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Ich hatte ein Leben

Wie ich mir vom Kriegseinsatz in Afghanistan traumatisiert den Weg zurück ins Glück erkämpfen musste

AutorAndrea Micus, Sandro Strack
Verlagriva Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783959713290
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Seit Sandro Strack aus dem Auslandseinsatz in Afghanistan wieder nach Hause zurückgekehrt ist, fühlt sich nichts mehr in seinem Leben richtig an. Geröstete Maronen auf dem Weihnachtsmarkt riechen für ihn nach verbranntem Menschenfleisch, Silvesterknaller bedeuten Lebensgefahr. Wenn er sich wäscht, erinnert ihn das warme Wasser an Blut, das über sein Gesicht läuft. Autos, die zu dicht auffahren, machen ihm Angst, weil er eine Bombe darin vermutet. Tagsüber ist er zu erschöpft, um den Arbeitsalltag zu stemmen, nachts findet er keinen Schlaf. Seit Afghanistan ist alles anders. Wie ein Viertel aller Soldaten, die aus einem Kampfeinsatz zurückkehren, leidet Sandro an einer Posttraumatischen Belastungsstörung. In seinem Buch erzählt er vom Einsatz in Afghanistan, davon, wie die Krankheit jetzt sein Leben überschattet, wie er vom Staat, für den er in den Krieg gezogen ist, allein gelassen wurde, und wie er letztlich Hilfe fand, um sich seinen Weg zurück in ein normales Leben zu erkämpfen. Ein bewegender Bericht aus dem Krieg, der nicht in Afghanistan aufhört, sondern für die Soldaten und ihre Familien auch hier zu Hause in Deutschland weitergeht.

Sandro Strack, geboren 1983 in Bautzen, ist gelernter Koch. Im Alter von 19 Jahren verpflichtete er sich für 8 Jahre bei der Bundeswehr. Im Sommer 2006 wird er zum ersten Mal nach Afghanistan geschickt. Ende 2009 kehrt er nach seinem dritten mehrmonatigen Einsatz endgültig zurück nach Deutschland und beendet seinen Dienst. Er durchläuft verschiedene berufliche Stationen, die er durch seine kriegsbedingte Traumatisierung aber stets wieder aufgeben muss. Erst 2013 kann er eine langfristige Therapie beginnen, die ihm hilft, ins Leben zurückzufinden. Andrea Micus ist Journalistin und begleitet Sandro bereits seit 15 Jahren.

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Leseprobe

Kapitel 2


»Hey, Jungs, los, noch eine Runde«, ruft Marc, mein Kumpel, und bestellt noch einmal sechs Kurze oder besser Pfeffi, wie wir den leckeren Pfefferminzlikör nennen. Die Stimmung ist ausgelassen. Es ist der 24.2.2003, und ich feiere mit meinen Kumpels in der Disco »No Limit«. Es sind viele Freunde da. Die meisten haben schon reichlich getrunken. Die Musik ist klasse. Gerade wird »Ms Jackson« von »Outkast« gespielt und eifrig dazu getanzt.

Ich habe mich heute als Fahrer einteilen lassen und deshalb die meiste Zeit des Abends die Finger vom Alkohol gelassen.

»Danach hauen wir ab, okay?«, fragt mich Marc jetzt, während er sich mit einer ruckartigen Bewegung und viel Schwung den geschätzt achten Schnaps hinunterkippt. Ich nicke. Die Bässe dröhnen mir im Kopf. Es reicht mir auch für heute. Ich bin erst am Abend mit der Bahn aus Neunburg gekommen und ziemlich müde. Aber als Marc anrief und fragte, ob ich Lust hätte, mit den Jungs loszuziehen, war ich nur zu gern dabei. Aber jetzt, drei Stunden und gefühlte drei Flaschen Hochprozentiges später, habe ich auch genug von den Jungs. Wenn man als Einziger nüchtern ist, macht das keinen Spaß. Gut, ein paar Biere habe ich auch getrunken, dazu aber auch zwei Würstchen gegessen und mich die letzten Stunden an einer Flasche Wasser festgehalten. Ich bin recht fit und könnte im Notfall auch bis Berlin durchdüsen.

»Los, komm«, meint Marc jetzt und haut mir auffordernd auf die Schulter. »Hier sind die Schlüssel. Aber fahr’ ordentlich. Der Wagen ist neu. Ich habe zwei Jahre dafür gespart.«

Das Wort »neu« kann ich nur noch erahnen, so laut dröhnt mir jetzt die Musik in den Ohren. Aber ich lege Marc im Hinausgehen noch vertraut den Arm um die Schulter und schreie ihm ins Ohr, dass ich ihn und sein Auto sicher an jeden Ort der Welt bringen werde.

