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E-Book

Hungern im Überfluss - Essstörungen in der ambulanten Psychotherapie (Leben Lernen, Bd. 247)

AutorKatherina Giesemann
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783608102772
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Die dargestellten psychotherapeutischen Ansätze reichen von tiefenpsychologisch fundierter und analytischer Psychotherapie über die Verhaltenstherapie hin zu Interventionen der systemischen Familientherapie und der Hypnotherapie. Ein ausführliches Kapitel ist den Fragen von Anamnese und Differenzialdiagnostik gewidmet. Oft sind der Hausarzt oder der Gynäkologe die ersten Anlaufstellen für essgestörte PatientInnen und ihre Eltern. Deshalb geben über die somatischen Symptome und deren Behandlung ein Hausarzt und ein Gynäkologe Auskunft. Zur umfassenden Betreuung gehören ausserdem die kompetente Ernährungsberatung sowie ein sicheres Hintergrundwissen, wann eine stationäre Therapie unausweichlich ist und nach welchen Kriterien eine geeignete Klinik ausgewählt wird. Den Abschluss des Buches bildet ein Beitrag zur frühkindlichen Fütterstörung, welcher Bezüge zu einer möglichen späteren Essstörung erhellt. - Erstes Buch zum Thema für die ambulante Psychotherapie - Elf Experten schildern ihre Erfahrungen aus elf Perspektiven Dieses Buch richtet sich an: - Alle, die mit essgestörten PatientInnen arbeiten: Psychotherapeutisch arbeitende Psychologen, ÄrztInnen und Sozialpädagogen - somatisch arbeitende ÄrztInnen: Hausärzte, Kinderärzte, Internisten, Gynäkologen

Katherina Giesemann, Dr. med., Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalyse, arbeitet in eigener Praxis in München; Schwerpunkt: Essstörungen.

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Leseprobe
Einleitung Katherina Giesemann Durch die langjährige psychotherapeutische Arbeit mit essgestörten Patientinnen wurde mir deutlich, wie notwendig die unterschiedlichen Behandlungsmöglichkeiten und -ansätze sind. Nur diese Vielfalt ermöglicht es uns, den betroffenen Menschen adäquat und individuell zu helfen. Der Austausch über konkrete Behandlungsmöglichkeiten ist deshalb wichtig und bereichert die eigene Arbeit. Es sind keineswegs nur Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen, die Essstörungen behandeln, sondern auch Hausärzte, Internisten, Gynäkologen, Kinderärzte und Dermatologen - um nur einige der somatischen Fachdisziplinen zu nennen. Außerdem kommen Pädagogen und viele andere Berufsgruppen, die mit Jugendlichen arbeiten, mit den Symptomen und Auswirkungen von gestörtem Essverhalten in Berührung. Das Buch ist aus dem Bedürfnis heraus entstanden, den Erfahrungsaustausch zwischen den Behandelnden anzuregen und zu verbessern, um so essgestörten Patientinnen noch effektivere Unterstützung bieten zu können. Es versteht sich als Arbeitsbuch von ambulant arbeitenden Ärzten, Psychologen, und Sozialpädagogen für ambulant tätige Kollegen und Kolleginnen, die in der Praxis auf verschiedene Weise psychogenen Essstörungen begegnen. Die Autoren gewähren Einblick in ihre »Werkstatt« und zeigen an konkreten Fallbeispielen, wie sie psychogene Essstörungen therapieren. Die Betrachtung der Erkrankung aus verschiedenen Perspektiven ist als Anregung und Ergänzung in der ambulanten Therapiearbeit gedacht und soll helfen, das Verständnis für die Abläufe und die Komplexität der Symptomatik zu erweitern. Im ersten Teil