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E-Book

Herr Parkinson

AutorRichard Wagner
VerlagKnaus
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783641157272
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Richard Wagners radikale Auseinandersetzung mit seiner Erkrankung
Wie lebt man mit einer Krankheit, die selbst die alltäglichsten Dinge sabotiert? Wie leben die anderen damit? Was bedeutet Krankheit überhaupt? Mit dem unbestechlichen Blick des Schriftstellers erzählt Richard Wagner von seiner Parkinson-Erkrankung. Zunächst ganz zurückhaltend wird dieser gelassene und unberechenbare Herr Parkinson über die Jahre zum schicksalhaften Gegenüber des Autors und erlangt immer mehr Macht über dessen Leben.

Richard Wagner (1952-2023), geboren im rumänischen Banat, arbeitete dort als Journalist und veröffentlichte Lyrik und Prosa in deutscher Sprache. Nach Arbeits- und Publikationsverbot verließ er Rumänien 1987 und lebte bis zu seinem Tod im März 2023 als freier Schriftsteller in Berlin. Seine Romane und Essays wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Zuletzt erschien »Herr Parkinson« (2015).

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Leseprobe

Im Grunde war es mein rechtes Bein, das mich ins Unglück gestürzt hat. Ohne dieses Bein wäre mein Leben anders verlaufen. Ich hätte einen Hut getragen, wenn mein rechtes Bein mir nicht ständig an die Krempe getippt hätte. Ich hätte den Frauen tief in die Augen sehen können, wenn das Bein sich nicht sofort auf ihre tausend Füße gestellt hätte.

Ich befand mich mitten im Leben und dachte mir Erklärungen für den Zustand der Welt aus. Damit war viel Zeit zu verbringen, denn mit dem Zustand der Welt stand es schlecht. Nun war ich zwar weder ein Weltverbesserer noch ein Weltretter, aber auch das bloße Zuschauen war nicht meine Sache.

So wurde ich nach und nach in diverse Angelegenheiten geworfen, und hatte bald einen Fuß auf der Brust stehen, einen unerbittlichen Fuß, und eine schnelle Hand am Kopf.

Das meiste von dem, was ich sah und hörte, hatte immer noch Hand und Fuß, und hätte auch so bleiben können.

Manchmal aber stand ich sekundenlang wie angewurzelt da, bis ich zur Tür gehen konnte. Oder es setzte urplötzlich ein Herzrasen ein, das nicht mehr aufzuhören schien. Auch später auf der Parkbank nicht, auf die ich mich während des abendlichen Spaziergangs gesetzt hatte.

Als ich wieder aufstand, war es bereits ein Gehversuch.

Und dann war da noch das Problem mit dem Bein.

Zu meiner Hausärztin ging ich erst, als das rechte Bein zu zittern begann, und als sich dieses Zittern nicht mehr verbergen ließ.

Als ich im Konzertsaal im Französischen Dom, ohne es zu wissen, den Takt schlug, mit dem Absatz aufs Parkett, und dabei dem Dirigenten ins Gehege kam, und die Musikliebhaber wie die Musiknarren sich mit strafendem Blick nach mir umdrehten wie nach einem Delinquenten, einem Versager und Doppeldelinquenten, der sich nicht nur erdreistete, den Taktstock, den Dirigentenstab, zu ignorieren, sondern die gesamte Moderne, die mühsam erworbene.

Diese in Donaueschingen, in Darmstadt und Frankfurt am Main erfolgten Umerziehungen, die unser heutiges Musikverständnis geprägt haben, waren nun plötzlich durch meine Einmischung ins allgemeine Taktschlagen, und das durch nichts als das Bein, banalisiert und beschämt.

An dem betreffenden Abend ging es schließlich um Boulez. Es war mein letzter Konzertbesuch.

Ich ging also zu meiner Hausärztin, und wir führten einen Gesundheitscheck durch, den die Kasse damals noch bezahlte, und dann ging ich nochmals zu meiner Hausärztin, und wir werteten den Check aus. Herz und Nieren, und Lungen und Leber und Milz, alles war so weit in Ordnung, und meine Hausärztin erklärte mich für generell gesund.

