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Hitlers Menschenhändler

Das Schicksal der 'Austauschjuden'

AutorStefan Aust, Thomas Ammann
VerlagRotbuch Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl333 Seiten
ISBN9783867895743
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Zwei ungleiche Männer zwischen den Fronten des Holocaust Ein Jahr vor Kriegsende, als der Massenmord an den Juden seinen grausamen Höhepunkt erreicht, verhandelt SS-Obersturmbannführer Kurt Becher mit dem jüdischen Unterhändler Rudolf Kasztner über die Freilassung von ungarischen Juden - im Gegenzug sollen die Nazis Geld, Waffen und im Ausland internierte Deutsche erhalten. Ein perfides Spiel um Leben und Tod beginnt, bei dem es letztlich nach zahlreichen Rückschlägen gelingt, 1700 Menschenleben zu retten. In Hitlers Menschenhändler zeichnen Thomas Ammann und Stefan Aust ein weitgehend vergessenes Kapitel aus der Schreckensgeschichte des Holocaust nach. Ein bewegendes wie lehrreiches Zeitdokument.

Thomas Ammann, geboren 1956, war von 1983 bis 1992 Mitarbeiter des NDR Fernsehens, ab 1993 leitender Redakteur bei Spiegel TV. Seit 2008 ist er selbständiger Journalist und Autor sowie Redaktionsleiter und Autor der TV-Produktionsfirma Agenda Media. Stefan Aust, geboren 1946, war langjähriger Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Der Spiegel und ist Gründer von Spiegel TV. Er ist Geschäftsführer des Nachrichtensenders N24, zudem Autor zahlreicher Bücher, darunter das Standardwerk zur Geschichte der RAF Der Baader-Meinhof-Komplex.

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Leseprobe

2.


DER UMSCHLAGPLATZ DER
MENSCHENHÄNDLER


Als britische Soldaten das Konzentrationslager Bergen-Belsen am 15. April 1945 zum ersten Mal betraten, entdeckten sie den Vorhof der Hölle. Allein in den letzten Kriegsmonaten waren hier Zehntausende von Häftlingen an Auszehrung und Seuchen wie dem Fleckfieber gestorben. Auch Häftlinge, die bis zuletzt darauf gehofft hatten, ausgetauscht zu werden. Niemand hatte sich mehr die Mühe gemacht, die Leichen wegzuräumen oder gar zu bestatten. Etwa 60 000 Überlebende fanden die Befreier auf dem Gelände des Lagers am Rande der Lüneburger Heide vor, die allermeisten in erbärmlichem Zustand. Eine Evakuierung der Gefangenen, wie sie in anderen Konzentrationslagern von der SS angeordnet worden war, war wegen der Fleckfieberepidemie nicht mehr möglich gewesen. »Kein Bericht und keine Fotografie kann den grauenhaften Anblick des Lagergeländes hinreichend wiedergeben«, vermerkte damals der britische Militärarzt Glyn Hughes, »an zahlreichen Stellen waren die Leichen zu Stapeln von unterschiedlicher Höhe aufgeschichtet … Überall im Lager lagen verwesende menschliche Körper.«

Mit den Truppen kamen auch Kameramänner, die den Vormarsch der Briten im Deutschen Reich – oder dem, was davon noch übrig war – festhielten. Als die Lkw-Kolonne der Briten durch die Zufahrtstraße zum Lager fuhr, wurde sie zunächst von weiblichen Häftlingen mit Applaus empfangen. Eine Frau saß am Boden und küsste heftig schluchzend die Hand eines Befreiers. Ausgemergelte Jugendliche löffelten Suppe aus einem Blechnapf. Sie blickten auf, als sie die Kamera bemerkten.