des Buches werden fünf verschiedene ambulante psychotherapeutische Behandlungsansätze und -verläufe geschildert. Das erste Kapitel (Katherina Giesemann) beschreibt die Behandlungstechnik der psychodynamischen Psychotherapieverfahren. Ausführlich wird das Erstgespräch, die Einleitungsphase sowie Behand lungsprobleme bei Patientinnen mit Essstörungen und einer Borderline- oder narzisstischen Persönlichkeitsstruktur behandelt. Die Not wendigkeit der biografischen Anamnese ebenso wie die Verwendung von Essprotokollen wird dabei nicht nur unter diagnostischen Gesichtspunkten gesehen, sondern als Teil des therapeutischen Prozesses. Es folgt die Vorstellung einer niederfrequenten analytischen Langzeitpsychotherapie bei einer Patientin mit gering integriertem Strukturniveau. Bei dieser Behandlungsvignette, verfasst von Christiane von Metzler, wird die Bedeutung längerfristiger psychotherapeutischer Begleitung und des flexiblen Umgangs mit dem therapeutischen Setting deutlich. Im dritten Kapitel stellen Andreas Schnebel und Eva Wunderer verhaltenstherapeutische Interventionsmöglichkeiten vor. Diese beschränken sich längst nicht mehr nur auf die Veränderungen des Essverhaltens, sondern beziehen den Lebenskontext, die Ressourcen und vor allen Dingen die gedanklichen Prozesse von Patient und Therapeut mit ein. Claudia Starke beschäftigt sich in ihrem Kapitel mit der systemischen Familientherapie. Die bekannte Geschichte »Der Suppenkaspar« liefert den »roten Faden« für den möglichen Ablauf einer Essstörung und die Interventionen im Rahmen einer familientherapeutischen Behandlung. Das letzte Kapitel des ersten Buchabschnittes beschreibt die Behandlung einer atypischen Essstörung. Hellmuth Schuckall zeigt, wie passive und aktive hypnotherapeutische Imaginationen und die Absorbtionstechnik des EMDR (Traumatherapie) zur positiven Modifizierung des Körper-Selbstbildes beitragen können. Insgesamt zeigen die fünf hier angeführten psychotherapeutischen Behandlungsbeispiele einen Ausschnitt der vielfältigen ambulanten Behandlungsmöglichkeiten. Im zweiten Teil des Buches werden die Anamnese, der psychische Befund und differentialdiagnostische Überlegungen bei Essstörungen schulenübergreifend behandelt. Frau Annette Imann-Steinhauer verdeutlicht sehr anschaulich, dass eine sorgfältige Diagnosestellung nicht nur bei der Planung und der Durchführung der Behandlung hilft, sondern als relationaler Prozess auch Ausdruck der therapeutischen Beziehung und damit ein therapeutischer Wirkfaktor ist. Im letzten Abschnitt des Buches werden schließlich wichtige Bereiche der somatischen Medizin, die Schnittstelle zwischen Klinik und ambulanter Praxis sowie die Ernährungsberatung und die frühkindlichen Fütterstörungen behandelt. Joachim Strüngmann, Allgemeinmediziner, stellt in Kapitel sieben ausführlich und aus eigener Erfahrung dar, welch wichtige Funktion der Hausarzt für Menschen mit Essstörungen hat. Er ist meist der erste Ansprechpartner. Seinem Einfühlungsvermögen und seinen somatischen Kenntnissen über die körperlichen Auswirkungen der Essstörung ist es zu verdanken, wenn die Betroffenen schnell eine adäquate Behandlung erhalten. Da überwiegend Frauen an einer Essstörung leiden, ist auch der Gynäkologe, häufig mit diesem Krankheitsbild konfrontiert. Im achten Kapitel werden deshalb von Gerhard Haselbacher sehr konkrete Hilfestellungen gegeben, wie das Thema Essstörung auch in der gynäkologischen