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E-Book

Helden am Ende

Erschöpfungszustände in der Kunst des Sozialismus

VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl238 Seiten
ISBN9783593422862
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis30,99 EUR
»Helden« verkörperten im Sozialismus als öffentliche Personen und medial gestaltete Rollenvorbilder in besonderem Maße die Optimierungsversuche ihrer Gesellschaften. Ihre tatsächlichen physischen und psychischen Belastungen waren im Allgemeinen jedoch nicht sichtbar. Der Band fragt nach den Möglichkeiten der Darstellung von Erschöpfungszuständen im späten Sozialismus. Behandelt werden Beispiele aus Bildender Kunst, (Dokumentar-)Film, Fotografie und Literatur.

Monica Rüthers ist Professorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Hamburg, Alexandra Köhring, M.A., ist dort wissenschaftliche Mitarbeiterin.

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Leseprobe
Vorwort

Die Ausstellung Müde Helden. Ferdinand Hodler, Aleksandr Dejneka, Neo Rauch in der Hamburger Kunsthalle im Frühjahr 2012 stellte drei bedeutende Positionen figurativer Malerei im 20. Jahrhundert vor. Alle drei Künstler beschäftigt - in jeweils unterschiedlichen zeitlichen und gesellschaftlichen Rahmen - das Heldenmotiv. Die eigenwillige Kombination bezog mit Aleksandr Dejneka einen der prominentesten Maler des Sozialistischen Realismus und eine tragende Figur der sowjetischen künstlerischen Elite ein. Die Zusammenstellung ermöglichte einen neuen Blick auch auf das sozialistische Projekt eines idealen 'Neuen Menschen': Die Frage nach der Medialität gesellschaftlicher Vorbilder im Sozialismus, die von der osteuropäischen Geschichte bisher vor allem im engeren Kontext des sowjetischen Systems behandelt worden war, war in den übergeordneten Kontext der Persönlichkeits- und Individualitätskonzeptionen im 20. Jahrhundert gesetzt. Damit lud die Ausstellung geradezu zu einer weiterführenden Auseinandersetzung aus einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive ein. Die zweite zentrale Leitfrage der Ausstellung, inwieweit die vorgestellten Künstler bereits Bruchstellen in die Bilder ihrer Helden setzten, erschien ebenso lohnend. Der Plan, den Problemhorizont der Ausstellung Müde Helden in einer Zusammenarbeit zwischen Universität und Museum weiter aufzuspannen, war gereift.

Für die Hamburger Kunsthalle bot die Anfrage, das Thema der Aus-stellung aus dem erweiterten Blickwinkel verschiedener geschichtswissen-schaftlicher Fragestellungen zu beleuchten, willkommenen Anlass, über die Katalogpublikationen hinaus als forschendes Museum an die Öffentlichkeit zu treten. Eine Zusammenarbeit zwischen dem Museum als Ausstellungsort und der Universität als Institution der Forschung und Lehre ist für die kunstgeschichtliche Arbeit ein vielversprechender, wechselseitiger Prozess des Austauschs. Die außerordentliche Gelegenheit, ein großes Konvolut der in Russland überaus geschätzten Spitzenwerke Aleksandr Dejnekas aus dem Russischen Museum in Moskau, der Eremitage in St. Petersburg und dem Aleksandr-Dejneka-Museum in Kursk in Hamburg zu zeigen, rief förmlich nach einer unkonventionellen Herangehensweise. Nachdem die erste Station der Ausstellung in Moskau Dejneka als Protagonisten einer zeitlosen russischen Malerei zur nationalen Ikone stilisiert und heroisiert hatte, wählte die zweite Station der Tournee in Madrid mit dem Untertitel Eine Avantgarde für das Proletariat den Ansatz, seine figurativen Werke erstmals in den Kontext der avantgardistischen, abstrakten Bildsprache seiner russischen Zeitgenossen zu stellen und beide Darstellungsweisen zusammen zu zeigen. Die Hamburger Perspektive, Dejnekas Werk in eine Ge-schichte des Ideals des Neuen Menschen von der Lebensreformbewegung bis zum postsozialistischen Rückblick des Leipziger Malers Neo Rauch zu stellen, machte es möglich, Dejneka aus der singulären Rezeption heraus-zulösen, die ihn als figürlichen Maler des postrevolutionären Russland in der Genealogie eines erstarrten und ideologischen Sozialistischen Realis-mus positioniert. Vielmehr interessieren an seinem modernen Frühwerk eben jene Bruchstellen, die das Ideal des Neuen Menschen gegen eine ideologische Festschreibung abzugrenzen suchen. Das Anliegen, Dejneka als wichtigen Maler der europäischen Moderne neu zu entdecken, konnte durch die Untersuchungen in einem über die Kunstwissenschaft erweiterten akademischen Umfeld nur befördert werden. So traf die Idee, vom Historischen Seminar der Universität aus in Austausch mit der Hamburger Kunsthalle einen internationalen Workshop zum Thema der Ausstellung zu veranstalten, auf offene Ohren und die Gastfreundschaft der Kunsthalle, so dass während zweier Tage im Mai Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über erschöpfte Helden und Heldinnen im Sozialismus vortragen und diskutieren konnten. Freundliche und kurzfristige Unterstützung erfuhr das Vorhaben von der Susanne-und-Michael-Liebelt-Stiftung Hamburg.

