Um die Ereignisse der Geschichte zu verstehen ist es immer nötig auch einen gewissen Einblick in die Zeit davor und damit in die Ausgangssituation zu haben. So basierte die Reformation im Heiligen Römischen Reich auf Gegebenheiten, die laut Hans-Dieter Gelfert förmlich nach Reformation schrien, wogegen in England eine „Phase der Konsolidierung" und damit eine völlig andere Stimmung herrschte. Etwa 150 Jahre zuvor unter John Wyclif, als die Bauern sich gegen die Grundherren erhoben hatten, wäre Gelfert zufolge eine Reformation in England daher wesentlich eher zu erwarten gewesen.[25] Die Lollarden, Wyclifs Anhänger blieben jedoch der einzige Überrest dieser Geschehnisse.
England hatte in jener Zeit eine bäuerlich-ländliche Gesellschaft, die sich wenig von früheren Jahrhunderten unterschied. Entsprechend hafteten der christlichen Religion auch noch sehr die alten heidnischen Bräuche an. Viele ländliche Feste aus der Zeit des Mittelalters wurden auch in der Ära Heinrichs VIII. beibehalten. Das religiöse Leben war daher insgesamt sehr ikonoklastisch.[26] Besonders die vielen uns überlieferten Robin Hood Geschichten bezeugen das Bild einer aktiven katholischen Nation. Es handelte es sich also nicht um eine proto-protestantische Gesellschaft, sondern im Großen und Ganzen um eine Gesellschaft, die „faithful to the Catholic faith" war.[27]
oft heißt es jedoch, dass im England des frühen 16. Jahrhunderts ein weit verbreiteter Antiklerikalismus herrschte. Dies war nicht der Fall. England war, wie beschrieben, ein sehr religiöses Land. Die Bevölkerung hatte den Ruf einer „formal piety" und viele gaben bereitwillig Spenden für Heilige und gingen auf Wallfahrten. Kein anderes Land Europas genoss außerdem bessere Beziehungen zum Papsttum.[28] König und Papst regierten die Kirche in England, so Elton, Hand in Hand, wobei Elton aber auch anmerkt, dass dem Papst mehr Macht über die englische Kirche sowie Einfluss auf die englische Politik zukam als Historiker häufig zugeben. Beispielsweise wurden in keinem anderen europäischen Land so viele Bischöfe in der Regierung eingesetzt wie in England. Aber gerade diese vermeintliche Stärke der Kirche sollte sich im Verlauf der Geschichte als eine Schwäche auswirken, da die eigene Führung somit kaum noch „men of spiritual excellence and theological distinction", also hochqualifizierte Theologen, vorweisen konnte.[29] Dennoch: „ [...] the English Crown was virtually the only European power still to take seriously the claims to spiritual headship and pious devotion put forth by the [.] Holy See".[30]
Christopher Haigh hat mit dem Vorurteil des Antiklerikalismus in seinem Essay „Anticlericalism and the English Reformation" bereits 1987 aufgeräumt, in dem er den Klerus und die Zustände innerhalb der Kirche analysierte. So fand er zum Beispiel heraus, dass es viel mehr Priester gab, als Pfarreien, die diese hätten übernehmen können. Das Betreuungsverhältnis für die Bevölkerung war demnach gut.[31] Außerdem stieg die katholische Frömmigkeit in der Zeit vor der Reformation eher an anstatt nachzulassen. Auch Diarmaid MacCulloch widerlegte 1995 die These des Antiklerikalismus als Ursache der englischen Reformation und stellte fest, dass es innerhalb der Kirche damals vieles gab, das „good", vieles, das „indifferent" und nur wenig, das „disastrous" war. MacCulloch entsprechend waren 1509 die einzigen Probleme der Kirche aus der Selbstgefälligkeit des Erfolges geboren.[32]
Die sogenannte Häresie hingegen war im frühen 16. Jahrhundert vermutlich sowohl geographisch als auch sozial nur begrenzt verbreitet und wurde von der breiten Masse abgelehnt.[33] Auch die Kirche der Zeit war Haighs Analyse gemäß in England keine, wie oft angenommen, ausschließlich korrupte oder repressive Institution, deren Situation dringende Reformen erforderte. Daraus resultierte, dass auch die Menschen nicht nach Reformen verlangten und auferlegte Veränderungen meist ohne Enthusiasmus oder Zustimmung aus der breiten Bevölkerung umgesetzt wurden. Die generelle Zufriedenheit der Menschen mit der Kirche verhinderte somit eine schnelle Verbreitung des Protestantismus, anders als auf dem Kontinent. Da jedoch viele reformatorische Schriften, wie etwa William Tyndales Obedience of a Christian Man über den Handel und die Häfen nach England gelangten, waren Luthers und andere reformatorische Ansichten und Lehren in England aber verbreitet und wurden diskutiert.[34] Die folgende Reformation in England führte aus all diesen Gründen letztlich nicht zu einem protestantischen, sondern zu einem geteilten England.[35]Bemerkenswert ist, dass die englische Reformation, trotz der Konflikte in Bristol, Gloucester, Oxford oder Rye in den 1530er Jahren, oder in Canterbury und London in den 1540er Jahren[36], weniger blutig als auf dem Kontinent ablief.[37] Die Reformation wurde also zu einem Kampf, überwiegend friedlich, aber nicht „uneventful".[38]
