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E-Book

Helmut Schmidt

Ein Jahrhundertleben

AutorMartin Rupps
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl496 Seiten
ISBN9783451803871
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Helmut Schmidt zählt zu den bedeutendsten Kanzlern der Bundesrepublik Deutschland. Für viele verkörperte er den Idealtyp des deutschen Regierungschefs: Erster Diener des Staates, unbestechlich in seiner Urteilsbildung, weltmännisch handelnd und von festen moralischen Überzeugungen getragen. Martin Rupps zeichnet das Leben des Alt-Bundeskanzlers, ZEIT-Herausgebers und bedeutenden Elder Statesman nach: Seine Erfolge, seine Niederlagen, seine persönlichsten Herausforderungen. Die Bilanz eines Lebens und die Würdigung eines der beliebtesten deutschen Politiker der Nachkriegsgeschichte.

Martin Rupps, Dr., Politikwissenschaftler und Historiker, ist Leiter der ARD Koordination 3sat. Von ihm erschienen u. a. »Troika wider Willen. Wie Wehner, Brandt und Schmidt die Republik regierten« (Berlin 2004) sowie jüngst »Wir Babyboomer« (Herder 2008).

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Leseprobe

Aussöhnung nach 36 Jahren


Stuttgart, 26. April 2013. Dem früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt wird der Hanns Martin Schleyer-Preis des Jahres 2012 verliehen. Der Preis trägt den Namen des im Herbst 1977 von Terroristen der Roten Armee Fraktion entführten und später ermordeten Präsidenten der Arbeitgeberverbände und würdigt Menschen wegen ihrer »Verdienste um die Festigung und Förderung der Grundlagen eines freiheitlichen Gemeinwesens«. Hanns Martin Schleyer-Preise werden von der Hanns Martin Schleyer-Stiftung seit 1985 alle zwei Jahre verliehen. Frühere Preisträger aus der Politik waren Karl Carstens, Klaus von Dohnanyi und Helmut Kohl.

Dieses Mal ausgerechnet Helmut Schmidt – jener Politiker, in dessen persönlicher Entscheidung und Verantwortung das Handeln der Bundesregierung im Fall Schleyer und in dessen Händen damit vermeintlich das Schicksal des Mannes lag. Schleyer selbst drängte in bewegenden Videobotschaften immer wieder auf eine Entscheidung, wirkte mit jeder neuen Entführungswoche verzweifelter. Doch der Kanzler hatte sich und das politische Bonn auf eine Verzögerungstaktik eingeschworen. Die Politik musste Zeit gewinnen, damit die größte Fahndungsaktion in der deutschen Nachkriegsgeschichte Erfolg haben könnte.

Helmut Schmidt war in jenem »Deutschen Herbst«, als der diese Zeit in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eingehen wird, Bundeskanzler und Vorsitzender der politischen Krisenstäbe. Als er die Nachricht von Schleyers Entführung erhält, weiß er rasch, dass er die Forderungen der Entführer nicht erfüllen, dass er hart bleiben wird – für dieses Mal hart bleiben wird. Zweieinhalb Jahre zuvor hatte er, krank und geschwächt von 40 Grad Fieber, der Freilassung von Terroristen zugestimmt, im Austausch gegen den entführten CDU-Politiker Peter Lorenz. Die freigepressten Terroristen hatten nachweislich wieder Straftaten begangen. Noch einmal würde, so war sich Helmut Schmidt seit dem Fall Lorenz sicher, eine von ihm geführte Bundesregierung nicht mehr in die Knie gehen. »Das hat man euch natürlich nicht erzählen wollen«, so Helmut Schmidt über die Kommunikationsstrategie gegenüber der Familie in einem Gespräch mit Hanns-Eberhard Schleyer, das im Juli 2013 im Magazin der Süddeutschen Zeitung erscheint.

»Der Staat muss darauf mit aller Härte antworten«, sagt Helmut Schmidt schon vier Stunden nach den Morden an Schleyers Begleitern und der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten in einer Fernsehansprache. Schmidts Ausdruck ist dabei tief ernst und entschlossen. Die meisten Deutschen finden diesen Ausdruck angemessen. Auf wenige wirkt er hartherzig, ja kalt. Bei seiner Haltung wird Helmut Schmidt bleiben.