Praxis angesprochen und behandelt werden kann. Oft reicht eine ambulante Therapie nicht aus, und eine stationäre Behandlung wird notwendig. Damit der Übergang von ambulanter zu stationärer Behandlung und die dann sinnvolle weitere ambulante Behandlung fließend und erfolgreich ist, bedarf es einer guten Planung und Vorbereitung. Im Kapitel »Von der ambulanten zur stationären Behandlung« beschreibt Elisabeth Rauh die Indikationen für einen stationären Aufenthalt und gibt Entscheidungshilfen für die Auswahl einer geeigneten stationären Einrichtung und für die Vorbereitungen, die in der ambulanten Psychotherapie für einen stationären Aufenthalt getroffen werden sollten. Für viele Patienten ist die Ernährungsberatung ein wichtiges Element ihrer Auseinandersetzung mit dem eigenen Essverhalten. Die Diätassistentin Vera Baumer schildert, wie Ernährungsberatung Patienten und Patientinnen darin unterstützen kann, ihr Essverhalten eigenverantwortlich zu gestalten. Das letzte Kapitel dieses Buches schließlich beschäftigt sich mit Fütterstörungen bei Säuglingen und Kleinkindern. Fütterstörungen gelten als erheblicher Risikofaktor für die Entwicklung einer Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa. In der ambulanten Psychotherapie werden daher aus der Anamnese der Patienten Rückschlüsse auf ihre früh kindliche Entwicklung gezogen, um zu verstehen, warum für die Lösung ihrer psychischen Konflikte das Essen die zentrale Rolle spielt. Das letzte Kapitel führt uns an den Beginn der Beziehung zur Nahrung und damit zugleich zur Beziehung von Mutter und Kind. Die von Margret Ziegler einfühlsam geschilderten Fallvignetten zeigen, wie leidvoll für Kinder und ihre Mütter die nicht geglückte Kontaktaufnahme ist. Vorangeschickt sei noch eine Anmerkung zum Gebrauch der männlichen und weiblichen Form bei Worten wie Patient, Patientin, Therapeutin, Therapeut. Wir haben uns entschlossen, in diesen Fällen die männliche und die weibliche Form abwechselnd zu verwenden, um den Lesefluss nicht zu stören und die reale Situation in der Therapie dennoch abzubilden. Patientin wird deshalb häufiger gebraucht werden als Patient. Ansonsten gilt eine möglichst paritätische Lösung. I. Psychotherapeutische Ansätze Psychodynamische Psychotherapie bei psychogenen Essstörungen Katherina Giesemann Einleitung Das folgende Kapitel stellt Behandlungsmöglichkeiten von psychogenen Essstörungen mit psychodynamischen Therapieverfahren vor. Es ist gedacht als Anregung und Ergänzung zu den vom Leser bevorzugten theoretischen Konzepten. Aspekte des Erstgesprächs, der Vorgespräche, der Therapieplanung und des konkreten therapeutischen Vorgehens werden anhand von Fallbeispielen und theoretischen Überlegungen veranschaulicht. Da sich das Syndrom »gestörtes Essverhalten« bei unterschiedlichen psychischen Erkrankungen und Strukturen entwickeln kann, werden beispielhaft zwei häufig zu behandelnde Persönlichkeitsstrukturen näher geschildert: die Borderline-Persönlichkeit und die narzisstische Persönlichkeit. 