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Ich denke oft an den Krieg, denn früher hatte ich dazu keine Zeit

AutorHannelore Grünberg-Klein
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783462315929
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
»Ich war ein Kind, das Elend rauschte an mir vorüber.« Bei der Vorbereitung zu einer Ausstellung über sein Werk fand Arnon Grünberg ein Manuskript seiner Mutter wieder, geschrieben in den 1990er-Jahren. Hannelore Grünberg-Klein schildert die Geschichte ihrer Flucht vor dem NS-Regime in beeindruckend klaren, um Haltung und Würde ringenden Worten. Mit 87 Jahren erhielt sie einen Buchvertrag für ihre Memoiren, sie starb kurz vor deren Veröffentlichung am 9. Februar 2015. Für ihre Kinder schrieb Hannelore Grünberg-Klein auf, worüber sie nicht sprechen konnte. Sie schildert die Flucht ihrer Familie aus Berlin 1939, wo sie bis zum Alter von elf Jahren glücklich aufwuchs. Im Mai 1939 geht die Familie zusammen mit 903 anderen Emigranten an Bord der St. Louis. Das Schiff nimmt Kurs auf Kuba. Eine Woche lang ankern sie vor Havanna. Trotz flehender Appelle werden die Passagiere nicht ins Land gelassen und müssen nach Europa zurückkehren, wo das Unheil sie erwartet. Hannelore Grünberg-Klein ist die Einzige aus ihrer Familie, die Westerbork, Theresienstadt, Auschwitz und Mauthausen überlebt. Ihre Erzählung von einem Leben in Gefangenschaft besticht durch die völlige Abwesenheit von Sentimentalität und geht daher umso heftiger ans Herz.

Hannelore Grünberg-Klein, geboren 1927, lebte mit ihren Eltern in Berlin, bevor sie vor den Verbrechen des NS-Regimes flüchteten. Als Einzige der Familie Klein überlebt sie die Konzentrationslager und kehrtnach dem Krieg nach Amsterdam zurück. In den 1990er-Jahren schreibt sie für ihre Kinder, unter anderem den bekannten niederländischen Schriftsteller Arnon Grünberg, ihre Memoiren. Hannelore Grünberg-Klein starb am 9. Februar 2015.

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Leseprobe

1 Berlin


In dem Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg war die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland immens, während die jüdische Kultur in diesen Jahren eine Blütezeit erlebte. So machten sich der Philosoph Moses Mendelssohn in Berlin, der aus Hamburg stammende Rabbiner Samson Raphael Hirsch in Frankfurt einen Namen, und der Rabbiner Raschi, der in Worms und Mainz studiert hatte, verfasste später grundlegende Kommentare zum Talmud.

Mein Vater, Leopold Klein, kam aus einer Familie mit acht Kindern: Nathan, Regina, Julius, Hugo, Selma, mein Vater Leopold, Harry und Hertha. Papa war wohl das beste Pferd im Stall. Als sein Vater Witwer geworden war, blieb er getreulich bei ihm und versorgte ihn, bis er starb. Regina, die älteste Schwester meines Vaters, erbte das Geschäft der Eltern, einen Koffer- und Taschenladen. Der lag in Ostberlin in der Markgrafenstraße, nicht weit entfernt von Unter den Linden. Dort hat die Familie Klein auch mit ihren acht Kindern gewohnt, und dort ist mein Vater mit seinen Geschwistern aufgewachsen.

Leopold Klein mit Tochter Hannelore, Nichte Ruth und zwei anderen Kleinen

Die Familie Klein lebte schon seit Generationen in Deutschland, ebenso wie die Vorfahren von Papas Mutter, die Ephraim hießen. Aus jüdischen Archiven geht hervor, dass die Familie Ephraim schon im 17. und 18. Jahrhundert eine Rolle in der Berliner Gesellschaft spielte und zu den privilegierten Hofjuden gehörte. Hofjuden waren die Juden, die sich die Fürsten jener Jahrhunderte an ihren Hof holten, weil sie dem Staat die materiellen Mittel zur Ausbreitung seiner militärischen und politischen Macht verschaffen konnten. Die Familie Veitel Ephraim besaß im 18. Jahrhundert eine Spitzenklöppelei, und ein anderer Zweig der Familie Ephraim war Eigentümer einer Gold- und Silbermanufaktur. Ursprünglich kamen diese Familien aus Russland.