Die Familie von Hanns Martin Schleyer, seine Ehefrau Waltrude und die vier Söhne Hanns-Eberhard (33), Arnd (28), Dirk (25) und Jörg (23) führen einen verzweifelten, einsamen Kampf. Zu ihrem Sprecher wird Hanns-Eberhard, Jurist, noch jung im Beruf, ein persönlich beherrschter, besonnener Mann. Mit Hilfe der BILD-Zeitung bringt die Familie ihre Forderung an die Öffentlichkeit, die Bundesregierung möge alles tun, um das Leben des Vaters zu retten. Hanns-Eberhard Schleyer verhandelt direkt mit den Entführern. »Wir töten Ihren Vater!«, sagen sie zu ihm am Telefon. Zweimal versucht er Geld zu übergeben, was von der Bundesregierung jeweils durchkreuzt wird. Helmut Schmidt schickt Justizminister Hans-Jochen Vogel zu Waltrude Schleyer, um ihr namens der Bundesregierung die Botschaft zu bringen: Der Staat darf nicht nachgeben. (Was so viel heißt wie: Der Staat wird nicht nachgeben.) Und Vogel, der in diesen Tagen zum Glauben zurückfindet, ergänzt ganz persönlich: Bitten Sie Gott um Hilfe. Doch die Familie will sich nicht allein auf Gott verlassen und ruft das Bundesverfassungsgericht an, vergeblich. Das Gericht stellt der Bundesregierung die Entscheidung im Fall Schleyer anheim.

Es werden qualvolle Wochen für Hanns Martin Schleyer und seine Familie, auch bedrückende für die deutsche Öffentlichkeit, die am Schicksal dieses Mannes ohnmächtig Anteil nimmt. Als palästinensische Terroristen die Lufthansa-Maschine »Landshut«, die überwiegend deutsche Urlauber von Palma de Mallorca nach Frankfurt fliegen soll, in ihre Gewalt bringen, um die Forderung der Schleyer-Entführer zu unterstützen, schöpft die Familie wieder Hoffnung, weil sie nicht glaubt, dass die Bundesregierung das Leben von Passagieren und Besatzung aufs Spiel setzen wird. Hanns-Eberhard Schleyer hofft auf einen Trick der Bundesregierung, mit dem alle Ziele – die Befreiung seines Vaters und der »Landshut«-Geiseln, die Wahrung der inneren Sicherheit – erreicht würden: Die Terroristen kommen zum Schein frei; nachdem auch alle Geiseln frei sind, werden die Terroristen wieder verhaftet. Aber diese Handlungsvariante bleibt im Bonner Krisenstab ein Gedankenspiel, sie wird nie zur ernsthaft erwogenen Option. Offenbar überwiegt die Sorge, dass eine solch komplexe, riskante Aktion scheitern könnte.

Als sich die »Landshut« in der Gewalt der Entführer befindet, spitzt sich die Lage dramatisch zu. Eine über 100 Stunden dauernde Odyssee endet am Horn von Afrika, in der somalischen Hauptstadt Mogadischu. Schmidt sieht sich vor die Wahl gestellt, die Menschen in der Maschine oder Hanns Martin Schleyer zu retten. »Von dem Augenblick an, als das Flugzeug entführt worden war, waren die 87 Personen an Bord wichtiger als die eine Person«, wird Helmut Schmidt im Juli 2013 sagen. Er entscheidet, die »Landshut« von einer deutschen Spezialeinheit stürmen zu lassen. Die Geiseln, mit Ausnahme des Piloten Jürgen Schumann, der von den Terroristen bereits auf dem Flughafen von Aden erschossen worden war, kommen mit allenfalls leichten Verletzungen frei. Welch ein Wunder! Zugleich ist es das wahrscheinliche Todesurteil für Hanns Martin Schleyer. Darüber macht sich auch die Familie keine Illusionen. Sie muss glauben, dass die Bundesregierung den Ehemann und Vater aufgegeben hat. Am nächsten Tag wird die Leiche des Arbeitgeberpräsidenten gefunden. Die Familie, besonders Waltrude Schleyer, macht Helmut Schmidt persönlich für den Tod des Ehemanns und Vaters verantwortlich. Hätte er einen Austausch gegen die inhaftierten Terroristen angeordnet, wäre Hanns Martin Schleyer freigekommen. Waltrude Schleyer verhindert, dass der Bundeskanzler bei der Trauerfeier für Hanns Martin Schleyer spricht. »Wir wissen, wir sind in Hanns Martin Schleyers Schuld«, sagt stattdessen Bundespräsident Walter Scheel. Helmut Schmidt sitzt tief gebeugt neben Schleyers Witwe. Zuvor hatte er ihr kondoliert, aber dabei nicht in ihre Augen, sondern zu Boden geblickt.