1. Das erste Telefonat Karin T. rief in der Telefonsprechzeit an, um einen Termin für ein Vorgespräch auszumachen. Am Telefon fragte sie, ob ich mich auch wirklich mit Essstörungen auskenne. Sie sagte auch gleich, dass man ihr bei der Beratungsstelle empfohlen habe, mehrere Therapeuten »anzusehen«, und sie für die nächste Zeit schon mit anderen Therapeuten Termine vereinbart habe. Häufig ist schon das Telefonat die erste Variation des Grundkonfliktes. Deshalb ist es sinnvoll, von diesem Gespräch kurze Notizen zu machen, auch das Gegenübertragungserleben zu notieren. Diese Patientin hatte nicht auf dem Anrufbeantworter ihre Telefonnummer hinterlassen, sondern sich in der Telefonsprechzeit gemeldet. Vielleicht bemühte sie sich höflich zu sein, mir möglichst wenig Arbeit zu machen? Vielleicht wollte sie nichts dem Zufall überlassen und selbst die aktive Anruferin sein? Ihre Mitteilung, dass sie mit mehreren Therapeuten Vorgesprächstermine ausgemacht hatte, erschien mir wie ein Heißhungeranfall. Zum anderen vermutete ich aber auch, dass ihre Not sehr groß war. Ich wappnete mich für die erste Stunde, denn würden sich meine Annahmen bestätigen, dann müsste ich im übertragenen Sinne wieder ausgespien werden. Es schien mir gut möglich, dass die Zurückweisung die einzige Möglichkeit der Patientin war, mit ihrem Dilemma umzugehen - dem Dilemma, dass sie zwar auf der einen Seite Anteilnahme und Hilfe wünschte, auf der anderen Seite aber Angst vor Vereinnahmung und Schwächung im Sinne einer Selbstaufgabe hatte. Schon nach diesem ersten Telefonat zeichnete sich der Grundkonflikt ab: Nähe vs. Distanz und ihre Regulierung. 2. Das Erstgespräch Die Terminabsprache gestaltete sich leicht. Karin T. hatte ein Freisemester und »immer Zeit«. Pünktlich zum vereinbarten Termin erschien eine attraktive junge Frau. Die saloppe Kleidung war geschickt gewählt und unterstrich ihren »Sports-Girl-Typ«. Karin T. begrüßte mich mit einem strahlenden Lächeln, ihr Händedruck war fest, sie wirkte ganz Frau der Lage. Ich erfuhr, dass sie Jura studierte. Sie hatte ihr Erstes Staatsexamen erfolgreich bestanden und im Anschluss in einem Krankenhaus in Südamerika gearbeitet. Jetzt, wieder zurück in Deutschland, sei auch ihre Bulimie wieder zurückgekehrt. An Tagen ohne Verabredungen oder Terminen habe sie bis zu drei Heißhungeranfälle. Es müsse etwas geschehen, »um das Essen in den Griff zu bekommen«. Nach ihren eigenen Angaben war die Essstörung bisher nur zur Zeit ihrer Examensvorbereitungen so stark wie im Moment gewesen. Aber aus ihrer Erzählung hörte ich heraus, dass die Bulimie schon lange die »heim liche Freundin« der 23-Jährigen war. Die Symptomatik begann mit 17Jahren, als sie für ein Jahr als Austausch-Schülerin in den USA lebte. 2.1 Die drei Abschnitte des ErstgesprächsIch versuche das Erstgespräch möglichst so zu strukturieren, dass es sich in drei Abschnitte gliedert: Im ersten Teil steuere ich das Gespräch wenig. Meine Interventionen beschränken sich darauf, der Patientin das Sprechen, das Sichmitteilen zu erleichtern. So kann sich zwischen uns eine Inszenierung entfalten, deren Inhalt maßgeblich von der Patientin bestimmt wird (Argelander 1992). Als Therapeutin werde ich nicht nur in diese Szene hineingezogen, sondern bin mit meinen bewussten und unbewussten Beziehungserfahrungen direkt beteiligt. Diese wechselseitige Regulierung gründet in einen Mikro-Austausch von Informationen über das gesamte Sinnessystem und den affektiven Ausdruck. Es bedeutet aber nicht, dass die Aufgaben der Regulierung gleich verteilt sind. Die Aufgabe des Therapeuten ist es, für ein wohlwollendes Klima zu sorgen und sich auf bidirektionale Beeinflussung einzulassen (Stern 2002). Im zweiten Teil des Erstgespräches erfrage ich noch fehlende Informationen (Kapitel »Anamnese«). Von Karin T. erfuhr ich, dass ihr Vater ein erfolgreicher