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E-Book

Humanitäre Hilfe Schweiz

Eine Zwischenbilanz

VerlagNZZ Libro
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl376 Seiten
ISBN9783038101758
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis28,80 EUR
Die Schweiz ist stolz auf ihre humanitäre Tradition und die grosse Spendenbereitschaft ihrer Bevölkerung. Doch sind die Mittel immer gut eingesetzt? Wie werden sie verteilt und verwendet? Verdrängt die humanitäre Hilfe die längerfristige Entwicklungszusammenarbeit? Die Autoren des Sammelbandes analysieren die Veränderungen, denen sich die humanitären Organisationen stellen müssen. Weiter befassen sie sich mit der Wahrnehmung von Katastrophen, mit der heutigen Praxis der humanitären Hilfe, den neuen Herausforderungen wie der Gefahr der Instrumentalisierung, der sozialen Solidarität in der Schweiz und mit dem «Markt» der Geldsammlungen. Interviews mit erfahrenen Persönlichkeiten und Porträts der wichtigsten schweizerischen Organisationen in diesem Bereich runden dieses wichtige Standardwerk ab. Mit Beiträgen von Vito Angelillo, Göpf Berweger, Manuel Bessler, Tony Burgener, Gilles Carbonnier, Ruth Daellenbach, Beat von Däniken, Paola Fabri, Adriaan Ferf, Toni Frisch, Thomas Gass, Christian Gut, Lilian Iselin, Marc Kempe, Carlo Knöpfel, Jürg Krummenacher, Peter Maurer, Odilo Noti, Walter Rüegg, Lorenz Spinas, Edita Vokral, Roger de Weck, Christoph Wehrli, Patrik Wülser, Martina Ziegerer. Vorwort: Bundesrat Didier Burkhalter.

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Leseprobe

«Die Glückskette ist auch ein Instrument gegen die Abstumpfung»

Interview mit Roger de Weck, Generaldirektor der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG SSR

 

 

Katastrophen sind für uns in der Regel nur dann Katastrophen, wenn uns die Medien darüber informieren. Für diese ist es unumgänglich, eine Auswahl zu treffen. Nach welchen Kriterien berichten die SRG-Medien über Katastrophen?

Vorweg: Derzeit sind sämtliche Medien überfordert, denn ein Drittel der Welt ist eine einzige Katastrophe. Wir haben einen Bogen des Chaos von der Ukraine über den Nahen und Mittleren Osten bis nach Pakistan, beinahe dem ersten atomaren «failing state». Und einen zweiten Chaos-Bogen von Jemen über Somalia, den Sudan, Libyen, wo ein Staat nach dem anderen scheitert, bis hin zu Boko Haram. Katastrophe ist allgegenwärtig. Katastrophe wird – ich sage es nicht zynisch, sondern berührt – gewöhnlich.

Wie gehen Medien damit um? Wir alle sind auf der Suche. Die SRG-Medien versuchen wie jedes Medium, die Ereignisse zu ordnen, wenn denn das zu bewältigen und sittlich ist. Jede Katastrophe nämlich bringt jenes Mass an Leid, das sich journalistischem Einordnen verweigert. Im Journalismus ist wie immer die Aktualität ein Kriterium. Eine neue Katastrophe findet mehr Aufmerksamkeit, als wenn es sich um die jahre- oder jahrzehntelange Fortsetzung einer Katastrophe handelt. Ein Gesichtspunkt ist auch die weltpolitische Brisanz: Werden weitere Regionen destabilisiert? Und selbstverständlich ist das Leiden der Menschen massgebend. Lauter Kriterien zwar, aber trotz aller Professionalität stehen wir vor Katastrophen etwas hilflos da.

Manche Katastrophen dringen also kaum ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit, weil sie sozusagen Dauerkatastrophen sind?