Ich aber kam ein weiteres Mal auf das Bein zurück, und sie, die gerne das Homöopathische hervorkehrte, und auch jetzt, zumindest in Gedanken, den Tee ziehen ließ, antwortete mit einer Gegenfrage: Ja, wollen Sie zum Neurologen gehen?

Es hörte sich wie eine Entrüstung an, ich aber sagte trotzdem Ja, und das Vorzimmer schob mir die Überweisung über das Pult. Ich wusste noch nicht, dass ein so lächerlicher roter Vordruck von nun an zu meinem ständigen Begleiter werden würde.

Ich war wie ein Passagier auf dem Kreuzfahrtschiff, der für alles, was er auf der Reise brauchen konnte, einen Gutschein besaß. Der Unterschied bestand darin, dass mein Überweisungsschein bestenfalls Rettung versprach und der Gutschein des Reisenden Glück.

Meine Hausärztin hatte ihre Praxis in einem Schöneberger Altbau, im ehemaligen Westberlin, in dem noch die Kachelöfen standen, in alter Pracht, aber ungenutzt. Die Geräte in der Praxis waren, wie es sich für eine Alternativmedizinerin gehörte, hochbetagt, aber funktionstüchtig.

Es handelte sich um eine Gebrauchtgerätepraxis, um einen stummen Protest gegen die Wegwerfmedizin. Am liebsten hätte sie wahrscheinlich auch noch den Praxisabfall getrennt.

Ich bin ihr später, nach Jahren, in der Umgebung der Arztpraxis begegnet.

Ich ging auf sie zu, und sie blickte an mir vorbei. Ich blieb trotzdem vor ihr stehen und sagte: Ich war einmal Ihr Patient, und wäre es heute noch, aber dann bin ich krank geworden.

Es war das Bein, sagte ich und sie wurde nachdenklich. Man sah es ihrem Gesicht an. Es wurde zum Mienenspiel. Plötzlich sah sie besorgt aus, fast schon sorgenvoll, obwohl das, was ich mitzuteilen hatte, für sie nichts weiter als eine alte Geschichte war, eine banale Arztbriefgeschichte, und es auch bleiben konnte.

Auch der Neurologe, zu dem sie mich schickte, saß in einem Altbau, gleich um die Ecke.

Seine Geräte waren relativ neu, er selbst aber ging gebückt und blickte im Sitzen zwischen den Schultern hoch, wie ein alter Mann.

Er ließ mich sitzen und liegen und gehen und stehen, und tänzelte um mich herum, als wollte er meinen Rhythmus finden, als müsste er so die Tonlage treffen, in der ich mich in Gedanken davonmachen hätte können, ohne Ende und Ausgang der Konsultation abzuwarten.

Er sagte: CT. Gleich um die Ecke, sagte er. Mitbringen.

Als ich ihm zwei Tage später wieder gegenübersaß und sein Blick über das Röntgenblatt glitt wie der Blick eines Geografen über die Landkarte, und er das Blatt sorgfältig auf den Tisch zurücklegte, sagte er: Also doch Parkinson.

Er sah mich prüfend an und fragte: Schon mal in der Familie gehabt? Sein Blick wurde gütig.

Wenn er schon mal in der Familie gewesen sei, wäre es nicht so schlimm.

Er schreitet dann langsamer voran, sagte der Neurologe. Mein erster.

Die Broschüren, die ich aus der Praxis des Neurologen mitgenommen habe, hast du gelesen, nicht ich. Du hast dich von Anfang an um mich gekümmert, mich vor dem Schlimmsten bewahrt, und so hast du auch diese himmelblau eingefärbten Hefte sachlich ausgewertet, ohne auch nur einen einzigen Blick auf die Purzelbaum schlagenden Rentnerpaare, die den Umschlag zierten, zu verschwenden.