Bereits 1979 erschien eine der ersten umfangreichen Dokumentensammlungen zur sowjetischen Kunst Zwischen Revolutionskunst und sozialistischem Realismus im DuMont-Verlag, herausgegeben von Hubertus Gaßner und Eckhart Gillen (dieses Buch habe ihr Leben verändert, so eine von einer Workshop-Teilnehmerin an Hubertus Gaßner gerichtete Bemer-kung!). Doch verläuft die Forschung auf dem Gebiet der sozialistischen Avantgarde und des Sozialistischen Realismus im deutschsprachigen Raum bis heute vereinzelt. Zu selten fließen neuere geschichtswissenschaftliche Untersuchungen in das Ausstellungsgeschehen zur sowjetischen Kunst in Deutschland ein. Wir freuen uns daher, dass der Austausch über sozialistische Erschöpfungszustände mit dem vorliegenden Tagungsband einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden kann.

Hubertus Gaßner, Monica Rüthers

Einleitung

Monica Rüthers, Alexandra Köhring

Erschöpfung hat gegenwärtig Konjunktur. In erster Linie wird sie heute als seelische Erkrankung, als Symptom einer durch die postindustrielle Leistungs- und Dienstleistungsgesellschaft provozierten psychischen Anstrengung denn als Folge physischer Belastung und Arbeit diskutiert. Das breite Angebot an entsprechenden Heilungsangeboten sowie deren inhaltliche Ausrichtung verweisen auf ein zeitgenössisches Spannungsfeld: Während ein Belastungsdiskurs als integrativ gesellschaftlicher Aspekt Verbreitung und zunehmend Akzeptanz findet, stellt sich für das Individuum die Frage eines selbstverantworteten Umgangs. An diesem Konfliktpunkt setzt die vorliegende Publikation an, indem sie die Phänomene von Leistung, Erfolg und Erschöpfung als Bestandteile der Individualitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts im Kontext sozialistischer Gesellschaften betrachtet. Leitend ist dabei der Blick auf die Rolle der Bildmedien: Welche bildmedialen Strategien haben dazu beigetragen, dass sich ein solches Modell individueller Anspannung durchsetzen konnte, welche gegenläufigen Tendenzen gab und gibt es?

Der Forschungsbereich 'Bildwelten im Sozialismus' des Historischen Seminars der Universität Hamburg (Prof. Dr. Monica Rüthers) und die Hamburger Kunsthalle (Prof. Hubertus Gaßner) haben sich zusammengeschlossen, um Phänomenen von Erschöpfung in Bildmedien des (späten) Sozialismus nachzugehen. Das Publikationsprojekt basiert auf einem Workshop, der im Rahmen der Ausstellung Müde Helden in der Hamburger Kunsthalle im Mai 2012 stattgefunden hat. Die Ausstellung präsentierte drei Künstler des 20. und 21. Jahrhunderts, die konsequent an der figurativen Darstellung in der Malerei arbeiteten: Der Schweizer Maler Ferdinand Hodler (1853-1918) und der Sozrealismus-Künstler Aleksandr Dejneka (1899-1969) malten Menschen, die - in jeweils unterschiedlichen Bezugssystemen - als Hoffnungsträger ihrer Gesellschaften angesehen werden konnten. Das Werk des Gegenwartskünstlers Neo Rauch (geboren 1960) führte, als dritte Position, ihren Zusammenbruch vor. Vor allem Dejnekas Werk stellt Menschen dar, die ihre gesellschaftliche Rolle und den Leistungsauftrag zu ihren individuellen Handlungsmotiven machen. Das Publi-kationsprojekt nimmt den Ansatz der Ausstellung auf, den in der sozialistischen Bildwelt entwickelten Menschtypus zu untersuchen und ihn in die Entwicklung von Persönlichkeitskonzeptionen im 20. Jahrhundert einzubinden.