Manager ist. Die Mutter hörte mit ihrem ersten Kind, dem zwei Jahre älteren Bruder, auf zu arbeiten und konzentrierte sich ganz auf die Aufgabe, ihre beiden Kinder großzuziehen. Die Patientin beschrieb die familiäre Situation sehr positiv. Es entstand ein idyllisches Bild, das mich an Familien aus dem Werbefernsehen erinnerte. Im ersten Gespräch akzeptiere ich die Form, in welcher der die Patientin ihre Biografie erzählt. So wird es möglich, nicht nur die Symptome und die biografischen Daten, wie bei einem Lebenslauf, zu erhalten, sondern auch Anzeichen von Konflikten und Abwehr- bzw. Schutzmechanismen, die sich in der Form des Sprechens und der Erzählung widerspiegeln, zu erkennen (Habermas 2011). Im zweiten Teil erhebe ich auch den somatischen Status und kläre, ob die Patientin hausärztlich betreut wird. Da die Gewichtsdynamik bei Essstörungen wichtig ist, frage ich nach dem aktuellen Gewicht, dem Gewicht vor Beginn der Essstörung, dem höchsten und niedrigsten Gewicht sowie dem Wunschgewicht der Patientin. Warum im Erstgespräch? Beeinflusse ich damit nicht auch die Beziehung, die sich zwischen der Patientin und mir entwickelt? Verstärkt sich nicht dadurch die Fixierung auf das Körpergewicht? Ich habe bei den meisten Patientinnen das Gefühl, dass die Zahl auf der Waage oder das phobische Vermeiden der Waage ein Thema ist, das latent im Raum steht und deshalb angesprochen gehört. Die Frage nach dem Gewicht trägt zudem zur Klärung der Therapiemotivation bei. So hart es klingen mag, aber eine Behandlung, bei der sich das Gewicht nur nach unten bewegen darf oder aber das Wunschgewicht so niedrig ist, dass es ohne restriktive Maßnahmen nicht erreicht werden kann, bietet kaum Raum für Veränderungsprozesse. Es kann außerdem der Fall auftreten, dass das aktuelle Körpergewicht so gering ist, dass eine ambulante Therapie zu gefährlich oder wenig wirksam ist. Ich halte mich bei diesem Vorgehen an die S3-Leitlinien für Essstörungen (2010), die eine Klinikeinweisung bei einem BMI unter 16 kg/m2 für indiziert halten. Die Gewichtsvorstellung für den eigenen Körper kann aber auch den Charakter einer überwertigen Idee haben. In diesen Fällen ist es wichtig zu prüfen, ob die Patientin u. a. auch Zwangssymptome aufweist. Die Zwänge wie Kalorienzählen oder Rituale bei der Nahrungszubereitung und beim Essen werden häufig als ich-synton erlebt und deshalb von der Patientin nicht erwähnt. Zum anderen können die überwertigen Ideen auch der erste Hinweis auf eine psychotische Symptomatik sein. Bei anorektischen Patientinnen ist es wichtig zu erfragen, warum sie gerade jetzt eine Therapie machen wollen. Sehr häufig wird deutlich, dass sie kommen, weil sie sich durch Angehörige, Freunde oder sogar durch den Arbeitgeber unter Handlungsdruck gesetzt fühlen. Bei Patienten mit einer Binge-Eating-Disorder besteht meist nur der Wunsch nach Gewichtsreduktion. Sie haben den Eindruck, dass ihr Leben problemlos sein könnte, wenn sie weniger wiegen und damit aus ihrer Sicht symptomfrei wären. Diese Erkenntnisse sind wichtig, um die Therapiemotivation zu verstehen und das geeignete Therapieverfahren auszuwählen. Eine Patientin, die neben der Essstörung keine weiteren Probleme in ihrem Leben wahrnimmt, ist meist nicht motiviert, sich mit ihren Affekten und ihrer Lebensgeschichte zu beschäftigen. Es kommen dann häufig Aussagen wie »ich will nicht, dass Sie in meiner Vergangenheit herumstochern«. Im dritten und