Wir wollen zum Schützenplatz und sehen, ob noch etwas los ist. Es ist eine fatale Entscheidung! Denn ich mache dort einen Fehler, der mein Leben verändern wird.

Es hat geschneit. Der Untergrund ist vereist. Vermutlich fahre ich einfach zu schnell auf den Platz. Jedenfalls kommt das Fahrzeug ins Schleudern. »Mensch, du musst bremsen«, brüllt Marc noch panisch auf. Dabei habe ich da schon das Bremspedal voll durchgedrückt. Es ist nichts mehr zu retten. Ich weiß sofort, dass es gleich knallt, und rufe noch hektisch zu Marc: »Halt dich bloß fest.« Aber es knallt nicht nur einmal, sondern der Wagen schießt wie eine Rakete über das Eis und rammt gleich mehrere der auf dem Parkplatz abgestellten Fahrzeuge.

Als das Auto, ein bis dahin silberfarbener und funkelnagelneuer Seat, vom Heck eines Golfes abgestoppt, noch ein paar Mal rauf und runter wippt und endlich zum Stehen kommt, zittere ich am ganzen Körper. Marc ist mucksmäuschenstill. Er ist von dem ganzen Desaster so geschockt, dass er keinen Ton mehr herausbringt. Mir kommt wieder mein positives Naturell zugute. »Zum Glück ist niemandem etwas passiert«, sage ich leise und hoffe damit auch Marc aufmuntern zu können. Vergebens! Marc spricht auch nicht mehr mit mir, als die Polizei kommt und den ganzen Schaden geduldig aufnimmt. Er ist richtig sauer auf mich und blitzt mich nur noch mit bösen Augen an. »Du Idiot hast mein Auto zu Schrott gefahren«, zischt er mir später auf der Wache zu, kurz bevor er in ein Taxi steigt, um sich nach Hause fahren zu lassen. Unsere Freundschaft ist damit vorbei. Mein innerer Frieden auch. Denn ich begreife in dieser Nacht auf der Polizeiwache, dass ich für den ganzen Schaden aufkommen muss. Ich habe mit 0,7 Promille zwar nicht viel, aber genug Alkohol im Blut. Das reicht! Was das heißt, ist klar: Ich bin seit heute Abend bis über beide Ohren verschuldet.

Und der Schaden ist riesig: 2000 Euro ist der Eigenschaden von Marc. Für die Fremdschäden kommt zum Teil seine Versicherung auf. Für insgesamt 10.000 Euro muss ich aufkommen, das ist für mich eine Riesensumme. Und nicht nur das. Es kommt zum Prozess, und ich werde auch noch zu einer Geldstrafe verurteilt. Zudem muss ich die Prozesskosten übernehmen und damit alles zusammen mehr als 16.000 Euro aufbringen. Dafür nehme ich einen Kredit auf, den ich in den kommenden Jahren abstottern muss. Freiheit ade!

In Bautzen spricht sich mein unverantwortliches Verhalten schnell herum. Ich bekomme von allen Seiten spöttische Kommentare zu hören. »Na, wieder ein paar Schnäpschen zu viel getrunken«, fragt mich eine ehemalige Nachbarin, als sie mich in der Stadt trifft. Und einer von Marcs Freunde droht mir sogar betrunken Schläge an. Die Stimmung in unserer Clique ist schlecht. Einige machen mir Vorwürfe, dass ich Marc das angetan habe. Andere streiten wiederum mit Marc, weil er mich jetzt so ausgrenzt. Jedenfalls fühle ich mich in Bautzen nicht mehr richtig wohl.

Gott sei Dank ist Susi da, hört mir zu und tröstet mich.

»Ich möchte hier ganz weg«, sagt sie, als ich sie schon bald meinen Eltern vorstelle und die sie nach ihren Zukunftsplänen fragen.

»Und wohin?«, fragt meine Mutter neugierig.

»Am liebsten nach Bayern. München wäre mein Traum«, erzählt Susi und schwärmt von den bayerischen Biergärten und besonders von der Nähe zu den Alpen.

Papa erzählt jetzt Anekdoten von unserem letzten Österreich-Urlaub, und ich erinnere mich, wie sehr ich unsere Wanderungen im Hochgebirge genossen habe. Wenn ich in München arbeiten und wohnen könnte, würde ich in dieser grandiosen Natur nicht nur Urlaub machen, sondern auch leben. Unvorstellbar!

Als ich Susi an diesem Abend nach Hause bringe, sind wir beide sehr nachdenklich.

»Ich glaube nicht, dass wir uns München leisten können«, sage ich.