Auch Helmut Schmidt wird in Reden immer wieder bekennen, am Tod von Hanns Martin Schleyer eine Mitschuld empfunden zu haben. Das nötigt der Familie Respekt ab, »ein Trost war es nicht«, so Hanns-Eberhard Schleyer im Magazin der Süddeutschen Zeitung vom Juli 2013.

Ein Jahr später sehen sich Hanns-Eberhard Schleyer und Helmut Schmidt wieder. Als Helmut Schmidt erfährt, dass Hanns-Eberhard Schleyer zur selben Veranstaltung kommt, bittet er ihn, an seinem Tisch Platz zu nehmen. Doch zwischen den beiden Männern kommt so recht kein Gespräch in Gang. »Helmut Schmidt hat sehr wenig gesagt. Er war gehemmt. Vielleicht gab es damals einfach noch nichts zu sagen«, so Hanns-Eberhard Schleyer über diese Begegnung. Weitere Begegnungen folgen, aber eine Annäherung in der Sache bleibt offenbar aus. Er habe Helmut Schmidt deutlich gemacht, »dass es eine Position der Familie gibt«, sagt Hanns-Eberhard Schleyer in einem Fernsehgespräch mit Peter Voß im Oktober 2012.

Waltrude Schleyer und die vier Kinder müssen mit dem Trauma leben lernen. Die Ereignisse der Herbsttage 1977 werden auch die politischen Entscheider weiter verfolgen. Sie lässt die Frage, ob sie richtig entschieden und gehandelt haben, nicht mehr los. Helmut Schmidt rechtfertigt sich immer wieder (er würde das Wort »rechtfertigen« zurückweisen mit dem Hinweis, er sei ja nicht angeklagt; er würde von einer Erläuterung sprechen), er rechtfertigt sich noch in dem späten Buch »Außer Dienst«, das er 2008 als fast 90-Jähriger veröffentlicht.

Waltrude Schleyer wird zur prominentesten Vertreterin der immer wieder geäußerten These, Hanns Martin Schleyer sei für die Staatsräson geopfert worden, sozusagen ein Menschenopfer für die Demonstration eines starken Staates. »Ich muss das zwar akzeptieren«, sagt Waltrude Schleyer im Jahr 1978, »aber verstehen kann ich es nicht. Wie kann man nur einen unschuldigen Menschen opfern, um stark sein zu wollen?« Es dauert zehn Jahre, bis Waltrude Schleyer erstmals Worte des Verständnisses für Helmut Schmidt findet: Sie habe seinerzeit bei ihm eine »furchtbare Last der Verantwortung« und »echte Trauer gespürt«. »Die Terroristen haben damals gemerkt, dass der Staat nicht erpressbar ist. Das würde vielleicht als einziger Sinn ein solches Opfer rechtfertigen.« Waltrude Schleyer sagt: vielleicht. Gegen Ende ihres Lebens, die Ermordung ihres Mannes jährt sich zum 30. Mal, verhärtet sich ihre Position wieder. Mit der Überzeugung, dass der Staat seinerzeit versagt habe, stirbt Waltrude Schleyer im März 2008 92-jährig in Stuttgart. Im selben Jahr sagt auch Hanns-Eberhard Schleyer noch: »Man hat uns im Grunde genommen hängen und in Ungewissheit bangen und hoffen lassen. Letzteres ist vielleicht das Schlimmste gewesen.«

Erst nach dem Tod der Mutter ist der Weg frei, dass die Familie in neuer, versöhnlicher, weil verzeihender Weise dem Entscheider von damals begegnet. Hanns-Eberhard Schleyer, der für die Familie schon 1977 die Zügel in die Hand nahm, ergreift die Initiative. Eine Rolle mag spielen, dass Helmut Schmidt sehr alt...

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