Die Publikation fragt nach dem Platz von Krisen- und Extremsituatio-nen sowie Erschöpfungszuständen in Kunst und Medien. Im Zentrum des Interesses stehen die Helden im (späten) Sozialismus. Als gesellschaftliche, öffentliche Personen und medial gestaltete Rollenvorbilder stellten sozia-listische Helden in besonderem Maße die Optimierungsversuche ihrer Gesellschaft vor. Ihre Belastungen sind als besonders hoch einzustufen: Denn sowohl die Helden selbst als auch ihre Repräsentationen waren in ein moralisch-ethisch stark normativ verfasstes Mediensystem eingebun-den, in dem Bilder und die von Mangel und Gewalt geprägten Lebenswirklichkeiten weit auseinanderklafften. Entgegen dem gesellschaftlichen Leitbild des Kollektivs etablierten die sozialistischen Heldenbilder seit den 1920er Jahren einen ausgeprägten Kult des Individuums. Die Heldendarstellungen lokalisieren das Paradigma der Effizienz im Inneren des Menschen, seiner Vorstellungskraft und seinem Eigenwillen. Es sind die figurativen Darstellungen von solchen außerordentlichen Menschen, die das menschliche Handeln, Fühlen und Denken in Einheit suggerierenden und sinnstiftenden Bildern zentrieren. Die Aufmerksamkeit des Bandes gilt den Bruchstellen, an denen medial zumeist erfolgreich miteinander verfugte physische und psychische Eigenschaften auseinandertreten und als dysfunktional markiert werden. Die Beiträge stellen Beispiele vor, die arbeitsökonomische, körperliche und psychische Zumutungen ins Bild setzen sowie ihre geschlechtlichen Zuweisungen sichtbar machen.

Die Publikation bringt breite Kompetenzen zusammen: Forschende aus den Bereichen der osteuropäischen Geschichte, der Literaturwissen-schaft, der Kunstgeschichte sowie der Bildenden Kunst widmen sich ver-schiedenen medialen Figurationen des Helden und der Heldin. Die Bei-träge stellen Ergebnisse aus größeren Forschungszusammenhängen vor, die auf der Basis von umfangreichen Archiv- und Bildmaterialien gewon-nen sind. Bild- und kunstwissenschaftliche Ansätze, historische Ansätze der Alltags-, Konsum- und Technikgeschichte werden angelegt, um die Funktionalität und Dysfunktionalität von Heldenrepräsentationen frei zu legen. Helden standen in den letzten Jahren einige Male vor allem im Rahmen von Tagungen im Fokus des akademischen Interesses. Nie ging es um ihre Müdigkeit. Sozialistische Helden sind als Teile von Agitation und Propaganda thematisiert worden, wobei die stalinistischen 1930er bis 1950er Jahre im Vordergrund standen. Die vorliegenden Beiträge verfolgen einen erweiterten Ansatz, indem sie nach den Wirkungsmechanismen einer medialisierten Umwelt und den auf die Persönlichkeit rückwirkenden Impulse der Bildmedien fragen. Die Bildwelten im Sozialismus sind bisher nur ansatzweise ernsthaft als Faktoren von Integration und Desintegration betrachtet worden. Der Band will einen Beitrag zum Bereich der Bildmedien im Sozialismus als neues Forschungsfeld leisten und den Blickwinkel der bild- und medienwissenschaftlichen Forschung erweitern, die sich bisher auf die westlichen, sogenannten Konsum- und Mediengesellschaften fokussiert hat.

Der erste Teil des Sammelbandes richtet den Blick auf die Körperbilder Aleksandr Dejnekas und ihre visuellen und funktionellen Schnittstellen mit Jugendkulturen, Geschlechtermodellen sowie Arbeitspraktiken. Leitend ist die Frage nach den Brücken und Parallelen der künstlerischen Darstellungen zu zeitgenössischen Selbsttechniken.

