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E-Book

Humanistische Ethik und Erziehung

AutorErich Fromm
VerlagEdition Erich Fromm
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl101 Seiten
ISBN9783959121422
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Der Band 'Humanistische Ethik und Erziehung' enthält so gut wie alle Publikationen, die Erich Fromm zu Fragen der speziellen Pädagogik verfasst hat. Dass sich Fromm selbst mit Fragen der Erziehung insgesamt wenig auseinandergesetzt hat, mag damit zu tun haben, dass er keine eigenen Kinder hatte. Das Interesse Fromms galt in erster Linie immer den gesellschaftlichen Entwicklungen und deren Auswirkungen auf die psychischen Strukturbildungen. Welche Bedeutung dies für die Erziehung hat, wurde von Fromm auch in zwei Beiträgen reflektiert, die er über Alexander Sutherland Neills Einrichtung 'Summerhill' schrieb. Darüber hinaus beschäftigte sich Fromm noch mit der Pädagogik von Father Wasson, einem amerikanischen Franziskaner, der in Mexiko sein erstes Waisenhaus gründete. Wie sehr Erziehung mit - im Frommschen Sinne - produktiven Erziehungszielen zu tun hat, wird in fast allen Beiträgen thematisiert, nicht zuletzt in dem 1959 entstandenen Beitrag 'Der kreative Mensch' und den Beiträgen zur Lebenskunst. Aus dem Inhalt • Die moralische Verantwortung des modernen Menschen • Psychologie und Werte • Der kreative Mensch • Freiheit in der Arbeitswelt • Zum Problem der Menschenrechte aus der Sicht des Klinikers • Psychologische Probleme des Alterns • Die psychologischen und geistigen Probleme des Überflusses • Vorwort in A. S. Neill 'Summerhill' • Pro und Contra Summerhill • Einleitung in I. Illich 'Almosen und Folter' • Father Wassons Prinzipien produktiver Erziehung • Der Wille zum Leben • Vita activa • Von der Kunst des Lebens

Erich Fromm, Psychoanalytiker, Sozialpsychologe und Autor zahlreicher aufsehenerregender Werke, wurde 1900 in Frankfurt am Main geboren. Der promovierte Soziologe und praktizierende Psychoanalytiker widmete sich zeitlebens der Frage, was Menschen ähnlich denken, fühlen und handeln lässt. Er verband soziologisches und psychologisches Denken. Anfang der Dreißiger Jahre war er mit seinen Theorien zum autoritären Charakter der wichtigste Ideengeber der sogenannten 'Frankfurter Schule' um Max Horkheimer. 1934 emigrierte Fromm in die USA. Dort hatte er verschiedene Professuren inne und wurde 1941 mit seinem Buch 'Die Furcht vor der Freiheit' weltbekannt. Von 1950 bis 1973 lebte und lehrte er in Mexiko, von wo aus er nicht nur das Buch 'Die Kunst des Liebens' schrieb, sondern auch das Buch 'Wege aus einer kranken Gesellschaft'. Immer stärker nahm der humanistische Denker Fromm auf die Politik der Vereinigten Staaten Einfluss und engagierte sich in der Friedensbewegung. Die letzten sieben Jahre seines Lebens verbrachte er in Locarno in der Schweiz. Dort entstand das Buch 'Haben oder Sein'. In ihm resümierte Fromm seine Erkenntnisse über die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Am 18. März 1980 ist Fromm in Locarno gestorben.

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Leseprobe

Die moralische Verantwortung des modernen Menschen


(The Moral Responsibility of Modern Man)

(1958d)[2]

Wenn ich über die moralische Verantwortung bzw. über das ethische Problem des modernen Menschen spreche[3], dann möchte ich von vornherein ein Missverständnis ausschließen: Das gegenwärtige intellektuelle Klima ist von einem Relativismus in der Ethik gekennzeichnet. Im allgemeinen wird die Auffassung vertreten, Werte besäßen nur deshalb Gültigkeit, weil sie innerhalb einer bestimmten Kultur von der Gesellschaft akzeptiert werden. Die Normen des Kopfjägers erfüllen ihren Zweck bei den Kopfjägern, und das Gesetz der Nächstenliebe erfüllt seinen Zweck bei den Kulturen, die diese Norm akzeptiert haben. Die meisten Sozialwissenschaftler vertreten den Standpunkt, dass Werte und Normen keine allgemeine, objektive, universale Gültigkeit besitzen. Wenn ich nun hier über das ethische Problem des modernen Menschen spreche, könnte das so klingen, als ob ich diese Einstellung teilte. Das ist aber keineswegs der Fall. Ich bin ganz im Gegenteil davon überzeugt, dass es gewisse Grundnormen und -werte für das Leben gibt, die vor Tausenden von Jahren von allen großen geistigen Führern der Menschheit mit einer bemerkenswerten Übereinstimmung erkannt wurden, obgleich diese untereinander keinen Kontakt hatten. Diese Werte besitzen für alle Menschen Gültigkeit und sind in der Natur des Menschen selbst, in den Bedingungen seiner Existenz begründet. Dies setzt natürlich die Annahme voraus, dass es so etwas wie den Menschen überhaupt gibt, nicht nur – wovon wir alle überzeugt sind – im physiologischen oder anatomischen Sinne, sondern auch im geistigen und psychologischen. Wir können also von einer Natur, von einem Wesen des Menschen als von einer definierbaren und nachweisbaren Größe sprechen.[4] Dies ist eine weitere Annahme, von der ich fürchte, dass sie nicht von den meisten heutigen Sozialwissenschaftlern geteilt wird.