letzten Teil des Erstgespräches ermuntere ich die Patientin, Fragen zu stellen und ihre Vorstellungen von einer Therapie zu beschreiben. Im Anschluss versuchen wir gemeinsam zu erarbeiten, welche Ziele sie anstrebt und in welcher Zeit diese realistisch erreicht werden können. Wenn notwendig, versuche ich die Patienten mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass vor einer ambulanten Behandlung eine stationäre Behandlung stattfinden sollte. Bei einer komplexeren Symptomatik oder einem sehr geringen aktuellen Gewicht ist es ambulant kaum möglich, die Patientin adäquat zu begleiten und gemeinsam die sichere Basis zu entwickeln, auf der die Patientin den Mut findet, Veränderungen zu wagen. Karin T. hatte die Vorstellung, sie bräuchte nur einige Stunden sowie ein paar gute Tipps von mir und dann wäre alles erledigt. Meinen Einwand, dass sie über die Jahre schon selbst viel versucht und ausprobiert habe, schien sie gar nicht zu hören, sondern argumentierte, dass sie in wenigen Monaten für ein Auslandssemester die Stadt verlasse und bis dahin die Bulimie »los sein« wolle. Ich erwiderte, dass ich keine »Ultrakurzzeittherapie« machen würde. Meine Empfehlung war eine Ernährungsberatung, und ich sprach an, dass die Verhaltenstherapie ihren Vorstellungen eher gerecht werden könnte. Außerdem erinnerte ich sie, dass ihr letzter Auslandsaufenthalt gut verlaufen sei und ich mir vorstellen könnte, dass sie das auf sie zukommende Semester gut schafft. Noch während ich sprach, liefen ihr Tränen über die Wange, und sie sagte: »Sie sind wie meine Mutter, die mag auch nicht sehen, wenn es mir schlecht geht, und sagt immer, das schaffst du schon.« In Karin T.s Familie wurde die Erkrankung kollektiv verdrängt. Als sie vor dem Examen sehr verzweifelt war und unter großen Versagensängsten litt, vertraute sie sich ihren Eltern an. Besonders ihre Mutter reagierte auf die Offenbarung mit Selbstvorwürfen, Schuld- und Verantwortungsübernahme. Die Patientin hatte das Gefühl, dass ihre Mutter ihr die Krankheit wegnahm. Die Mutter arrangierte einen gemeinsamen Besuch mit der Tochter bei einer Therapeutin und begann dann bei dieser Therapeutin selbst eine Therapie. Die Patientin sprach nie mehr über die Bulimie, vermutlich um etwas Eigenes zu behalten. »Meine Eltern glauben, das war nur eine Phase und nun bin ich gesund.« In der Stunde entwickelte sich eine ambivalente Mutterübertragung: »Sie sind wie meine Mutter.« Es wurde der starke Wunsch der Patientin nach einer annehmenden Beziehung deutlich, aber auch ihre Angst davor. Sie hatte die Dauer unserer Beziehung geplant und das Ende nach nur wenigen Wochen szenisch in das reale Außen verlegt. Ein Auslandssemester an einer berühmten Universität, das hebelte, jedenfalls zu diesem Zeitpunkt, jegliche Bemühungen, einen Zugang zu den unbewussten intrapsychischen Prozessen zu finden, aus. Meine Einschätzung, dass ein zentrales Problem der Patientin die Regulierung von Nähe und Distanz war, festigte sich. Bei der Verabschiedung bot ich ihr an, dass sie sich gern nach ihrem Auslandssemester wieder melden könne. Nach einem guten halben Jahr meldet sich Karin T.: Ob ich mich noch an sie erinnere? Sie sei zurück und würde gerne eine Therapie beginnen. Karin T. blieb fast fünf Jahre. Eine unserer letzten Stunden fand im Park statt. Die kleine Tochter Carolina zahnte, ihr Klagen und Weinen machte eine Therapiestunde unmöglich. Da die Tochter am ruhigsten war, wenn sie im Kinderwagen geschoben wurde, brachen wir zu dritt in den Park auf. Bei diesem Spaziergang sprachen wir über ihre Zukunft. Der Mann von Frau T. hatte eine attraktive Position in einer anderen Stadt angeboten bekommen, der Umzug stand an, aber auch die Frage nach ihren eigenen Lebenszielen, nach der Vereinbarkeit von Mutterschaft, Partnerschaft und Beruf. 