Der zweite Teil stellt einen Heldenparcour vor, der in den Medien der (Presse-)Fotografie, der Literatur und im Film (Dokumentar- und Spiel-film) gesetzt ist und von den 1960er Jahren bis in die post-sozialistische Zeit reicht. Die Beiträge verfolgen die Frage, inwieweit eine Medienrefle-xion der Figuren des Helden oder der Heldin einsetzt, die ihre gesellschaftlichen Setzungen differenziert oder gar kritisiert, oder inwieweit sich eher eine andere, erweiterte Medienkultur etabliert, die neue Individualitätsmerkmale einführt.

Die Beiträge gruppieren sich medienbezogen und thematisch wie folgt: Anhand von umfassenden Selbstzeugnissen des sowjetischen Funktionärs Emel'jan Jaroslavskij (1878-1943) führt der Beitrag von Sandra Dahlke in die Gedankenwelt eines vom Sozialistischen Realismus geprägten Individuums ein und rekonstruiert eine quasi autosuggestive Bildbetrachtung. Der Sozialistische Realismus erscheint als integrativer Bestandteil einer Gesellschaft im Spannungsfeld zwischen Mangel und Elend bei gleichzeitigem Bewusstsein der aktiven Teilnahme an einem Prozess der Verwirklichung einer in der Zukunft angelegten Utopie. Am Beispiel von Arbeiterbildern Dejnekas führt Alexandra Köhring die Schwierigkeit einer (Selbst-)Definition des Künstlers im Spannungsfeld systembedingter Bewertungs-mechanismen tatsächlicher physischer Arbeit und deren künstlerischen Darstellung aus. Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung werden der Einsatz von Farbmaterial und Maltechnik in Dejnekas Gemälde als Versuch des Künstlers interpretiert, das Wesen von Arbeit als ein Phäno-men zu erfassen, das physisch wie auch psychisch auf den Körper prägend und stabilisierend zurückwirkt. Corinna Kuhr-Korolev setzt die Themen der geschlechtlichen Vereinheitlichung und Entsexualisierung in den Körperbildern Dejnekas in Bezug zu sowjetischen Jugendkulturen in den 1920er und 1930er Jahren. Die Frage ist, inwieweit die Bildproduktion mit einer Politik konform laufe, die auf den Ausschluss von Konflikten Heranwachsender ziele. Daniel Koep widmet sich der Widerkehr der sozialistischen Heldenfiguren im Werk des zeitgenössischen Erfolgskünstlers Neo Rauch und fragt nach ihrem Ort im individuellen und kollektiven Bildgedächtnis.

Die zweite thematische Gruppe der Beiträge wendet sich fotografi-schen und filmischen Bildmedien zu, denen ein dokumentarischer Ansatz zugrunde liegt: Der Aufsatz von Isabelle de Keghel stellt exemplarisch einige der seltenen Pressefotos von Arbeit in Extremsituationen vor, die in der DDR-Presse veröffentlicht wurden. Als Beispiele wurden Fotos von den Rettungsarbeiten nach dem größten Grubenunglück der DDR-Geschichte 1960 in Zwickau ausgewählt. Aglaia Wespe analysiert den Dokumentarfilm Na?a mama - geroj (Unsere Mutter - ein Held), der 1979 am Leningrader Dokumentarfilmstudio gedreht wurde. Der Film porträtiert die Weberin Valentina Golubeva aus der Textilindustriestadt Ivanovo, die als Heldin der Arbeit ausgezeichnet wurde. Der Beitrag interpretiert Erschöpfung als Akt der Widerspenstigkeit gegen die Norm der Arbeitsheldin. Monika Wucher beschäftigt sich mit dem 1960 in Budapest gegründeten Filmstudio BBS (Béla Balázs Studio), das als Entfaltungs-, Experimentier- und Produktions(frei)raum der Filmkunst in Ungarn fungierte. Ab circa 1970 entwickelte sich dort ein Genre, das 'Soziografischer Dokumentarfilm' genannt wurde. Die Helden stellen Gegenmodelle zum Kollektiv (Gruppe, Verband, Organisationsform) vor. In dem Beitrag geht es um die Brüche, Kompromisse, Unzulänglichkeiten in der Figur des Einzelkämpfers aus zwei Filmen des BBS und die Rückschlüsse auf die gesellschaftlichen Bezugsysteme. Der Film Kryl'ja (Flügel) von Larisa ?epitko (1966), dem sich Carmen Scheide widmet, handelt von einer alternden Kriegsheldin, die im Zweiten Weltkrieg Fliegerin war. Die Heldin erlebt einen Generationenumbruch an ihrer eigenen Tochter und ist selber zwischen Loyalität, Vorbildfunktion und Selbstbestimmung hin- und her gerissen. Damit thematisiert der Film das virulente gesellschaftliche Problem eines Abwägens zwischen Heldenrollen und Selbstreflexionen.