Leider kann ich hier nicht im einzelnen ausführen, was ich unter der „Natur des Menschen“ verstehe. Da Worte ohne entsprechende Beispiele bedeutungslos bleiben, möchte ich dazu einige Beobachtungen anführen.

Der Mensch ist eine Laune der Natur. Er ist das einzige Lebewesen, das sich seiner selbst bewusst ist. Er ist das einzige Wesen, das innerhalb der Natur lebt und sie gleichzeitig transzendiert. Der Mensch ist sich seiner selbst, seiner Vergangenheit und seiner Zukunft bewusst. Der Mensch lebt nicht nur instinktiv, so wie es das Tier tut. [IX-320] Er ist weitgehend aus der Natur entwurzelt und steht vom Augenblick seiner Geburt an vor dem Problem, eine Frage zu beantworten, die das Leben ihm stellt: Was sollen wir aus unserem Leben machen? Wohin gehen wir? Welchen Sinn geben wir dem Leben? Soweit ich sehen kann, ist dies nur eine Frage, und es gibt nur wenige Antworten darauf. Diese Antworten sind in der Geschichte der Menschheit zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten wiederholt worden. Man hat sie bald in dieser, bald in jener Form in Begriffe gefasst, und nur wenige Antworten tauchen in der gleichen Form immer wieder auf. Man könnte sagen, die Geschichte der Religion und die Geschichte der Philosophie seien tatsächlich die Geschichte oder das System dieser wenigen möglichen Antworten. Aber wir alle müssen eine Antwort geben, und welches Leben wir führen, hängt ab von der Antwort, die wir geben.

Ich möchte an einem Beispiel verdeutlichen, was ich meine. Der Mensch muss zu seinen Mitmenschen und zur Natur in Beziehung treten. Der völlig beziehungslose Mensch ist wahnsinnig, ja man kann den Wahnsinn gerade so definieren, dass man sagt, er sei der Zustand eines völlig beziehungslosen Menschen. Die Bezogenheit auf andere Menschen kann nun aber ganz verschieden aussehen. Für sie können Unterwerfung, Machtausübung oder eine Marketing-Orientierung typisch sein. Bei der Marketing-Orientierung besteht die Bezogenheit aus einem ständigen Tausch, so wie man auf dem Markt Gebrauchswaren tauscht. Man kann aber auch zum anderen Menschen in liebender Weise bezogen sein. Diese Art ist angesichts der Natur des Menschen die einzig befriedigende Art, weil die Liebe die einzige Form der Bezogenheit ist, die gleichzeitig die Integrität und die Wirklichkeit der Beteiligten wahrt. Man kann auch „lieben“, indem man sich dem anderen unterwirft, oder indem man über ihn Macht ausübt; dann aber verlieren beide – derjenige, der sich dem anderen unterwirft, wie derjenige, unter dessen Macht er steht – ihre Integrität und die grundlegende menschliche Eigenschaft der Unabhängigkeit. Bei der echten Liebe bleiben Bezogenheit auf den anderen und Integrität erhalten.

Die vorstehenden Aussagen machen deutlich, dass das ethische Problem für den Menschen immer das Gleiche ist. Es gibt kein echtes ethisches Problem nur für ein bestimmtes Land oder nur für ein bestimmtes Alter. Es gibt besondere Verhältnisse, in denen Menschen leben und durch die sie sich unterscheiden, und deshalb ergeben sich unterschiedliche Aspekte ein und desselben ethischen Problems, die ich hier erörtern möchte.

