert ist und die Kontrolle über seine Lebensreise so fest in der Hand halten will wie die Zügel der Kutschenpferde. Zwei Jahre vor der Parisreise, im Mai 1799, schreibt er an seine Schwester Ulrike:
»Ein Reisender, der das Ziel seiner Reise, u den Weg zu seinem Ziele kennt, hat einen Reiseplan. Was der Reiseplan dem Reisenden ist, das ist der Lebensplan dem Menschen. Ohne Reiseplan sich auf die Reise begeben, heißt erwarten, daß der Zufall uns an das Ziel führe, das wir selbst nicht kennen. Ohne Lebensplan leben, heißt vom Zufall erwarten, ob er uns so glücklich machen werde, wie wir es selbst nicht begreifen.
Ja, es ist mir so unbegreiflich, wie ein Mensch ohne Lebensplan leben könne, u ich fühle, an der Sicherheit, mit welcher ich die Gegenwart benutze, an der Ruhe, mit welcher ich in die Zukunft blicke, so innig, welch’ ein unschätzbares Glück mir mein Lebensplan gewährt, u der Zustand, ohne Lebensplan, ohne feste Bestimmung, immer schwankend zwischen unsichern Wünschen, immer im Widerspruch mit meinen Pflichten, ein Spiel des Zufalls, eine Puppe am Drathe des Schicksaals – dieser unwürdige Zustand erscheint mir so verächtlich, und würde mich so unglücklich machen, daß mir der Tod bei weitem wünschenswerther wäre.«4
Vom Zufall eines Eselsgeschreis einmal abgesehen, vor dem keiner sicher ist, sollte man also das Reisen wie das Leben im Griff haben. Wenn aber das Leben aus Experimenten besteht, deren Verlauf nicht mehr berechenbar ist, wie kommt einer wie Kleist damit zurecht? Wie, dass sein Leben sich nicht, wie geplant, zu einem kohärenten und zielgenauen Projekt entwickelt, sondern verworrenes Flickwerk bleibt, ohne vorgefertigtes Schnittmuster, eine patchwork-identity, wie es die Soziologie gegenwärtig nennen würde? Eine Frage ist das, die ganz aus dem Heute zu kommen scheint und zugleich eine historische ist. Kleist mag als Dichter, wie Thomas Mann einmal schrieb, »sondergleichen« sein, »völlig einmalig, aus aller Hergebrachtheit und Ordnung fallend«,5 seine Schwierigkeiten mit der Erstellung und Durchführung eines Lebensplans sind nichts ihm Eigentümliches, es handelt sich eher um ein Generationsproblem der nach 1770 Geborenen, die mit den Mündigkeits- und Selbstbestimmungsmodellen der Aufklärung erzogen worden sind und dann in die Wirren der Befreiungskriege gegen Napoleon geraten, in denen die deutschen Staaten politisch instabil und in allen sozialen Bereichen reformbedürftig sind und die ständische Gesellschaft allmählich entsichert wird. Gerade die Lebensläufe von Aristokraten entwickeln sich so ins gefährlich Offene, die Verbindlichkeit des eigenen Standesmodells wird brüchig, der soziale Handlungsraum vergrößert sich, der Zugewinn an Freiheit kann zugleich aber als Beliebigkeit empfunden werden, als Orientierungsverlust.6 Anders als in der altständischen Welt ist es an der Epochenschwelle um 1800 nichts Ungewöhnliches, dass einer wie Kleist ein Leben lang auf der Suche nach dem Sinn seines Lebens bleibt.
Eine Umbruchs-, eine Krisenzeit also, voller Spannungen für ein Leben, die in einer Biographie nicht nachträglich aufgelöst und harmonisch ausgeglichen werden dürfen. Zur Vermeidung von Langeweile und zur Vermeidung von Steckbriefen, also zum Schutz des Lesers und zum Schutz des Porträtierten. Im Falle Kleists ist das schwer, wie bei allen, die jung und spektakulär sterben. Der große Essayist Walter Benjamin hat über das Verhältnis von Todesalter und Gedächtnis einmal bemerkt: »Ein Mann […], der mit fünfunddreißig Jahren gestorben ist, wird dem Eingedenken an jedem Punkte seines Lebens als ein Mann erscheinen, der mit fünfunddreißig Jahren stirbt.«7 Auf Kleist, mit 34 Jahren gestorben, trifft das zu. Fast jeder Biograph schreibt seine Geschichte von ihrem monströsen Ende her und versucht in den Brandzeichen des Körpers die der Seele zu lesen. Der Selbstmord am Wannsee 1811 gilt nur als die finale Katastrophe einer Lebensgeschichte, die sich als permanente Krisengeschichte darstellt und damit als letzte Konsequenz eines Nonkonformisten, der – einer staatstragenden Familie entstammend – den Militärdienst quittiert, das Studium abbricht, die standesgemäße Verlobung mit der Generalstochter Wilhelmine von Zenge beendet, den Versuch einer Beamtenlaufbahn rasch aufgibt, erfolglos ist bei den Zeitgenossen als Dichter und gescheitert mit dem großen journalistischen Projekt der Berliner Abendblätter. Eine einzige Kette von Enttäuschungen und Versagen, die das Selbstopfer erklären soll. Dabei ist es umgekehrt: Aufgrund des rätselhaften Todes stellen die Biographen Kleists ganzes Leben im Nachhinein unter Melancholieverdacht, und seine Werke gelten ihnen somit als Dokumente des Leidens.
Vernünftiger scheint es zu...