Zwei Beiträge behandeln ambivalente Heldenfiguren vor dem Hinter-grund des zeitgenössischen Technikdiskurses: Margareta Tillberg behandelt Projekte des Interface/Mensch-Maschine-Designs der 1960er bis 1970er Jahre und stellt den Designer als neuen Held im Kunstdiskurs vor. Mit Rückblicken auf die 1920er Jahre werden die Mensch-Maschine-Designs als Erschöpfungsergänzer/-aufheber und als Krisenlösung vorgestellt. Marina Dmitrieva beschreibt das Kinderbuch Nikolai Nosovs Neznajka in der Sonnenstadt (1958) als Beispiel eines Wandels des Heldenparadigmas im Tauwetter. Die moralische Verwandlung der Hauptfigur des Buches, eines leichtsinnigen, kindlichen Unruhestifters, in einen durch ständige innere Dialoge mit seinem Gewissen hadernden, zögerlichen Heranwachsenden personifiziert den sich herausbildenden, mündigen Helden der Tauwetterzeit.

Die postsozialistische Perspektive auf die Heldenkulte des Sozialismus eröffnen zwei abschließende Beiträge: Christine Gölz stellt das No-Budget-Filmprojekt Pyl' (Staub) von 2005 vor, an dem zahlreiche 'Helden' der russischen alternativen Kultur der Nuller-Jahre aktiv teilnahmen. Der Film schickt seinen Protagonisten Alë?a, einen exemplarischen Antihelden, auf eine Suche - nach dem eigentlichen Leben, dem realen Körper, einer anderen Geschichte. Der Held nimmt an einem wissenschaftlichen Experiment des Geheimdienstes teil, bei dem er mit seinem idealen Körperentwurf konfrontiert wird. Beim Versuch, diesen medial hergestellten Idealkörper real werden zu lassen, begegnet Alë?a einer ganzen Palette aktueller Identitätsangebote und versucht sich in verschiedenen Rollen. Abgeschlossen wird der Parcour der Müden Helden durch einen Beitrag der Medienkünstlerin Lene Markusen, die in ihrem Film GRAD kommerziell arbeitende Doubles historischer Helden in der postsozialistischen Gesellschaft porträtiert hat.

Was lässt sich zusammenfassend über die Müdigkeit sozialistischer Helden in der Kunst sagen? Der Aufbau wirksamer Heldenbilder im Sozialismus gelang, das zeigt das vorgestellte Heldenpanorama, gut im Medium der Malerei der 1920er und 1930er Jahre. Zu überprüfen wäre, inwieweit spätsozialistische malerische Heldenbilder über das Idiom individueller Selbstüberprüfung hinausgingen und kritisches Potenzial bargen. Erschöpfung und Müdigkeit wurden zu Themen der Darstellungen sozialistischer Helden und Heldinnen in anderen Medien. Ausschlaggebend war ein gewandelter künstlerischer Anspruch zum Beispiel im Bereich des Dokumentarfilms. Die sozialen und gesellschaftlichen Ursachen von Erschöpfung traten hier deutlich hervor: Überanstrengende Arbeit sowie Konflikte zwischen persönlichen Ansprüchen und dem Umfeld wurden sowohl implizit als auch explizit thematisiert. Auffallend ist jedoch, dass der künstlerisch durchgeführte Bruch mit funktionstüchtigen Helden und Heldinnen auch neue Vorbilder generierte: den aufmerksam beobachtenden, kritischen oder auch visionären Künstler, Filmer oder Fotografen. Die Frage nach ihrem Arbeiten und ihrem Status innerhalb der sozialistischen Systeme verspricht ein lohnendes Forschungsfeld.