Mein Vater war ein erfolgreicher und integrer Geschäftsmann, der als Selfmademan einen Engroshandel in Fournituren und Futterstoffen aufgebaut hatte. Er war ein gesetzestreuer Jude, der seinen Pflichten als Jude und als Mensch seinen Mitmenschen gegenüber getreu nachkam.

Meine Mutter Luise, geborene Tannenbaum, und ihre Schwester Rosi waren die einzigen Kinder meiner Großeltern Karl und Malchen Tannenbaum, die im hessischen Hersfeld geboren und dort aufgewachsen waren. Mama war eine schöne und intelligente Frau mit braunen Augen und blonden lockigen Haaren.

Großmutter Malchen Tannenbaum mit Hannelore und Ruth, 1930

Die Tannenbaums – es waren acht Geschwister mit meinem Großvater – waren schon seit vielen Generationen in Hessen sesshaft. Meine Großmutter kam aus Gleicherwiesen und war eine geborene Schloss.

Die gut situierten Juden in Deutschland waren Mitglied der Loge Bné Brith, sofern sie in Großstädten lebten. Das bedeutete auch, dass man zionistisch gesinnt war, jedenfalls »salonzionistisch«, also aus der Perspektive eines komfortablen Salons in Westeuropa. Auch meine Eltern waren Mitglieder der Loge.

In diesem geschützten, traditionsbewussten Milieu wurde ich am Vorabend von Hitlers Machtergreifung am Halleschen Tor zu Berlin geboren. Angesichts der drohenden Nazigefahr bin ich das einzige Kind meiner Eltern geblieben.

Hannelore, ein Jahr alt

Als ich drei Jahre alt war, zogen meine Eltern vom Halleschen Tor in die Düsseldorfer Straße, Ecke Uhlandstraße, ganz in der Nähe des Kurfürstendamms.

Wir hatten dort eine riesengroße Wohnung mit sieben Zimmern, in denen sich auch das Büro meines Vaters befand. Dort arbeiteten seine Sekretärin und ein Laufbursche, und mein Vater empfing hier auch seine Kunden. Dadurch war den ganzen Tag über ein reger Betrieb bei uns zu Hause, ein dauerndes Kommen und Gehen. Für kurze Zeit gab es auch eigens für mich ein Kindermädchen. Ihre Aufgabe war es, mich zu füttern – mein schlechtes Essen brachte meine Mutter zur Verzweiflung. Eine Mahlzeit dehnte sich bis zur nächsten aus, weil ich so lange dazu brauchte. Nun wurde ein Spielzeugkarussell gekauft, das sich im Kreis drehte, um meine Esslust zu stimulieren. Die Musik des Karussels und der Gedanke an die aufgezwungenen Mahlzeiten verursachten bei mir bereits Übelkeit. Das Mädchen hatte keine Geduld und aß das Essen, das für mich bestimmt war, selbst auf und war auf diese Weise rasch fertig mit dem »Füttern«. Als Juden kein christliches Personal mehr haben durften, verschwand sie G’tt sei Dank. Die Sekretärin und auch der Laufbursche waren jüdisch und machten immer ihre Späßchen mit mir, sobald ich mich in Papas Geschäftsräumen sehen ließ.

 

In der Düsseldorfer Straße wohnte auch Tante Rosi mit ihrem Mann und Töchterchen Ruth. Mit Ruth bin ich zusammen aufgewachsen, als ob wir Schwestern gewesen wären. Wir spielten den ganzen Tag zusammen, wir trugen die gleichen Kleider und Mäntel. Mit drei Jahren wurde ich für kurze Zeit mit Ruth in den Montessori-Kindergarten in unserer Straße geschickt, einem der ersten dieses Schultyps in Deutschland. Damals gab es noch keine Alterseinteilung. Ich kam in eine Gruppe mit Kindern bis zu sechs Jahren und war das jüngste Kind. Ich war ihre Puppe, mit der sie spielten. Auf Befehl von Hitler wurde dieser Kindergarten, bald nachdem ich dort war, geschlossen. Nun gingen Ruth und ich in den jüdischen Kindergarten am Kaiserdamm. Dieser Kindergarten wurde von zwei jüdischen Schwestern geleitet. Wir hatten eine schöne Zeit dort. Bei gutem Wetter gingen wir in den Schrebergarten, der zum Kindergarten gehörte, bei weniger gutem Wetter, in den Wintermonaten, spielten wir drinnen Kreisspiele und andere Gruppenspiele. Ich war von den Gruppenspielen nie sehr begeistert.