Ich wäre über diese Umschlagbebilderung nicht hinausgekommen. Ich hätte ständig diese gefälschten lustigen Alten vor Augen, angesichts derer man den Eindruck haben konnte, dass erst die Parkinson-Diagnose die gute Stimmung möglich machte, in die sie offenbar geraten waren.

Im Jahr 1817, höre ich deine Stimme sagen, veröffentlichte der britische Arzt James Parkinson seine Monografie »An Essay on the Shaking Palsy« (Eine Abhandlung über die Schüttellähmung). Es ist und es bleibt bis heute die grundlegende Beschreibung der Krankheit.

»Involuntary tremolous motion, with lessened muscular power, in parts not in action and even when supported; with a propensity to bend the trunk forwards, and to pass from a walking to a running pace: the senses and intellects being uninjured.«

»Unwillkürliche, zittrige Bewegung mit herabgesetzter Muskelkraft in untätigen Gliedern, sogar wenn gestützt; Neigung, den Rumpf vorzubeugen und aus dem Gehen in einen Laufschritt zu verfallen. Sinne und Intellekt bleiben unbeeinträchtigt.«

An seinen Erkenntnissen hat seither kaum jemand gerüttelt. Stattdessen wurde aus der Titulatur, der monografischen wie der realen, das Wort Schüttellähmung entfernt und durch den Namen des prominenten und gleichermaßen umtriebigen Londoner Arztes James Parkinson ersetzt. Er wurde damit für seine medizinischen Gesamtverdienste geehrt und die Krankheit aus dem Gehege der Lächerlichkeit gehoben, in das der Begriff der Schüttellähmung sie versetzt hatte.

So konnte der Namensgeber Parkinson zum diplomatischen Fürsprecher des einschlägigen Patienten werden. Dieser verharrte nun nicht mehr beim heillosen Versuch, das »shaking palsy«, also die Schüttellähmung, zu verbergen, er war jetzt Träger des Morbus Parkinson.

Es war Édouard Brissaud, ein französischer Arzt, der in einer Vorlesung 1895 als Erster die Bezeichnung »maladie de Parkinson« verwendete. Er war es auch, der auf die Rolle der substantia nigra verwies, der »schwarzen Substanz« des Gehirns. Ihre Nervenzellen sorgen für die ausreichende Produktion des Botenstoffs Dopamin, der wiederum die Motorik ausgleicht.

Dieser Vorgang aber konnte erst 1919, in der Doktorarbeit eines jungen Mediziners namens Konstantin Tretiakoff bestätigt werden.

Schüttellähmung sagt im Übrigen medizinisch gar nichts aus. Das Wort ist bloß für den Betrachter anschaulich. Und inzwischen ist ein krachledernes Wort wie Schüttellähmung längst aufgegeben, jetzt heißt es, im ähnlichen Fall, beschwichtigend Restless-Legs-Syndrom, kurz RLS.

Das Syndrom der ruhelosen Beine. Als ginge es bloß um die Beine, und nicht auch um den Kopf, der angeblich alles kontrolliert, aber kaum etwas unter Kontrolle hat. Fest steht, dass das Hirn um einiges größer ist, als für die menschliche Aufklärungstätigkeit nötig wäre. Was aber in diesen überschüssigen Territorien passiert, weiß bis heute kein Neurologe zu sagen.

Den Namensgeber der Maladie, der historische James Parkinson, hätte das alles nur wenig amüsiert, wie es heißt. Er pflegte das soziale Engagement und schrieb einschlägige Aufsätze unter dem Namen »old Hub«.

Das Bein zitterte, es wurde regelmäßig laut. Und wenn ich beim Sprechen oder beim Vorlesen außer Atem kam, war es das Bein, dass mich aus dem Takt brachte, nicht immer, und nicht immer aus dem gleichen Anlass, aber es war das Bein, und viel mehr ließe sich darüber auch nicht sagen.

Ich wusste über die Krankheit, wie die meisten Menschen außer dir, meine Liebe, so gut wie nichts. Ich wusste, wie die meisten, nicht viel mehr als ihren Namen. Wie man Namen weiß, Namen und sonst nichts, und deshalb...

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