Ästhetische Wahrnehmung: Bilder und Körper ohne Ermüdung

Erschöpfung, Terror und Traumbilder in den Tagebüchern eines Bolschewisten

Sandra Dahlke

Nach dem Tod Lenins im Jahr 1924 stand die bolschewistische Führung vor dem Problem, ihren revolutionären Elan weiterhin aufrechtzuerhalten, schließlich legitimierte die Partei ihren Herrschaftsanspruch gerade durch ihre Eigenschaft als revolutionäre Avantgarde. Die Literaturwissenschaftlerin Katerina Clark hat in ihrer Arbeit über den sozialistisch-realistischen Roman bemerkt, dass die sowjetische Elite diese beachtliche Leistung zu großen Teilen durch Gewalt, aber auch durch die Kreation eines 'fantastischen Zeitalters' tatsächlich bis weit in die 1930er Jahre hinein erbringen konnte. Sie deutet hiermit die Ambivalenz der Erfahrungen der Menschen an, die in den 1930er Jahren leben bzw. überleben mussten. Ihr Leben war durch Gewalt, entsetzliche Lebensbedingungen und extreme Erschöp-fungszustände gekennzeichnet. Millionen von Menschen wurden ohne Schuld und eigenes Zutun fortgerissen, deportiert und vernichtet. Allein in den Jahren 1932/33 kamen zwischen sechs und acht Millionen in Folge der gewaltsamen Kollektivierung der bäuerlichen Wirtschaften ums Leben. Sie verhungerten, wurden erschossen oder starben während der Deportation, in den sogenannten Sondersiedlungen oder unter der Zwangsarbeit. Der Krieg gegen die Bauern in Verbindung mit der radikalen Industrialisierungspolitik der ersten Fünfjahrplanperiode setzte Millionen von Menschen in Bewegung, die in Erdlöchern, Zelten oder Baracken auf den Großbaustellen wie zum Beispiel in der Stahlstadt Magnitogorsk oder am Dnepr-Staudamm lebten. Das aus ihrer gewaltsamen Politik resultierende soziale Chaos versuchten die bolschewistischen Machthaber mit administrativen Maßnahmen, zum Beispiel mit der Einführung von Arbeitsbüchern und Inlandspässen, sowie durch die Androhung und Anwendung drakonischer Strafen zu unterbinden. Nur wenige Jahre später, während des sogenannten Großen Terrors 1937/38, wurden fast 800.000 Menschen umgebracht. Ebenso viele wurden deportiert und in Gefängnisse und Arbeitslager gesperrt.

Der andere Teil des Erfahrungsspektrums, den Katerina Clark andeu-tet, beinhaltete glühende Zukunftserwartungen und Begeisterung für eine neue Welt, die im Entstehen begriffen schien und einen vollkommeneren Neuen Menschen hervorzubringen versprach. Die Zeitgenossen lebten wie in einem Zeitraffer, so als hätte man ein ganzes Jahrhundert in ein Jahrzehnt gepresst. Insbesondere Moskau war der Ort, an dem das neue Leben greif- und sichtbar wurde, an dem 1935 als eines der ersten Anzei-chen der verheißungsvollen Zukunft die erste Linie der Metro eröffnet wurde und bisher ungesehene Gebäude aus dem Boden wuchsen. Die Stadt glich einer Baustelle, auf der der 'Generalplan zur Rekonstruktion Moskaus' in die Tat umgesetzt und die Zukunft gebaut wurde. Die Umgestaltung der Lebenswelt sowie die damit verbundenen kühnen Zukunftsvisionen vermittelten sich den Zeitgenossen, insbesondere denen außerhalb der Metropolen, nicht nur durch eigene Anschauung. Sie wurden ihnen durch unterschiedliche Medien wie Zeitschriften, Kinofilme, Plakate und durch das Radio vor Augen und Ohren geführt.

Hiermit ist der Kontext umrissen, vor dessen Hintergrund ich über meine Forschungen mit Selbstzeugnissen aus der Stalinzeit berichten möchte. Diese Quellen, wie zum Beispiel Briefe, Tagebücher, unter-schiedliche Formen autobiografischer Texte und Bilder, in denen Men-schen über sich Auskunft geben, wurden zum ersten Mal in größerem Umfang zu Beginn der 1990er Jahre mit der Öffnung der sowjetischen Archive zugänglich. Sie sind deshalb so interessant, weil sie einen Einblick gewähren, wie Ideologie funktionierte, wie sie auf die Menschen wirkte und wie diese wiederum sich an der Produktion von Ideologie beteiligten. Selbstzeugnisse geben auch Auskunft darüber, in welchem Verhältnis die Zeitgenossen zu den textlichen und bildlichen Artefakten standen, die dem Sozialistischen Realismus zugeordnet werden. Ich möchte hier insbesondere der Frage nachgehen, ob und auf welche Weise diese Bilder und Texte, die aus heutiger Perspektive als Illusion oder als Betrug erscheinen, für die Zeitgenossen glaubwürdig sein konnten.