Antiklerikalismus war damit also keine generelle Erscheinung und anstelle einer Ursache vielmehr eine Folge der englischen Reformation.[39] Heinrich VIII. attackierte in der Folgezeit demnach keine moribunde, das heißt dem Untergang geweihte, völlig veraltete Institution Kirche und nachlassende Religion, sondern einen kräftigen und wachsenden Glauben.[40]
David Newcombe hingegen argumentierte, dass die Kirche generell, wie jede Institution, ständig reformbedürftig war. Im Erkennen dieses Bedarfs nach Reformation sah er sogar ein Zeichen von Gesundheit, vor allem, wenn die Kirche in der Lage war sich selbst zu erneuern.[41] Geoffrey Elton wiederum war davon überzeugt, dass der Antiklerikalismus im England des beginnenden 16. Jahrhunderts stark, ja sogar stärker als in Frankreich, gewesen sei. Dass sich das Volk bei der Befürwortung der neuen Lehre aber eher zurückhielt, lag Elton zufolge vor allem im Neid einiger Minderheiten gegenüber der Kirche, deren Besitz rund ein Viertel des Reiches ausmachte. Bei diesen Minderheiten handelte es sich um Gruppen wie Kaufleute oder dem Adel, also solche, die viel Macht besaßen und demnach keinesfalls vernachlässigt werden dürfen. Auch Grundherren beneideten die Kirche und ihre Güter.[42] Christopher Haigh benennt weiterhin die „common lawyers who coveted ecclesiastical litigation and the Court politicians who aimed to make or salvage careers by taking advantage of the king's concern for the succession" und die somit ebenfalls aus Neid dem Protestantismus offen gegenüber standen.[43] Jene Gruppen erhofften sich von einem Zusammenbruch der kirchlichen Macht die Übertragung kirchlicher Rechte und vor allem Reichtümer auf sich selbst und wurden dadurch oftmals zu Unterstützern der Reformation. Gerade diese „lokale Prominenz" begünstigte ein Erstarken der neuen Lehre.[44] Die englische Krone hingegen hatte bisher meist Vorteile aus der engen Zusammenarbeit mit der Katholischen Kirche gezogen - so vor allem hinsichtlich finanzieller Natur.[45] Anzumerken ist hierbei Eltons Erkenntnis, dass der Reichtum der Kirche sehr zentralisiert war. Ein Großteil des Vermögens lag in der Hand einiger weniger Kleriker, wohingegen der einfache Klerus oft in einem „state near to destitution", also in Armut, lebte.[46]
Alles in allem fasst Elton die Situation im England des frühen 16. Jahrhunderts passend zusammen, wenn er sagt, dass in England förmliche Frömmigkeit bereitwillig mit Antiklerikalismus vereint wurde. Einerseits gab es eben jene Frömmigkeit, die sich in Heiligenverehrung und Wallfahrten ausdrückte, andererseits gab es die vielen Geschichten über unehrliche Pfarrer und die weit verbreitete Annahme, dass der Zustand der Kirche in England sehr zerrüttet und labil sei.[47] Da der Prozess interner Reformen jedoch von der Kirche nicht verweigert und viele der Probleme von ihr selbst aufgedeckt und auch angegangen wurden, gab es wohl eine allgemein verbreitete Zufriedenheit bezüglich der Selbstreform der Kirche. Auch wenn die Anzahl der Kritiker eher gering blieb, so gab es aber auch immer jene, die aus Eigeninteresse, Kritik übten. Als Beispiel dienen hier die benannten Kaufleute.[48]
Die Reformation verdankte zwar einen Großteil ihres Erfolges dem Buchdruck, doch dies änderte nichts daran, dass Lesen und Schreiben bei rund 80% der Bevölkerung[49] nur sehr gestreut als Kenntnisse vorhanden waren.[50] Weil die neue Lehre aber vor allem auf dem Lesen der Bibel beruhte, war jenen Menschen der Protestantismus nicht oder nur schwer zugänglich.[51] Da diese Fähigkeiten in den höheren Schichten des Adels, der Kaufleute und auch bei den Handwerkern, sowohl bei Männern als auch Frauen gleichermaßen, weiter verbreitet waren, konnte die neue Konfession hier auch eher Zuspruch finden.[52] Die circa 10000 Theologen um 1540 konnten zumindest theoretisch alle sowohl in Englisch als auch in Latein lesen und schreiben.[53] Diese Verteilung war für die Verbreitung der reformatorischen Lehren insofern wichtig, als dass das Lesen erst die Kenntnisnahme der neuen Lehre ermöglichte. Auch für die Gesetze Heinrichs VIII. war diese Tatsache relevant, da auch hier eine Weitergabe nur dadurch erfolgte, dass es in fast jeder Gemeinde zumindest eine Person gab, die lesen und schreiben konnte. Hauptsächlich der Adel, Kaufleute, Besitzende, wohlhabende Bauern und...