So sehe ich das nicht. Die Dauerkatastrophe im Nahen Osten ist ein Dauerthema, jene im Mittleren Osten ebenfalls, desgleichen die Katastrophe in Nigeria, Mali, Tschad, Kamerun. Die Ukraine ist wenn nicht täglich, so doch wöchentlich präsent. Andere Katastrophen fallen weniger auf – auch deshalb, weil niemand in die Länder reisen und frei berichten kann. In Eritrea ist der Handlungsspielraum für Journalisten eng. Zudem können wir nicht immer Journalistinnen und Journalisten in Krisengebiete entsenden, weil wir in der Pflicht stehen, Mitarbeitende zu schützen. Im deutschen Sprachraum wird diese Schutzpflicht noch ernster genommen als in Frankreich, wo Redaktionen ihre Reporter selbst in die gefährlichsten Lagen schicken oder ziehen lassen. Ich stehe zur Schutzpflicht. Ein Korrektiv zur «Unterberichterstattung» gibt es. Manche Katastrophe, die mangels journalistischer Zeugen in den Massenmedien kaum vorkommt, ist präsent in sozialen Medien: dank den Opfern, die sich zu Wort melden, soweit sie Internetzugang haben. Das zeigt sich im Fall von Syrien.

Es gibt auch das Umgekehrte: Katastrophen-Hypes. Die Ebola-Epidemie beispielsweise, die für die betroffenen westafrikanischen Länder unbestritten verheerend war, wurde bezüglich der Gefährlichkeit für Europa eine Zeit lang hochgespielt. Oder man erinnert sich an den Tsunami von 2004. Die Bilder lösten eine Welle von Spenden aus, die von den Hilfswerken fast nicht zu bewältigen war. Sind die Medien nicht der Gefahr ausgesetzt, sich in etwas hineinzusteigern?

Sie sprechen eine grundsätzliche Schwäche des Medienbetriebs an. Insgesamt ist er auf Ereignisse fixiert, obwohl Entwicklungen relevanter sind. Die Aktualität ist das Grundgesetz des Journalismus. In einer Zeit, in der sich nur noch der kleinste Teil der Medien ein Auslandkorrespondentennetz leisten kann, verstärkt sich diese Fixierung aufs Einzelereignis. Man berichtet über Begebenheiten im Ausland aus zweiter Hand, vielleicht entsendet man einen Sonderkorrespondenten. Aber wo bleibt das Verfolgen langfristiger Entwicklungen durch Fachleute vor Ort, durch Korrespondentinnen und Korrespondenten?

Im Weiteren berühren Naturkatastrophen die Öffentlichkeit stärker als die von Menschenhand gemachten Katastrophen – wobei Naturkatastrophen durchaus von Menschen gemacht sein können. Bei herkömmlichen menschengemachten Katastrophen – Kriegen oder anderen Konflikten – wird es im Lauf der Jahre immer schwieriger, zwischen Tätern und Opfern zu unterscheiden. Die Täter sind ein Stück weit Opfer, die Opfer können Täter sein. Das schafft Distanz, und in einem Teil des Publikums wirkt das Gedankenmuster: Alle am Konflikt Beteiligten sind selbst schuld, sie sollten aufeinander zugehen und sich verständigen! Ein Tsunami hingegen bricht herein, es gibt nur Opfer, das weckt mehr Mitleid. Es ist unsere Aufgabe, dem entgegenzuwirken.

Wie lässt sich dies bewerkstelligen?

Das digitale Zeitalter eröffnet neue Möglichkeiten. Wenn die Tagesschau nicht jeden Tag über jede Katastrophe berichten kann, helfen regelmässig aktualisierte Onlinedossiers, um sich auf dem Laufenden zu halten. Solche Dossiers mit Bildmaterial, Infografiken, datenjournalistischen Übersichten usw. sind wertvoll und sorgsam zu pflegen. Selbstverständlich werden sie weniger besucht als Nachrichtensendungen. Aber es ist ein Mittel, Katastrophen präsent zu halten und Prozesse und Entwicklungen zu verfolgen.

Vor bald 70 Jahren begann mit einer Sendung am Westschweizer Radio die Geschichte der Glückskette. Als Trägerschaft wurde später eine Stiftung gegründet. Würde die SRG heute ein solches Engagement ebenfalls eingehen?

Gerade auf dem Hintergrund Ihrer vorherigen Frage bekräftige ich: ja. Die Glückskette ist nicht nur eine wertvolle karitative Institution, sie ist auch ein Instrument gegen die mediale und menschliche Abstumpfung in einer Epoche überhandnehmender Katastrophen. Das Mass an Katastrophen, das wir verkraften, ist beschränkt. So wird das Thema Syrien immer wieder verdrängt. Die Glückskette bringt diese Katastrophe regelmässig zur Sprache. Sie lädt zum erneuten Mitgefühl, zum erneuten Spenden ein. Aktionen der Glückskette sind auch kleine Beiträge zur Bewusstseinsbildung.