3. Allgemeine Betrachtungen Die heutigen Erklärungsmodelle psychogener Essstörungen sprechen vom »komplexen Zusammenspiel der bio-psychosozialen Wechselwirkungen«. Die wechselseitigen bahnenden wie hemmenden Einflüsse auf die Entwicklung von psychischen Erkrankungen beschreibt Sigmund Freud bereits in seinem Konzept der Ergänzungsreihe: »Die Erkrankung ist das Ergebnis einer Summation, und das Maß der ätiologischen Bedingungen kann von irgendeiner Seite her vollgemacht werden. Die Ätiologie der Neurosen ausschließlich in der Heredität oder der Konstitution zu suchen wäre keine geringere Einseitigkeit, als wenn man einzig die akzidentielle Beeinflussung der Sexualität im Leben zur Ätiologie erheben wollte [...].« (Freud 1905 a, S. 159) Über die kulturellen und ökonomischen Wechselwirkungen, den Einfluss des Überflusses der reichen Industrienationen ist andernorts schon ausführlich Stellung genommen worden (Keel 2003, Makino 2004). An dieser Stelle möchte ich darauf aufmerksam machen, dass die Verzögerung von ausreichender therapeutischer Behandlung die Gefahr der Chronifizierung birgt. Verlaufsstudien von Patienten mit Essstörungen belegen, dass die Effektivität der Psychotherapie sinkt, wenn die Patienten länger als drei Jahre vor Aufnahme der Behandlung erkrankt waren (Treasure 2011). Die 12-Jahres-Letalität für Patienten mit Anorexia nervosa liegt bei ca. 10 Prozent (Herpertz 2010). 3.1 Aspekte bei der Auswahl des geeigneten Therapieverfahrens Was macht die Auswahl des geeigneten Therapieverfahrens für die Patientin und die Therapeutin schwierig? Es scheint, dass die einzige Gemeinsamkeit, die die Erkrankten aufweisen, darin besteht, dass sie weiblichen Geschlechts sind. Die Zahl der Männer, die an einer Essstörung leiden, liegt unter 10 Prozent. Ich werde mich daher in meinen Ausführungen auf die erkrankten Frauen beziehen, wenngleich einige der beschriebenen Phänomene auch auf Männer zutreffen. Für eine gute Beratung und Auswahl des Therapieverfahrens hat es sich in der Praxis bewährt, die Symptome der Essstörung als einen Teil einer Gesamtdiagnose zu betrachten, in die auch die Persönlichkeitsstruktur, das Strukturniveau und die psychische Komorbidität mit einbezogen werden müssen. Die strukturelle Heterogenität wird u. a. von Garner und Garfinkel (1985), Schulte und Böhme-Bloem (1991) sowie Schwartz (1990) betont. Schwartz schreibt: »In den vergangenen Jahren wurden Patienten mit Essstörungen nach einem starren phänomenologischen Paradigma charakterisiert, das künstlich ein Symptom unter vielen isoliert, auch von der darunterliegenden neurotischen Persönlichkeitsstruktur.« (Schwartz 1990, S. 1, Übersetzung von der Verfasserin)Es soll an dieser Stelle festgehalten werden: 1. Es gibt ein Syndrom, das wir Essstörung nennen. Die Fixierung in der oralen Phase lässt aber keinen Rückschluss auf die psychische Struktur zu. 2. Die Entwicklung des Syndroms hat soziokulturelle Wurzeln, die sich bis in die ersten Lebenstage zurückverfolgen lassen und eine Geschlechtsspezifität aufweisen. 