Heute machen die meisten Menschen einen Fehler, den die Franzosen im Zweiten Weltkrieg machten, als die glaubten, ihn mit der Taktik und Strategie des Ersten Weltkriegs führen zu können: Die meisten Menschen schauen heute auf die ethischen Probleme der letzten Generation oder des vergangenen Jahrhunderts zurück, sie blicken auf die Laster und Sünden der Vergangenheit, um freudig feststellen zu können, dass wir diese Laster und Sünden überwunden haben. Gleichzeitig schließen sie daraus, dass wir unsere eigenen ethischen Probleme heute größtenteils gelöst hätten. In Wirklichkeit sehen wir uns heute mit ebenso schweren ethischen Problemen konfrontiert, die nur anders aussehen als in der Vergangenheit. Dies soll im Folgenden aufgezeigt werden.

Welches waren die Laster des Neunzehnten Jahrhunderts? Ein erstes war der [IX-321] Autoritarismus, die Forderung nach blindem Gehorsam. Von den Kindern verlangte man ebenso wie von den Frauen und Arbeitern, dass sie den Autoritäten blindlings gehorchten, ohne über deren Befehle nachzudenken und ohne Fragen zu stellen. Ungehorsam war etwas in sich Sündhaftes.

Ein zweites Laster war die Ausbeutung, und zwar die rohe Ausbeutung. Heute mögen wir uns darüber wundern, dass es noch kurz vor dem Neunzehnten Jahrhundert möglich war, dass sich die Damen und Herren der guten Gesellschaft mit dem Sklavenhandel abgaben, dass die Neger im Kongo skrupellos ausgebeutet wurden, und dass Kinder in den Fabriken schamlos ausgenützt wurden. Dies waren die Laster und ethischen Probleme des Neunzehnten Jahrhunderts, die wir fast vergessen haben und an die wir uns heute nur mit Verwunderung erinnern.

Ein drittes Laster des Neunzehnten Jahrhunderts war die mangelnde Gleichberechtigung der Geschlechter und Rassen. Man war überzeugt, dass diese Ungleichheit wohl begründet war, dass sie dem Wort Gottes entsprach, und man interessierte sich in keiner Weise für die offensichtlichen Widersprüche, die zwischen dem Wort Gottes und einer derartigen Ungleichheit unter den Menschen bestand.

Geiz und Horten waren das vierte Laster des Neunzehnten Jahrhunderts, denn für die Mittelklasse galt das Sparen als größte Tugend. Man wurde reich, wenn man hortete, sparte, sein Geld zusammenhielt, nichts ausgab. Auch wenn dies heute nicht mehr als Tugend gilt, so war dies doch im Neunzehnten Jahrhundert so.

Schließlich ist der egozentrische Individualismus des Neunzehnten Jahrhunderts zu nennen. Typisch hierfür ist ein Satz von Freud, den dieser im Zusammenhang mit dem Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ äußert (S. Freud, 1930a, S. 468):

Warum sollen wir das? Was soll es uns helfen? Vor allem aber, wie bringen wir das zustande? (...) Ich tue sogar unrecht damit, denn meine Liebe wird von all den Meinen als Bevorzugung geschätzt; es ist ein Unrecht an ihnen, wenn ich den Fremden ihnen gleichstelle.

Freud hat hier mit Mut ausgesprochen, was damals viele Menschen empfanden, ohne es so klar auszudrücken: „My home is my castle – ich bin ich; nimm dich in Acht, Fremder!“

Vielleicht gab es noch mehr Laster im Neunzehnten Jahrhundert, doch sehen wir jetzt nach, was aus diesen Lastern inzwischen geworden ist.

Den Autoritarismus gibt es heute nicht mehr in der gleichen Weise wie im Neunzehnten Jahrhundert. Die Autoritäten des Neunzehnten Jahrhunderts sind aus den Vereinigten Staaten und aus einigen anderen Teilen der Welt fast völlig verschwunden. Wenn jemand Angst hat, dann sind es eher die Eltern, die vor den Kindern Angst haben, als umgekehrt – und das aus einem sehr einfachen Grunde. Heute ist man allgemein der Auffassung, dass das Neueste auch das Beste sein müsse. Da die Kinder immer neuer sind und mehr über die letzten Neuigkeiten wissen als ihre Eltern, müssen die Eltern nun von ihnen lernen.

Bevor ich auf die Frage der Autorität als ethisches Problem der Gegenwart zu sprechen komme, muss ich einige theoretische Erklärungen zum Begriff der Autorität vorausschicken. Es ist sinnvoll, zwischen rationaler und irrationaler Autorität zu unterscheiden. Irrationale Autorität geht immer mit Angst und Ausübung von Druck auf der Grundlage einer emotionalen Unterwerfung einher. Es ist dies die Autorität [IX-322] des blinden Gehorsams, die Art von Autorität, die man am deutlichsten ausgeprägt in allen totalitären Ländern findet.

Aber es gibt noch eine andere Art, die rationale Autorität, worunter ich jede Art von Autorität verstehe, die sich auf Kompetenz und Wissen gründet, die Kritik zulässt und die ihrer Natur nach...

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