Die britischen Kameramänner hielten das Grauen in ihren stummen Schwarzweiß-Bildern fest. Man sieht Berge von Leichen, kaum lassen sich die einzelnen Toten in dieser Masse ausmachen. In grotesk wirkenden Verrenkungen liegen sie zusammen, abgemagert bis aufs Skelett. Schwere Bagger räumen die Leichenberge beiseite, als wären sie Bauschutt. SS-Mannschaften müssen unter britischem Kommando Massengräber ausheben, achtlos werfen deutsche KZ-Aufseherinnen die Leichen in die Gruben. Und inmitten der Apokalypse zeigt die Kamera Überlebende, die von dem Geschehen um sie herum keine Notiz nehmen, als wären sie blind oder taub. Sie liegen auf dem nackten Boden oder schleppen sich wie in Zeitlupe vorwärts. Großaufnahmen zeigen völlig ausgezehrte Gesichter, stumpfe Augen, die den Blick längst nach innen gewendet haben. Teilnahmslos oder ungläubig starren die Überlebenden in die Filmobjektive ihrer Retter. Viele der Befreiten starben noch in den Wochen nach der Befreiung.

Der britische Militärarzt Hughes, der später die Rettungsmaßnahmen leitete, mag Recht haben: Nichts vermag das Grauen auch nur annähernd wiederzugeben, das in Bergen-Belsen herrschte, und dennoch sind diese Aufnahmen der britischen Armee von unschätzbarer Bedeutung. Sie waren, wie die Bilder der sowjetischen Kameramänner im befreiten Konzentrationslager Auschwitz, die ersten unwiderlegbaren Zeugnisse eines bis dahin undenkbaren Verbrechens. Für alle Zeiten auf Film gebannte Beweise für den Völkermord, der im Zeichen des Rassenwahns im Nazi-Reich geschah. Während des Krieges hatte es nur wenige Berichte von entflohenen Häftlingen gegeben, die so unvorstellbar klangen, dass sie selbst von Kriegsgegnern der Deutschen zuweilen angezweifelt wurden. Aufgrund dieser Bilder wurde Bergen-Belsen zum Symbol für das Grauen des Holocaust, seit 1945, wie auch Auschwitz, ein Synonym für den Massenmord der Nazis an den Juden.

In den überfüllten Baracken fanden die britischen Soldaten noch Tausende von Gefangenen »in allen Stadien der Auszehrung und Krankheit«, wie Militärarzt Hughes notierte. Dass sie auch den Schauplatz eines grausamen Spiels um Geld und Leben entdeckt hatten, wussten die Befreier zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Bergen-Belsen war der Handelsplatz, den die Nazis für ihre »Austauschjuden« eingerichtet hatten. Im Frühjahr 1943 war in einem nicht mehr genutzten Bereich des Kriegsgefangenenlagers ein »Sonderlager« für Juden geschaffen worden, die zunächst von der Deportation in die Vernichtungslager ausgenommen werden sollten. Das »Aufenthaltslager« war von Anfang an der Konzentrationslagerverwaltung unterstellt, es nahm allerdings eine gewisse Sonderstellung innerhalb des Konzentrationslagersystems ein: Während die Zahl der ermordeten Juden bereits in die Millionen ging, sollten in Bergen-Belsen zunächst einige tausend Juden konzentriert werden, um »jederzeit über diese Personen bei einem evtl. Austausch verfügen zu können«, wie es die Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes ausdrückte. »Das Austauschlager hatte überhaupt nichts mit humanitären Erwägungen zu tun«, sagt Thomas Rahe, der historische Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen, »die Einrichtung war rein pragmatisch bedingt, auch die Auswahl der Häftlinge. Man versprach sich einen besonderen Nutzen davon. Bergen-Belsen war die große Ausnahme von der Regel. Die Regel hieß Massenmord.«

Hierher, ins sogenannte »Sternlager« (wegen des gelben Davidsterns, den die Gefangenen tragen mussten), verschleppten die Nazis ihre jüdischen Geiseln aus ganz Europa, vor allem polnische und holländische Juden mit Einreisezertifikaten für Palästina sowie mit lateinamerikanischen Pässen; nur wenige dieser Häftlinge allerdings wurden tatsächlich ausgetauscht – gegen Devisen, Waffen oder sogenannte »Reichsdeutsche« im Ausland, die Himmler »heim ins Reich« holen wollte.