3. Das Symptom der Essstörung kommt bei verschiedenen neurotischen Persönlichkeitsstrukturen vor und hat als Abwehr variable Funktionen. 4. Auch bei komplexen Traumastörungen können sich Essstörungen entwickeln. 3.2 Die Bedeutung der frühen Entwicklungsstadien in der Kindheit Zur Regression und Fixierung bieten sich die Stadien der früheren Entwicklung an, »die durch besonders intensive Befriedigung oder Frustration oder durch eine besondere Konflikthaftigkeit unbewusst eine besondere Bedeutung erlangt haben. Solche Fixierungen der früheren Triebentwicklung können zur Konfliktabwehr wiederbelebt werden.« (Ermann 2007, S. 113) Entwicklungspsychologische Langzeitstudien haben belegt, dass das »Schicksal früher Entwicklungsdefizite« nicht automatisch zu einer psychischen Störung im Erwachsenenalter führt. Unsere Persönlichkeit bleibt über lange Zeit, wahrscheinlich unser ganzes Leben lang, veränderbar. Die Erkenntnisse der Neurobiologie über die Neuroplastizität des Gehirns haben diese Vermutung weiter gefestigt. Durch fördernde Beziehungen können die nicht geglückten Entwicklungsschritte der Kindheit und entstandene Beeinträchtigungen verändert werden. Die Aufrechterhaltung des homöostatischen Gleichgewichtes zwischen Mutter und Kind ist in der oralen Phase von eminenter Wichtigkeit. Mahler (1989) stellt fest, dass, wenn die Aufrechterhaltung dieses Gleichgewichtes nicht gelingt, »somatische Erinnerungsspuren« geprägt werden, die mit späteren Erfahrungen verschmelzen und auf diese Weise psychische Belastungen verstärken können. Heute tragen zum besseren Verständnis der Frühentwicklung des Kindes das Wissen über die Reifung des Gehirns und ganz besonders die Bindungs- und Mentalisierungstheorie bei. Die Erfahrungen der ersten Lebensjahre sind nicht der bewussten Erinnerung zugänglich, überdauern aber, wie schon Mahler annahm, in Körpererinnerungen und gestalten als implizite Beziehungserfahrungen unsere Kontakte zur Welt. Fonagy und Target (2002, S. 841) formulieren: »Unter Entwicklungsgesichtspunkten kann man die primären Emotionen des Kindes als noch unverbunden, als Reaktion auf Reize und als dynamische Verhaltensautomatismen auffassen, über die das Kind anfangs noch keine Kontrolle hat. Die Affektregulation erfolgt im Wesentlichen durch die Bezugsperson, die die automatischen Emotionsäußerungen des Kindes wahrnimmt und darauf mit angemessenen affektmodulierenden Interventionen reagiert.«
Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum2
Einleitung (Katherina Giesemann)3
I. Psychotherapeutische Ansätze5
Psychodynamische Psychotherapie bei psychogenen Essstörungen6
Autonomieentwicklung und Essstörung27
Die kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung der Essstörung36
Wenn Familie Suppenkaspar zur Therapie ginge49
Techniken aus der Hypnotherapie und aus dem EMDR zur Modifizierung des Körper-Selbstbildes64
II. Anamnese und Differenzialdiagnosik69
Anamnese, Befund und Diagnose bei Essstörungen Œ differenzialdiagnostische Aspekte70
III. Ärztliche Versorgung und Beratung85
Essstörungen in der hausärztlichen Praxis86
Gynäkologische und sexualmedizinische Aspekte bei Essstörungen107
Von der ambulanten zur stationären Behandlung118
Ernährungstherapie127
Fütterstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter137
Anhang: Klinisch-diagnostische Leitlinien aus dem ICD-10150
Die Autoren152
Informationen zur Autorin154

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