Auch wenn die Glückskette viel Gutes bewirkt, kann man sich fragen, ob sich unabhängiger Journalismus und Sammelkampagnen eigentlich vertragen.

Zur Glückskette steht die SRG SSR 100-prozentig. Es wäre verantwortungslos, wenn die grosse Reichweite der Radio- und Fernsehkanäle der SRG und ihrer Webseiten nicht auch dem guten Zweck diente, Leid zu lindern. Die Redaktionen arbeiten allerdings unabhängig. Wo nötig, kritisieren sie die Arbeit von Hilfswerken. Sie berichten nach professionellen Regeln über die Glückskette, mit ihren Stärken und Schwächen. Das eine ist der Spendenaufruf, das andere ist die journalistische Arbeit. Ich bin im fünften Jahr bei der SRG, nirgends ist mir eine journalistische Gefälligkeit aufgefallen. Es sind zwei Paar Schuhe, getrennt zu halten.

Die journalistische Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit gingen verloren, würde die SRG selbst ein Hilfswerk betreiben. Die Glückskette sammelt Geld mithilfe der SRG-Medien, betraut aber andere Organisationen mit deren Verwendung – unter strenger Qualitätskontrolle; so lassen sich, sollte einmal etwas schieflaufen, Konsequenzen ziehen.

Gibt es – wie man innerhalb der Glückskette meint – manchmal fast einen Reflex der Art, als ob die Berichterstattung über die Glückskette besonders kritisch sein müsste?

In Einzelfällen mag es vorkommen, dass eine Redaktion überkritisch berichtet, sobald die leiseste Verbindung zum eigenen Haus besteht. Das ist vielleicht bedauerlich, weil die Berichterstattung nicht ganz so souverän ist. Aber es ist immerhin ein Beleg für ein stolzes Beharren auf journalistischer Unabhängigkeit.

Bei Spendenaufrufen wird die Hilfsbedürftigkeit der Betroffenen in den Vordergrund gestellt. Verstärkt man dadurch nicht unwillkürlich das Bild der Hilflosigkeit der Menschen in armen Ländern, wo doch auch deren Vitalität und Kraft zur Selbsthilfe aufzuzeigen wären?

Die Glückskette leistet Nothilfe und nicht Entwicklungshilfe im eigentlichen Sinn, wobei der langfristige Wiederaufbau bei der Vergabe von Projektgeldern – im Sinn der Nachhaltigkeit – eine wichtige Rolle spielt. Es handelt sich aber klar um Projekte, die direkt mit einer Katastrophe in Verbindung stehen.

Mit ihrem abgestuften Instrumentarium von Appellen und Aktionen wird die Glückskette tätig, wenn dringliche Not an der Frau, am Kind und am Mann ist. Nothilfe ist eine elementare Pflicht des Menschen und einer seiner Reflexe. Liegt ein Mensch am Boden, helfen wir ihm, sich aufzurichten, auch wenn es ihn vielleicht demütigt. Der Unterschied zwischen Not- und Entwicklungshilfe darf nicht verwischen: Wir sind uns einig, dass Entwicklungshilfe durchwegs Hilfe zur Selbstständigkeit sein sollte.

Mit einem Aufruf setzt die Glückskette eine Art Marketingmaschinerie in Gang, die für die akkreditierten Hilfswerke viel Geld wert ist. Andere Organisationen profitieren davon aber nicht. Besteht da keine Ungerechtigkeit?

Streng sind die Kriterien, nach denen ein Hilfswerk akkreditiert wird: Wer sammelt, muss dafür sorgen, dass das Geld wirklich seinem Zweck zugeführt wird. Die Prüfung, ob die Kriterien erfüllt sind, nehmen Fachleute vor, ihre Auslese scheint mir solid zu sein.

Dennoch kann man sich fragen, wieso keine Organisationen akkreditiert werden, die ausserhalb von Katastrophen im Ausland oder in der Schweiz Solidarität praktizieren.

In der Schweiz, erst recht in der Politik, ist es ja verdammt schwierig, Prioritäten zu setzen. Wo immer in unserem Land des Interessenausgleichs eine Priorität gesetzt wird, fordert jemand eine andere Prioritätensetzung. Deshalb überwiegt das Giesskannenprinzip. Es ist gut,...

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