Ich werde mich vor allem auf die Tagebücher und Briefe des hohen Parteifunktionärs Emel'jan Jaroslavskij konzentrieren, diese aber auch mit anderen Selbstzeugnissen aus der Stalinzeit in Beziehung setzen. Ja-roslavskij gehörte zur Entourage Stalins und ist insbesondere deshalb ein bemerkenswertes Beispiel für das Thema des vorliegenden Sammelbands, weil er als einer der profiliertesten Ideologen, Propagandisten und Produ-zenten des Stalinkults selbst an der Konstruktion der Utopie mitarbeitete, d.h. selbst ein, in Stalins Worten, 'Ingenieur der Seele' war. Am Beispiel seiner und anderer Selbstzeugnisse lässt sich zeigen, dass der Sozialistische Realismus mehr war als eine bestimmte Form der Literatur und der bil-denden Kunst, mehr als eine Form politischen Kitschs, mit dem eine skrupellose Machtclique die sowjetische Bevölkerung über ihre Gewaltexzesse hinwegtäuschen wollte. Ich glaube auch nicht, dass, wie Boris Groys meint, niemand die Kunst des Sozialistischen Realismus zum Zeitpunkt seiner Produktion gemocht hat, dass sie keinem real existierenden Geschmack und keiner Nachfrage entsprach. Im Gegenteil: Der Sozialistische Realismus war - im Rahmen seiner künstlerischen Mittel - nicht statisch, und er entsprach einer ästhetischen Sehnsucht bzw. einem rituellen Bedürfnis; er war sowohl ein Modus der Wahrnehmung als auch ein Instrument zur Selbstbeschreibung bzw. ein mentalitätsgeschichtlicher Zustand.

Sozialistischer Realismus versus realistischer Sozialismus

Emel'jan Jaroslavskij nutzte sein Tagebuch, das für die Jahre 1934 bis 1937 überliefert ist, unter anderem dazu, um seine Eindrücke vom 'sozialistischen Aufbau' zu dokumentieren und um sich selbst während dieses Transformationsprozesses zu beobachten. Ich möchte nun einige Aufzeichnungen aus diesem Tagebuch vorstellen, die im November und Dezember 1934 während seines Erholungsurlaubs am Schwarzen Meer entstanden sind. Am Hafen von Suchumi, den Jaroslavskij und seine Begleiter eigens zu dem Zweck aufgesucht hatten, um die Erfolge des 'sozialistischen Aufbaus', nämlich eine neugebaute Straße, zu begutachten, stießen sie stattdessen auf Elend und Unordnung, auf verwahrloste und obdachlose Menschen. Konfrontiert mit diesem Anblick, notierte Jaroslavskij in sein Tagebuch:

'Wir sind an den Hafen gegangen um nachzusehen, wie man dort die neue Straße baut. Es bietet sich ein abstoßendes Bild (kartina): Sie haben einen jämmerlichen ?Warteraum? für die Passagiere gebaut. Aber da sitzt nur eine Reisende. Dafür haben sich vor diesem ?Warteraum? direkt auf der Straße an allen Ecken in all ihrem Schmutz und in ihrer ganzen Erbärmlichkeit Kinder niedergelassen, und man lässt sie nicht rein. Sie sind immer noch sehr zahlreich, da liegen ungefähr hundert Menschen bei den verfallenen Buden auf der nackten Erde. Man sagt, das sind Zugvögel, Gewohnheitskriminelle und Prostituierte. Aber kann man denn diese Wanderung (otchod) nicht endlich beenden? Mir scheint, dass wir darauf noch nicht genug Aufmerksamkeit verwendet haben. In fünf Jahren wird es so etwas nicht mehr geben. Aber bis dahin kann man das nicht einfach ignorieren. Aber hier ignorieren das viele und beruhigen sich damit, dass vor zwei Jahren da noch mehrere hundert Leute lagen, mehr als tausend. Wir waren im Erholungsheim ?Or[d?onikid]ze?. Das Haus ist mit viel Geschmack gestaltet. Aber unten, am Strand hinter dem Haus liegt ein großer Müllhaufen. Sie haben noch nicht gelernt, was wirkliche Sauberkeit, wirkliche Kultur bedeutet!'

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