»Wenn wir beide arbeiten, bestimmt«, meint Susi. »Ich habe über eine Freundin eine Arbeit in einer Bäckerei im noblen Grünwald in Aussicht. Da kauft die ganze Prominenz ein. Schauspieler, Fußballer, Sänger. Wenn du da auch etwas als Koch findest, bekommen wir das hin.«

Ich bin unsicher.

Ich habe jetzt den Kredit abzustottern und kann mir nicht einen Monat Arbeitslosigkeit erlauben. Gut, in München gibt es reichlich Touristen und damit auch reichlich Gastronomie. Das kann klappen. Aber was ist, wenn ich nichts finde. Ich habe Angst, finanziell noch mehr abzurutschen. Ich kann nicht nach München mitgehen, wenn ich keinen sicheren Arbeitsvertrag in der Tasche habe. Aber den zu bekommen ist für mich ein Kinderspiel. Allerdings muss ich dafür einen Traum beerdigen. Den Traum von Honolulu und der großen weiten Welt.

»Und? Kommst du mit?«, fragt Susi, als sie mir später zum Abschied einen Kuss gibt. »Ich halte es hier in dem Kaff nicht mehr aus. Und so eine Chance wie jetzt in München bekomme ich so schnell nicht wieder.«

»Lass mich darüber nachdenken«, vertröste ich sie. Ich kann jetzt keine Zusage machen. Zu viel geht mir im Kopf herum. Meine 23 Monate bei der Armee sind bald herum. Wenn ich jetzt Nägel mit Köpfen mache und Zeitsoldat werde, ist München ein Kinderspiel. Ich muss mich nicht um einen Job bewerben, ich muss mich einfach nur in der Dienststelle melden und meinen Dienstvertrag verlängern. Den Ausschlag gibt eine Nachricht, die ich gleich nach meiner Rückkehr in die Kaserne höre. Ausgerechnet das Gebirgsfernmeldebataillon in Murnau sucht Verstärkung, und das zu absolut verführerischen Bedingungen: Ich kann eine Laufbahn als Unteroffizier einschlagen und gehe mit mindestens 1600 Euro netto nach Hause. Genug Geld, um mir mit Susi eine Wohnung in München leisten zu können. Und was ist dann mit Honolulu? Wenn ich jetzt zur Armee gehe, hänge ich nicht nur meine Zukunft als Koch an den Nagel, sondern auch meinen Traum vom »Traumschiff«. Soll ich das wirklich? In dieser Nacht schlafe ich schlecht. Zu vieles geht mir im Kopf herum. Aber irgendwann denke ich: Egal! Ich pfeife auf das »Traumschiff« und kann dafür mit Susi dort leben, wo andere Urlaub machen, und die Welt werde ich mir später trotzdem ansehen. Ich mache Karriere bei der Bundeswehr. Und irgendwann, wenn der Kredit weg ist, kann ich mir die Welt als Urlauber ansehen.

Am 19.7.2004 stelle ich einen Antrag auf meine Versetzung nach Murnau, und für den 1.8. 2004 bin ich Anwärter für die Unteroffizierslaufbahn. Die Unterschrift unter den Verpflichtungen ist noch nicht trocken, da telefoniere ich schon mit Susi.

»Weißt du, Susi, wir gucken uns bald die Alpen gemeinsam an«, jubele ich ins Telefon. »Wir kriegen alles hin, was wir uns wünschen. Zusammen gehört uns die Welt.«

Susi ist erst ganz still, dann ruft sie »Ich bin so glücklich!« ins Telefon. Und lieb, wie sie ist, versucht sie mich zu trösten. »Sei nicht traurig wegen der ›Aida‹. Wir sehen uns die Traumstrände später gemeinsam an, als Passagiere«, und lachend meint sie: »Da bekommen wir dann wenigstens Außenkabinen!«

Sie hat recht. Honolulu läuft nicht weg. Jetzt geht’s erst einmal auf die Gipfel. Mein »Ja« zur Armee, es ist goldrichtig.

***

»Mensch, Junge, du bist ein Glückskind!« Als meine Eltern mich im Sommer 2004 in Murnau besuchen, fühle ich mich ein bisschen wie ein Star, wie jemand, der es weit gebracht hat. Ich, der kleine Sandro aus Bautzen, bin jetzt gerade mal 21 Jahre alt, lebe im schicken Münchner Stadtteil Oberhaching und bereite mich auf Führungsaufgaben vor. Ich kann es mir leisten, für eine kleine Wohnung 700 Euro Kaltmiete zu bezahlen. Dafür bekommt man in Bautzen eine ganze Villa.

Nach der Wohnungsbesichtigung lade ich meine Eltern in einen Biergarten ein. Es gibt Schweinshaxe und Radler, später Germknödel, dazu zünftige Blasmusik.

Wir sitzen zu viert an einem rustikalen Holztisch. Die Sonne scheint...

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