Davon abgetrennt war das »Ungarnlager«, in dem seit Juli 1944 auch die 1684 ungarischen Juden gefangen gehalten wurden, die Eichmann nach den Verhandlungen mit Rudolf Kasztner und Joel Brand aus Budapest ausreisen ließ. Am 7. Dezember 1944 trafen weitere 2200 ungarische Juden aus dem Arbeitslager Strasshof bei Wien ein, die wegen ihrer »bevorzugten Stellung« nicht nach Auschwitz transportiert werden sollten.

In den Jahren 1943 und 1944 wurden so insgesamt etwa 14 700 jüdische Häftlinge, die Ausweispapiere besaßen oder über Verbindungen zum »feindlichen Ausland« verfügten, die die SS und das Auswärtige Amt für sich nutzbar machen wollten, in das von den Nazis sogenannte »Aufenthaltslager« Bergen-Belsen verschleppt. Dort sollten die Häftlinge so lange bleiben, bis sich herausgestellt hatte, ob für ihre Freilassung eine Gegenleistung erzielt werden konnte. Neben dem »Sternlager« und dem »Ungarnlager« standen noch das »Neutralenlager« für Juden aus neutralen Staaten und das »Sonderlager« für die aus Polen deportierten Juden zur Aufnahme bereit. »Das Besondere von Bergen-Belsen war«, berichtet Michael Gelber, der im Januar 1944 ins Lager kam, »dass es ein ›Sonderlager‹ war, ein ›Bevorzugtenlager‹, wo man nicht ermordet wurde – jedenfalls haben wir das anfänglich gehofft. Viele sind dennoch krepiert, man ging kaputt, da war Hunger, da war Typhus. Aber die meisten der anderen Lager – Sobibor, Auschwitz, Buchenwald, Treblinka – waren Vernichtungslager, Bergen-Belsen war kein Vernichtungslager.«

Von allen jüdischen Häftlingen in Bergen-Belsen kamen etwa 2550 durch Austausch frei, knapp zwei Drittel davon machten die Angehörigen der »Kasztner-Gruppe« aus. Etwa 2150 Häftlinge aber, deren Nachweise für die Staatsangehörigkeit von den entsprechenden Staaten nicht anerkannt wurden und die damit für Austauschzwecke »nutzlos« geworden waren, wurden 1943 und 1944 von Bergen-Belsen nach Auschwitz deportiert, wo sie ermordet wurden. »Die SS ging auch im Fall der ›Austauschjuden‹ über Leichen. Da herrschten Zynismus und Pragmatismus«, sagt Thomas Rahe, »Zynismus insoweit, weil man sich sagte: ›Nach Auschwitz können wir die immer noch verlegen.‹ Und Pragmatismus, weil die SS den Wert der Häftlingspapiere in Ruhe daraufhin prüfen wollte, ob bei möglichen Austauschaktionen eine entsprechende Gegenleistung zu erwarten ist.«

So befanden sich die Häftlinge in Bergen-Belsen ständig zwischen der Hoffnung auf Freilassung und der Furcht vor der Ermordung in einem der Vernichtungslager. »Wir stehen außerhalb der Zeit, außerhalb des Lebens, außerhalb des Raumes«, notierte der Amsterdamer Rechtsanwalt Abel J. Herzberg, einer der Häftlinge im »Sternlager«. »Jeder Mensch ist – solange er in der Gesellschaft lebt – in seiner Weise ein kleines Rädchen im großen Triebwerk der menschlichen Gemeinschaft. Er empfängt Anstöße und gibt die Bewegung weiter. Und sei seine Rolle auch noch so bescheiden, durch sein Dasein treibt er das Ganze ein klein wenig mit. Aber wir? Wir sind gar nichts mehr. Wir sind aus dem Ganzen ausgeschlossen, wir empfangen nichts und geben nichts. Kein Einfluß wirkt von außen her auf uns ein, keine Wirkung geht von uns aus. Es existiert nur der Wille, uns zu vernichten.«

Hoffnung kam auf, als Anfang Juli 1944 erstmals 222 Gefangene aus Bergen-Belsen – im Austausch gegen...

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