Hannelore und Ruth, 1930

Mama und ihre Schwester Rosa hatten eine innige Beziehung. Die Verbundenheit mit Papas Geschwistern und ihren Familien war weniger fest und bestand vor allem aus Treffen bei Familiengeburtstagen und Bar-Mizwas.

Papas Brüder und Schwestern lebten alle in Berlin, sein ältester Bruder Nathan sogar ganz in unserer Nähe. Der Mann von Hertha, Papas jüngster Schwester, war 1933 plötzlich verschwunden. Er war Kommunist gewesen. Man hat nie erfahren, ob er von den Nazis ermordet oder von den Kommunisten mit einem Geheimauftrag nach Russland geschickt worden war.

Tante Hertha stand mit dem kleinen Sohn Abi allein da und hatte keine Einkünfte. Papa unterstützte sie finanziell und stand ihr auch sonst in jeder Hinsicht zur Seite.

Meine Großeltern Klein waren beide schon vor meiner Geburt gestorben.

Vier Generationen: Malchen Tannenbaum, Tochter Rosi mit Baby Ruth, Urgroßmutter Marianne Schloss (Malchens Mutter)

Als Kleinkinder verbrachten Ruth und ich unsere Sommerferien meist zusammen bei unseren Großeltern Tannenbaum in ihrem großen Haus in Hersfeld. Als ich etwas älter war, fuhren meine Eltern und ich in den Sommerferien oft in ein jüdisches Hotel in Johannisbad in der Tschechoslowakei.

Luise und Leopold Klein mit Tochter Hannelore. Ferien in Johannisbad/Tschechoslowakei, Juli 1937

Die Freitagabende und alle jüdischen Feiertage wurden bei uns zu Hause so gefeiert, wie es sich für orthodoxe Familien ziemt, und sie waren immer sehr gemütlich. Es wurde gelesen oder vorgelesen und gespielt. Natürlich zündete Mama die Kerzen an, und Papa sprach den Kiddusch (den Segensspruch über den Wein). Die Mahlzeiten waren üppig und bestanden aus mehreren Gängen. Mama konnte sehr gut kochen und backen und brachte vor allem vor den Festtagen manchmal halbe Nächte damit zu. Am Schabbat und an Festtagen gingen wir regelmäßig in unsere Synagoge in der Passauer Straße in der Nähe vom Kurfürstendamm. Am Schabbatnachmittag machten wir bei schönem Wetter Spaziergänge im nahe gelegenen Tiergarten, einem wunderschön angelegten Wald mitten in der Stadt mit Spazierwegen, Spielplätzen, Cafés und einem Zoo. Dort traf sich die jüdische Gemeinschaft von Berlin. Danach gingen wir zu Kaffee und fantastischem Kuchen ins Café Dobrin am Kurfürstendamm. Das war ein berühmtes jüdisches Café, wo man das leckerste Gebäck der ganzen Stadt kaufen konnte. Auch die Inneneinrichtung des Cafés war außergewöhnlich luxuriös und elegant, mit prachtvollen Fauteuils, Sitzbänken und Kronleuchtern et cetera.

Papa hatte bei Dobrin als Stammkunde ein Konto und brauchte am Schabbat also nicht zu zahlen. Das Café war immer gedrängt voll. Das Café Dobrin wurde in der »Kristallnacht« vom 9. November 1938 gänzlich zerstört und ausgeplündert. Es wurde niemals wieder eröffnet.

An den Sonntagen im Sommer machten wir Ausflüge in die schöne nahe Umgebung von Berlin: Grunewald, Wannsee et cetera. Dort wurde gepicknickt, und man konnte seinen eigenen Kaffee kochen.

Als Ruth und ich das schulpflichtige Alter erreicht hatten, gingen wir in die Jüdische Gemeindeschule in der Fasanenstraße in der Nähe des Kurfürstendamms. Inzwischen waren die Nazis an der Macht. Auch die Schule und die Synagoge, an die sie angebaut war, wurden in der »Kristallnacht« völlig zerstört und sind in Flammen aufgegangen – bis auf zwei riesige Eingangssäulen. Diese Eingangssäulen bilden jetzt den Eingang des modernen jüdischen Gemeindehauses, das nach dem Krieg an dieser Stelle errichtet wurde.

Ruth und ich hatten in dieser Schule nicht nur eine herrliche Schulzeit, sondern dank unserer lieben und liebevollen Klassenlehrerin auch eine sorglose, unbefangene Kindheit. Wir durften sie »Tante Freundlich« nennen statt »Fräulein«. Sie ist 1938 nach Palästina emigriert, und vielleicht lebt sie jetzt noch in Israel. Sie ist...

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